Mehr als 40 Jahre nach Erscheinen des
Artikels, lieferte der «Beobachter» nun eine neue Version der damaligen
Ereignisse: Die Schweiz sah sich 1938 einem Flüchtlingsstrom aus
Deutschland und Österreich gegenüber. Da die Flüchtlingskonferenz von
Evian im Juli 1938 keine Lösung für das Problem fand, wollten die
Schweizer Behörden dem Zustrom mit der Wiedereinführung der
Visumspflicht mit Deutschland begegnen. Dagegen wehrte sich die deutsche
Regierung, da diese Maßnahme auch für nichtjüdische Reisende gelten
sollte.
Polizeichef Rothmund schlug dann im August
1938 einen Sichtvermerk für alle Emigranten vor. Das deutsche Auswärtige
Amt lehnte dies ab und forderte stattdessen, ein «J» in die Pässe aller
deutschen und schweizerischen Juden zu stempeln. Rothmund meldete
Bedenken an und erklärte, die Schweiz risikiere, «die ganze zivilisierte
Welt gegen sich aufzubringen».
Gegen die Einwände Rothmunds, aber auf
Anraten von Außenminister Giuseppe Motta und dem Gesandten in Berlin,
Hans Frölicher, stimmte der Bundesrat am 4. Oktober 1938 schließlich
einer Vereinbarung mit Deutschland zu, nach der die Pässe deutscher
Juden mit dem J-Stempel zu versehen seien. Die Forderung nach J-Stempeln
in Pässen von Schweizer Juden wurde fallengelassen.
Zu den neuen Erkenntnissen über Rothmund
meinten Schweizer Politiker und Historiker, die Eidgenossen hätten den
Judenstempel zwar nicht erfunden, wohl aber eine inhumane
Flüchtlingspolitk betrieben. «Daß die Schweiz einen Vertrag mit
rassistischem Inhalt unterzeichnet hat, ist ihre ganz große Schuld»,
erklärte die Präsidentin der Schweizer Sozialdemokraten, Ursula Koch.
Der Historiker Georg Kreis räumte ein, daß
die Vorwürfe gegen Rothmund «etwas relativiert werden» müßten. Er warnte
aber davor, daß «neunmalkluge Revisionisten und pseudopräzise
Differenzierer die Schweiz insgesamt entlasten» wollten.
dpa