Zuletzt hatte sich Leon Zelman in der
Tageszeitung "Die Presse" gegen die Einrichtung der von der IKG
geforderten Kommission zur Frage des "arisierten" Vermögens geäussert
und sich den Unmut von IKG-Präsident Ariel Muzicant zugezogen, der
gegenüber der Jüdischen Rundschau mit merklicher Verärgerung auf den
gültigen Beschluss des "gewählten Kultusrates" verwies. "Ich bin nicht
prinzipiell gegen eine Kommission", argumentiert Zelman im Gespräch,
"ich bin nur dagegen, diese Kommission auf die Aufarbeitung des
Vermögens zu begrenzen. Da gibt es schon viel Material: Diplomarbeiten,
Dissertationen und Forschungsberichte. Mir geht es darum, ausser Summen
und Zahlen zu erheben, wer das gemacht hat, die Geschichte dahinter. So
glaube ich, dass zuwenig betont wird, wie das war. Dass von einem Moment
zum anderen ein Hausbesorger mit einer Liste gekommen ist, die bereits
eine Vermögensauflistung der jüdischen Hausbewohner enthalten hat oder
daß ein Nachbar und der Lehrer plötzlich mit einem SS-Zeichen gekommen
sind."
Leon Zelman plädiert für eine pädagogische
Aufarbeitung dieser Geschichte und Geschichten für die heutige
Generation, "die nicht schuldig ist, die aber wissen sollte, was
passierte". In seinen Erinnerungen schreibt er, seit Waldheim wäre für
ihn klar, dass sich sein Augenmerk auf die nach 1945 Geborenen zu
richten hätte. Es gehe ihm nicht um den unmittelbaren, momentanen und
oberflächlichen Erfolg, sondern um eine "tiefgehende
Auseinandersetzung". Am liebsten in einem eigenen "Haus der Geschichte".
Der Jugend von heute solle auch das Bewusstsein vermittelt werden, "dass
wir jetzt schon 53 Jahre ohne Krieg leben." Wien solle damit "Hauptstadt
der Geschichte Europas" werden und als solche Stellung nehmen zur
Geschichte.
Zelmans Augen erhalten zusätzlichen Glanz,
wenn er von der Jugend spricht, über die sich große Sorgen macht, weil
"sie heute keine Visionen hat, keinen Blick für die Zukunft", und er
meint sowohl junge Juden als auch Nichtjuden. Juden in Wien, so Zelman
wären als "einstige Opfer, die gelitten haben über Jahrhunderte und sich
deshalb besonders viele Gedanken gemacht haben und machen", besonders
berufen, im vereinten Europa eine entscheidende gestalterische Rolle zu
spielen. Bei den nichtjüdischen Österreichern ärgert ihn am meisten,
"dass man in diesem Land noch nicht gelernt hat, mit der Vergangenheit
ohne Komplexe umzugehen". Österreicher hätten angst, mit ihrer
Vergangenheit umzugehen, und das tue ihm weh. Sie würden nicht
verstehen, dass die Jugend in aller Welt zur Offenheit erzogen werde,
und Jugendliche möglichst viel herumreisen - und dass Jugendliche
Visionen brauchen. Deshalb seine Idee - wie er nicht müde wird, zu
wiederholen - ein ganzes Haus einzurichten, in dem Geschichte erforscht
und erzählt wird: die Geschichte Europas, der Weg, der zum Holocaust und
zur Ausrottung von Menschen geführt hat, und dazu zähle auch "die
Forschung über arisiertes Vermögen, Wohnungen und Häuser, und auch die
Geschichte nach dem Krieg, wie man umgegangen ist, mit den Emigranten
und Vertriebenen".
Mangelndes Verständnis beklagt er aber auch
seitens der Nachkriegsgeneration in der Gemeinde - einer der
Konfliktpunkte mit IKG-Funktionären. "Die Generation, die nach dem Krieg
hier befreit worden ist, die hat nichts anderes zu tun gehabt, als ein
Leben aufzubauen", so Zelman mit persönlicher Betroffenheit, "die sind
nackt aus dem Lager herausgekommen, und die haben einfach dafür gesorgt,
dass die heutige Generation umsorgt aufwachsen kann".
Zelman weiß, wovon er spricht. Er verbrachte
viereinhalb Jahre im Ghetto Lodz, wohin seine Mutter mit ihm und seinem
Bruder Schajek zu Verwandten geflüchtet war, um der Ermordung durch die
deutschen Besatzer zu entkommen. Nach und nach verlor er Onkel und
Tanten, Cousins und schliesslich auch die Mutter, deren Aufforderung auf
der Flucht "Aufstehen, weitergehen!" er wohl zu seinem Lebensmotto
machte. Die Räumung des Ghettos, das er und Schajek überleben konnten,
brachte die Deportation für das Brüderpaar nach Auschwitz, wo sie der
Vernichtung entkommen kommen - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich um
zwei Jahre älter und damit für den Arbeitsdienst geeigneter erscheinend
machten. Im September 1944 wurden Leon und Schajek nach Falkenberg
gebracht, ein weiterer Todesmarsch endete in Wolfsberg, von wo - wie
Leon Zelman später erfahren musste - sein Bruder wieder zurück nach
Auschwitz deportiert und dort ermordert worden war. Leon Zelman wurde
weiter in das Arbeitslager Ebensee, einem Nebenlager von Mauthausen,
verbracht und dort schliesslich von US-Streitkräften befreit und
ärztlich versorgt.
Aus
dieser Zeit ruht seine Bekanntschaft und wohl auch seine Gegnerschaft
mit Simon Wiesenthal, die in späteren Jahren immer heftiger und immer
öffentlicher ausgetragen wurde. Der von Wiesenthal gegenüber Angriffen
des mit Zelman kooperierenden World Jewish Congress in Schutz genommene
Kurt Waldheim und das von Simon Wiesenthal forcierte Holocaust-Mahnmal
in Wien waren die letzten grossen Konfliktpunkte. Wiesenthals Verhalten
während der Waldheim-Affäre umschreibt er mit Bewahren des
"Heiligenscheins", während das Mahnmal "mir speziell etwas geraubt hat".
Nachdem Wiederentdecken der Überreste der im Mittelalter nach einem
Progrom zerstörten Synagoge plädierte Zelman - erfolglos - dafür, auf
die Errichtung des Holocaust-Mahnmals zu verzichten und "die
Ausgrabungen dort als die Aussage stehen lassen, als Mahnung und als
Denkmal."
Trotz seines beharrlichen Eintretens für
Versöhnung und Kontakten zur dominierenden römisch-katholischen Kirche
halte er "nichts" vom christlich-jüdischen Dialog. Es gehe ihm darum,
dass die Kirche "ihre Stellung bezieht und sich bekennt" und ihrer
pädagogischen Funktion gerecht werde. Als einen vielversprechenden
Schritt sieht Zelman die geplante Anbringung einer Informationstafel
über christlichen Antisemitismus durch den Wiener Erzbischof Schönborn
auf dem Wiener Judenplatz an, nachem im Zuge der Bauarbeiten für das
Holocaust-Mahnmal nicht nur die Überreste der mittelalterlichen Synagoge
gefunden worden waren, sondern auch eine lateinische Inschrift an einem
angrenzenden Gebäude, die das Geschehen rechtfertigte.
Die Frage, ob er sich von dem immer wieder
aufkeimenden Antisemitismus bedroht fühle, verneint Zelman und erklärt:
"Ich suche auch nicht danach". Er erzählt von Freunden, "die, wenn sie
in der Früh aufstehen, und der Tag ist vernebelt, sagen: 'das ist ein
antisemitischer Tag'". Also, Ansichtssage? "Ich weiss, wer hier aller
lebt, und für mich ist das eher noch ein Ansporn, wenn ich
Antisemitisches höre." Es gehe ihm aber darum - und dazu sehe er "keine
Alternative" - für die heutige Jugend als Zeitzeuge zur Verfügung zu
stehen. Seine Geschichte hat er schon in "vier- bis fünfhundert Schulen"
erzählt.
Dass seine Ideen und seine Arbeit
instrumentalisiert werden können, ist Leon Zelman bewußt, obwohl er sich
immer sicher gewesen wäre, "keine Kompromisse" eingehen zu wollen.
Entschädigt fühlte er sich, als der damalige Bundeskanzler Vranitzky
1991 und 1993 Bekenntnisse zur österreichischen Mitverantwortung an der
Schoa abgelegt hatte, jene Reden, "auf die wir alle so lange hatten
warten müssen".
Das Bekenntnis zur Mitverantwortung ist es
auch, was Leon Zelman bei der Diskussion um die Schweiz abgeht, und er
sei "kein begeisterter Anhänger von den Vorwürfen, die man der Schweiz
dafür macht, dass sie überlebt hat". Aber: "Man soll jungen Leuten nicht
sagen, dass die Schweiz ihres starken Militärs wegen überlebt hat,
sondern, weil die Deutschen die Schweiz benutzen konnten. Ich bin
dagegen, dass man mit der Schweiz über Milliarden verhandelt, das
Bekenntnis ist mir wichtiger."
Zelman war 1951 Mitbegründer der
Jahreszeitschrift "Das jüdische Echo", dem er bis heute als
Chefredakteur vorsteht. Seit 1978 betreibt er den "Jewish Welcome
Service (JWS)", eine Informationsstelle für jüdische wie nichtjüdische
Besucher im Zentrum Wiens, aus dem "mehr geworden ist, als ich geglaubt
habe". Der JWS biete "die Begegnung mit der Geschichte in der Stadt und
damit Aussagen über die Stadt, und darauf bin ich sehr stolz; ebenso auf
den Jugendaustausch, die ehemaligen Vertriebenen, die ich nach Wien
einladen kann". Leon Zelman schätzt die Zahl der vom JWS eingeladenen
aus Österreich vertriebenen Juden auf 3000, rund 1000 erwartet er in den
nächsten Jahren.
Als Alternative zum "Besuch auf eigene
Faust", finden sich die vom JWS eingeladenen Gruppen schon alleine wegen
des Gruppenerlebnisses wohler und können Erlebnisse und Gedanken
austauschen, so Zelman. Sein JWS versuche zudem, "unseren Gruppen ein
bisschen das Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln und Hilfe bei der
Suche nach der Versöhnung mit der Vergangenheit, bei der Suche nach der
verlorenen Kindheit, zu geben". Mit dem JWS möchte er ein wenig "das
Gefühl der Liebe dieser Menschen, das Österreich ihnen verweigert hat"
vermitteln. Leon Zelman beendet das Gespräch, weil "ich noch ins Spital
muss" - einer der JWS-Besucher, einer der aus Wien Vertriebenen, musste
zur Behandlung ins Krankenhaus, und Leon Zelman möchte ihn unbedingt
besuchen. Als Geschenk nimmt er einen Band seiner eben in englischer
Übersetzung erschienen Erinnerungen mit.
Jüdische Rundschau Maccabi Nr.
37/98 vom 10. September 1998