Es fehlt weder an geistiger Brillanz
noch an historischer Rationalität im Für und Wider der nicht enden
wollenden öffentlichen Debatte um den Bau oder Nichtbau einer nationalen
Shoah-Schädelstätte in Berlin. Es fehlt auch nicht an
feuilletonistischer Schärfe und rhetorischem Glanz im kürzlich
entbrannten Streit um die Korrektheit der öffentlich gemachten Ansichten
des Buchhandel-Friedenspreis-Trägers Martin Walser. Auf allen Seiten hat
niemand 'auch nur das Geringste' gegen 'die Juden', die - und das ist
nicht nur ihrer entsetzlichen Dezimierung durch deutsches Planen und
Morden geschuldet - es letztlich noch immer ebensowenig gibt wie 'die
Deutschen'.
An Verstand und politischer Korrektheit fehlt es
erkennbar nicht. Allenfalls an einem sich eigenverantwortlich ins
Geschehen einbringenden Verständnis. Während wir Christen immer wieder -
höchst ungebeten - die Frage nach dem Judentum und der jüdischen
Identität nach Auschwitz thematisieren und theologisch zu beantworten
suchen, pocht eine andere, unchristlich ordinäre Frage immer dreister an
unsere eigene Tür: Was ist denn nun eigentlich mit meinem und deinem
Selbstverständnis nach Auschwitz? Wie wissen du und ich mit dieser
Hypothek zu leben? Persönlich und national genommen? Wie herzlich unfrei
oder beherzt rebellisch unsere Antwort auch ausfällt: Unsere historisch
unbehebbare Verschuldung am Judentum war und ist nicht das Problem der
Juden, sondern allein unser Problem. Auf eine sehr gegenwärtige Weise.
Es will und muß dringend erörtert werden. Und jeder Versuch, sich dabei
des Einvernehmens, Beistands oder Beifalls von 'jüdischer Seite' zu
versichern oder ihn zu erpressen, ist widerlich und obszön.
Unterhalb aller ethischen Debatten und Überlegungen
tobt der Alltag, treiben beispielsweise 'Unbekannte' am Mittwoch, dem
28. Oktober 1998, am hellen Nachmittag ein Ferkel über den Berliner
Alexanderplatz. Bemalt mit dem Davidstern und dem Namen des Präsidenten
des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die Unbekannten bleiben
unerkannt, nur das Schwein wird ergriffen und die Polizei, die es
unverzüglich ins Tierheim bringt, ermittelt - so melden die Agenturen -
inzwischen 'wegen Beleidigung und Tierquälerei'. Im thüringischen Jena
gehört seit anderthalb Monaten die Jagd auf Glieder der 'Jungen
Gemeinde', die sich in einer antirassistischen Arbeitsgemeinschaft
engagieren, mittlerweile zum täglichen Volkssportprogramm von
Jugendlichen, die 'national befreite Zonen' durch physischen Terror
schaffen und errichten...
Sechzig Jahre nach der Pogromnacht am 9. November
1938 stehen die nachdenklichen Gemüter im vereinten Deutschland
letztlich ratloser da als je zuvor. Wie getroffen von der Wahrheitswucht
eines Satzes, den Grete Weil vor mehr als dreieinhalb Jahrzehnten
niederschrieb: 'Je weiter Auschwitz entfernt ist, desto näher kommt es.'
Amen.
Jürgen Rennert
Gastkommentar aus der Pommerschen Kirchenzeitung
Der Autor ist Lyriker und
Schriftsteller und lebt in Berlin. Zusammen mit der Sängerin Jalda
Rebling hat er 1987 die 'Tage der jüdischen Kultur' aus der Taufe
gehoben. Er übersetzte Werke von Mark Rasumny und Israel Berkovic aus
dem Jiddischen. Seit 1990 ist Jürgen Rennert stellvertretender Leiter
des Kunstdienstes in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg.