Angeklagt ist der heute 92jährige Aleksandras
Lileikis. Der frühere Leiter der litauischen Sicherheitspolizei
"SAUGUMAS" soll in den Jahren 1941-44 sogenannte "Todeskarten"
unterzeichnet haben, die zur Verhaftung und anschließenden Deportion
litauischer Juden nach Auschwitz und nach Ponar, 15km ausserhalb von
Vilnius geführt hatten.
Laut Eli Rosenbaum vom Office of Special
Investigation in den USA ist der Lileikis-Fall einer der am besten
dokumentierten in der Geschichte seiner Behörde. Die Anklage geht davon
aus, daß Lileikis für den Mord an Tausenden von Menschen verantwortlich
ist.
Über Deutschland gelangte Lileikis im Jahre
1946 in die USA. Fast 50 Jahre lang konnte er eine bürgerliche Existenz
in der Nähe von Boston aufbauen. Nach jahrelangen Verfahren vor
US-Gerichten wurde Lileikis im Jahre 1996 die amerikanische
Staatsbürgerschaft aberkannt. Im Juni 1996 reiste er nach Litauen, wo er
bis März 1998 unbehelligt blieb: Die vom Justizministerium in Wilna
ernannte erste Ärztekommission erklärte den Angeklagten für
verhandlungsunfähig, womit der Prozeß als gescheitert angesehen werden
mußte.
Die Lex Lileikis schien aber dem offiziellen
Image Litauens zu schaden, so dass einige Politiker krampfhaft um Lösung
suchten. Ein vom Seimas, dem litauischen Parlament verabschiedetes
Gesetz ermöglichte die Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
ohne Rücksichtnahme auf den Gesundheitszustand des Angeklagten. Im
August jedoch wies das Parlament die Causa Lileikis zurück: Das Gesetz
galt nur für Untersuchung und Anklageerhebung.
So setzte das Gericht eine neue
Ärztekommission, die Lileikis am 12.Oktober für bedingt
verhandlungsfähig erklärte. Die Verantwortung mochte die Ärztekommission
nicht alleine auf sich nehmen, und so wurde diese mit dem Gericht
geteilt. Am Donnerstag letzter Woche war es soweit. Der erste
Kriegsverbrecherprozeß in Litauen begann.
Der Angeklagte, Aleksandras Lileikis, wurde
im Rollstuhl in den Gerichtssaal gefahren. Für einen Moment richteten
sich alle Blicke auf ihn. Alle Gespräche verstummten, die Richten
nestelten nervös an den Bindfäden ihrer Akten. Hinter Lileikis trat
seine Tochter ein, die eigens aus Chicago zum Prozeß gekommen war.
Lileikis schien von der Umwelt nicht viel
wahrzunehmen, sein Gesicht war fahl, eine Halskrause stützte seinen
Kopf. "Ein unwürdiges Schauspiel," meinte einer der Gerichtsreporter.
Als die Richter Lileikis die Frage stellten,
ob er sich im Sinne der Anklage für schuldig halte, sagte dieser: „Ich
habe mich mein ganzes Leben als Patriot für Litauen eingesetzt". Dann
betete er murmelnd, aber doch vernehmbar das „Vater unser".
Waren es die paar Worte, die den 92jährigen
so angestrengt hatten, war es die Aufregung, jetzt noch für
Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden, die Liliekis husten
ließen? Er schien kaum noch Luft zu bekommen. Sanitäter fuhren ihn aus
dem Gerichtssaal und brachten ihn zurück ins Krankenhaus. Die
Verhandlung wurde vertagt.
Am Montag mußte die Verhandlung auf neue und
und auf unbestimmte Zeit vertagt werden. Der Kranke ist nicht
verhandlungsfähig. Daß es genau zu diesem Ende des Prozesses kommen
würde, hatten Vertreter der kleinen jüdischen Gemeinde in Wilna schon
vorhergesehen. "Wir haben das Gefühl, hier wird eine biologische Lösung
angestrebt", sagte einer ihrer Vertreter vor dem Gerichtsgebäude. „Warum
kann man nicht in Abwesenheit von Lileikis gegen ihn verhandeln? Er wird
nie wieder in den Gerichtssaal zurückkehren. Und das ist das Ende der
litauischen Kriegsverbrecherprozesse."
Ähnlich wie in Polen herrscht auch in Litauen
bei vielen Menschen das Gefühl vor, „ihre Tragödie" werde von der
Weltöffentlichkeit nicht oder kaum wahrgenommen. Der Holocaust hingegen
sei ständig Thema Nummer eins. Dieses Gefühl der Nichtanerkennung des
eigenen Leids hat in Litauen aber zu einer merkwürdigen
Verteidigungshaltung geführt. Dem „jüdischen Genozid" wird seit einiger
Zeit der „litauischen Genozid" gegenübergestellt, der eine verübt von
den Nationalsozialisten, der andere von den Stalinisten.
In der litauischen Öffentlichkeit wird der
„Fall Lileikis" unterschiedlich bewertet. Die in Litauen
auflagenstärkste Tageszeitung Lietuvos Rytas hat sogar in Amerika eine
Frau ausfindig machen können, die behauptet, von Lileikis gerettet
worden zu sein. Markas Zingeris, ein in Litauen bekannter jüdischer
Schriftsteller schrieb allerdings einige Zeit später in derselben
Zeitung, daß er die „Aussage von Shifra Grodnik für irrelevant für den
weiteren Prozeßverlauf " halte: „Sie macht die Morde des Aleksandras
Lileikis damit nicht ungeschehen. "
Im Gerichtsaal gab es einige Demonstrantenm,
die ihre Interessen der Öffentlichkeit nahebringen wollten. So hat sich
eine „Nationalistische Einheitsunion Litauens" mit ihrem Anführer
Mindaugas Murza präsentiert. Die Bewegung formierte sich in Siauliai, wo
es eine lange Tradition nazistischen Bewegungen gibt. Die „Schützen von
Siauliai" waren als besonders fanatische Judenmörder berüchtigt.
Die sowjetische Besetzung im Jahre 1940 liess
für die meisten Litauer die Deutschen als das geringere Übel den Sowjets
gegenüber erscheinen. Massenhafte Deportationen von Litauern nach
Sibirien hatten den Hass auf die Sowjet-Besatzer angefacht. Einige
"Deportierten" in Litauen machen in ihren öffentlichen Reden Juden für
alles Unglück der Litauer verantwortlich.
Der im Januar 1998 gewählte Präsident Valdas
Adamkus, der über 50 Jahre in den USA lebte versprach, die
Untersuchungen zügiger voranzutreiben und betont immer wieder die
Entschlossenheit der staatlichen Behörden, mit Verbrechern im Solde der
Nazis juristisch fertig werden zu wollen. Die litauischen Behörden sind
jedoch offensichtlich ein anderes Arbeitstempo gewöhnt; so wurden sie
vom Office of Special Investigation immer wieder um Mitarbeit ersucht.
Ein "Zentrum für Erforschung des Genozids und
Wiederstandes" weigerte sich beharrlich, Akten zu suchen. Die Leiterin
des Centers Dalia Kuodyte betont, ihr Zentrum wäre für Erforschung von
Sowjetverbrechen zuständig. Die im Auftrag des Zentrums tätige
Wissenschaftler betreiben gerne die Relativierung von Sowjet- und
Naziverbrechen, auch "Symmetrie" genannt.
Der Fall Lileikis wird früher oder später
biologisch gelöst. Die Auseinandersetzung mit der dunklen Seite der
Geschichte wird im Postkommunismus aber noch etwas dauern.
SLW
Baltic News Watch
Im Archiv:
Weitere Meldungen