Viele Beobachter hatten aufgrund des
schlechten Gesundheitszustandes von Lileikis ohnehin nicht damit
gerechnet, daß er tatsächlich der Anhörung in Vilnius folgen würde, um
sich persönlich gegen die Beweislast zu stemmen, die so drückend auf ihm
liegt. Lileikis war von 1941 bis 1944 während der deutschen
Besatzungszeit Chef der litauischen Sicherheitspolizei in Vilnius, der
sogenannten Saugumas. Damals soll er litauische Juden zur Deportation
nach Auschwitz an die deutschen Behörden ausgeliefert haben, Hunderte,
Tausende vielleicht.
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Lileikis wird
von seiner Tochter Aldona
zum Gericht begleitet. Die Tochter kam
zum Prozess eigens aus Chicago gereist.
Etwa 50 Jahre hatte Lileikis nach dem
Krieg unbehelligt im US-Städtchen Norwood, Massachusetts, gelebt,
ehe die Anschuldigungen gegen ihn ans Licht kamen und die USA dem
mutmaßlichen Kriegsverbrecher 1995 die Staatsbürgerschaft
aberkannten. Noch bevor die Vereinigten Staaten ihn ausweisen
konnten, setzte Lileikis sich in seine Heimat Litauen ab. Dort tut
man sich mit dem neuen Staatsbürger äußerst schwer. |
Zwei Jahre lang dauerten die Untersuchungen
der litauischen Behörden, bis schließlich im März Anklage gegen Lileikis
erhoben wurde. Immer wieder aber wurden die Verhandlungen verschoben,
weil der Gesundheitszustand Lileikis‘ dessen Teilnahme nicht zuließ.
Lileikis bestreitet die Vorwürfe. Im Gerichtssaal, unmittelbar vor
seinem Anfall, sagte er noch: „Ich habe keine Kraft mehr, aber ich
hoffe, daß meine vollständige Unschuld anerkannt wird.“ Die
Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklage auf Dokumente, die belegen
sollen, daß Lileikis die Übergabe von Juden an die Exekutionskommandos
der Nazis verfügt habe. Die Verteidiger des Angeklagten dagegen
behaupten, die Papiere seien vom Geheimdienst KGB gefälscht worden.
Tatsächlich habe Lileikis im Untergrund gegen die deutschen Besatzer
gekämpft.
Ein ganzes Land in der Kritik
Doch in dem Prozeß, dem ersten gegen einen
mutmaßlichen Kriegsverbrecher in den baltischen Staaten, geht es um mehr
als um die persönliche Schuld des kranken Greises. Ein ganzes Land steht
in der Kritik; eines, von dem viele behaupten, es schaue seit
Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit 1991 ausschließlich nach
vorn und scheue den Blick zurück in die eigene Geschichte . Israel, die
USA sowie mehrere jüdische Organisationen haben Litauen mehrmals
vorgeworfen, an der Aufarbeitung von Verbrechen während der deutschen
Besatzungszeit wenig interessiert zu sein. „Litauen behandelt den Fall
sehr zögerlich“, sagt Efraim Zuroff, Direktor des Jerusalemer
Simon-Wiesenthal-Zentrums der SZ. „Es ist ein typisches
postkommunistisches Land, das sehr viel mehr mit der kommunistischen
Vergangenheit beschäftigt ist als mit der Kollaboration während der
Nazi-Zeit. Nur sehr wenige Litauer wollen sehen, wie ein Litauer wegen
Mordes an Juden verurteilt wird.“ Mehr als 95 Prozent der 220.000 Juden,
die vor dem Zweiten Weltkrieg in Litauen lebten, sind bis 1945 getötet
worden, „und die meisten durch Litauer“, sagt Zuroff.
Im März 1995 bat der damalige litauische
Präsident Algirdas Brazauskas in der israelischen Knesset um Vergebung
für die von Litauern während des Zweiten Weltkrieges begangenen
Verbrechen, und versprach, daß er gegen die in Litauen lebenden
Kriegsverbrecher konsequent vorgehen werde. Zwei Jahre später wurde
Brazauskas in einem Schreiben von 92 Knesset-Abgeordneten an sein
Versprechen erinnert. Auch etwa 30 Mitglieder des
US-Repräsentantenhauses erhöhten mit Petitionen den Druck auf den
Baltenstaat, eine Anklage gegen Lileikis zu erheben.
Dies zeigte Wirkung. Durch eine
Gesetzesänderung wurde das Verfahren auch bei Abwesenheit des
Angeklagten ermöglicht. Dennoch sind die Verhandlungen mehrmals
verschoben worden, zuletzt an diesem Montag. Lileikis‘ Anwälten zufolge
muß der Prozeß mindestens um ein halbes Jahr unterbrochen werden, falls
sich die Gesundheit des Greises zwischenzeitlich nicht bessere. Der
litauischen Führung ist die Diskussion über die wiederholte Verschiebung
des Gerichtsverfahrens sichtlich unangenehm, doch Präsident Valdas
Adamkus wehrt sich gegen den Vorwurf, der Prozeß werde von den Behörden
gezielt verschleppt.
Hoffen auf die „natürliche Lösung“
Zuroff sieht seine These hingegen bestätigt,
daß dem Staat eher an einer natürlichen Lösung des Falles gelegen ist.
„Jeder Tag, der vergeht, bringt Lileikis dem Tod näher“, sagt Zuroff.
Vielleicht aber kommt es noch zur Verurteilung in einem ähnlichen
Prozeß. Vor zwei Wochen erhob die Staatsanwaltschaft in Vilnius Anklage
gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Kazys Gimzauskas. Er gehörte
während des Zweiten Weltkrieges der Geheimpolizei in der litauischen
Hauptstadt an, als Stellvertreter Lileikis‘. Auch Gimzauskas soll in den
vierziger Jahren an der Deportation litauischer Juden mitgewirkt haben,
auch er bestreitet dies, und auch er ist bereits 91 Jahre alt.
12.11.98 Politik
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