Kultur
Zum Streit Walser/Bubis/Dohnany:
Die Sprengung des
Konsenskäfigs
Rafael Seligmann,
Schriftsteller und Politologe
„Der Streit wird
gefährlich“, titelt die „FAZ“ eine
Stellungnahme Richard von Weizsäckers. Der ehemalige Bundespräsident will
Schaden vom deutschen Vaterland abwenden: Der Zwist drohe „außer Kontrolle zu
geraten und Wirkungen zu entfalten, die niemand wollen kann“. Der Christ von
Weizsäcker zeigt sich besorgt über das Unverständnis der Jugend, der elder
statesman über die „besorgten Fragen . . . im Ausland“. Fazit: „So darf es nicht
weitergehen.“
Droht Deutschland Gefahr? Martin Walser hatte in
seiner Rede bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
sein Mißbehagen über die „Instrumentalisierung des Holocaust“ beklagt. Er sprach
von einer „Moralkeule“ und von der Ritualisierung des Gedenkens.
Walsers Worte versetzten den Präsidenten des
„Zentralrats der Juden in Deutschland“, Ignatz Bubis, in Rage. Er nannte den
Schreiber einen „geistigen Brandstifter“, verglich ihn mit rechtsextremen
Politikern und Publizisten. Als der Hamburgs Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi
dem Schriftsteller beisprang, beschimpfte Bubis ihn und Walser als „latente
Antisemiten“. Die Feuilletons interpretierten und kommentierten um die Wette.
Gemach! Zur Erregung besteht kein Grund. Martin
Walser hatte lediglich ausgedrückt, was viele Deutsche empfinden – auf seine
bekannt verquaste Art. Der Schriftsteller hatte sich zum Anwalt all jener
gemacht, die nicht mehr hinsehen wollen, wenn an bestimmten Daten immer wieder
an deutsche Verbrechen erinnert und mit hohlen Worten routiniert der Toten
gedacht wird. Eine klare Mehrheit der hiesigen Bevölkerung verlangt einen
Schlußstrich unter die Vergangenheit.
Ignatz Bubis wiederum hat die Meinung vieler
älterer Juden in Deutschland ausgesprochen. Sie können und wollen den Mord an
ihren Angehörigen nicht verwinden, vergessen und vergeben. Jeder, der die
Erinnerung an die Getöteten in Frage stellt, verletzt ihre Gefühle.
Bemerkenswert an Walsers Rede und Bubis’ Antwort
war also nicht ihr Inhalt, sondern daß endlich prominente Männer den Mut fanden
zu sagen, was sie dachten und empfanden. Doch warum erst jetzt? Die Antwort ist
einfach. Weil nun erst die Zeit reif ist.
Jahrzehntelang existierte ein unausgesprochenes
deutsch-jüdisches Einverständnis, nicht zu tief in den Wunden der Vergangenheit
zu rühren. Daher tauschte man in der Öffentlichkeit nur Phrasen aus. Die
Deutschen sprachen so ausdauernd von Betroffenheit, daß man meinen konnte, das
Kürzel BRD stehe für Betroffenheitsrepublik Deutschland. Die Täter und ihre
Nachkommen verdrängten Schuld und Scham.
Die Davongekommenen konnten nicht öffentlich über
ihre Schuldgefühle reden: die „Schuld, überlebt zu haben“. Ein Grund kam hinzu:
die Schande, als Jude in Deutschland, im Lande der Mörder, zu leben. Bis heute
halten Juden in aller Welt ihre Glaubensgenossen in Deutschland für ehrlos. Als
Israels Staatspräsident Ezer Weizman vor zwei Jahren im Vorfeld und während
seines Deutschlandsbesuchs die Schamlosigkeit der Juden dieses Landes beklagte,
sprach er den meisten Israelis aus dem Herzen. Deutschlands Juden galten ihren
Mitjuden als Parias – und was noch schlimmer war: Sie empfanden sich selbst als
minderwertig.
So entstand eine Koalition des Schweigens und der
Heuchelei. Die Juden wurden unter die Käseglocke des allgemeinen Wohlwollens
gepreßt. Diese beraubte sie der Luft zum Atmen. Angst und mangelnder Sauerstoff
benebelten offenbar auch ihre Denkfähigkeit. Anders ist es nicht zu erklären,
daß Deutschlands Juden sich zum Hofnarren der Philosemiten degradieren ließen.
Die deutschen Judenfreunde von eigenen Gnaden hängen bis heute einem alten
Judenbild an: dem weisen Nathan.
Kreiert hatte diese Kunst- und Kultfigur der
evangelische Pastorensohn Gotthold Ephraim Lessing. Nathan ist klug, souverän,
gütig, verzeiht und vergibt alles. Dieser leblose Popanz wurde zum Leitbild der
deutschen Judenfreunde. Den Hebräern blieb nichts übrig, als Größe, Güte und
Versöhnungsbereitschaft zu heucheln. Da Deutschland ohnehin fast „judenrein“
gemordet worden war, kamen die Philosemiten in der Regel ohne real existierende
Juden zurecht. Sie glichen Schmetterlingssammlern, die die Objekte ihrer
Begierde schätzen, am besten mit ihnen jedoch umzugehen wissen, wenn sie bereits
tot und präpariert sind.
So wurde in Deutschland über ein halbes Jahrhundert
„Betroffenheit“ über die Shoah zelebriert. Den Juden kam in dieser
Schmierenkomödie der Part des glaubwürdigen Zeugen zu, der den guten deutschen
Willen zu bestätigen hatte. Gegen diese Ritualisierung hat sich Martin Walser
nun gewehrt. Ihn kränkte dabei die deutsche Würdelosigkeit. Die Schmerzen der
Juden hat er nicht wahrgenommen.
Ignatz Bubis dagegen sah allein die Pein der Juden.
Er fand den Mut, den eigenen Schmerz herauszuschreien. Ein Schmerzensschrei ist
selten ein Kammerton. Der Vorwurf des Antisemitismus ist absurd. So absurd wie
die Anregung Dohnanyis, die Juden sollten sich fragen, ob sie sich anders,
besser, verhalten hätten, wenn die Nazis sie nicht verfolgt hätten. Nichts
anderes tun die Hebräer seit Auschwitz: Dies ist Teil ihres schlechten
Gewissens, überlebt zu haben. In „Jakob der Lügner“ schilderte der
deutsch-jüdische Autor Jurek Becker dieses Nicht-Bessersein drastisch.
Es wurde höchste Zeit, daß Deutsche und Juden den
Konsenskäfig des nichtssagenden Wohlwollens gesprengt haben. Nun brüllen sie
sich mit lange aufgestautem Zorn gegenseitig an. Es ist zu hoffen, daß sie
einander zuhören. Begreifen, was den Widerpart schmerzt.
Es gibt allerdings zu denken, daß dieser Streit
bislang ein Disput alter Herren ist. Bubis, Walser und Dohnanyi sind gut
siebzig. Nun wäre es an der Zeit, daß jüngere Deutsche, Juden und Christen, sich
am Streit beteiligen. Sie haben den Schmerz nicht unmittelbar erlebt. Ihnen
gehört die Zukunft. Hoffentlich finden sie die Geduld, einander zuzuhören.
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