Anders als Scholem, auf dessen Studien zur
Kabbala er sich beruft, bekundet der Autor allerdings wenig Interesse am
jüdischen Messianismus als solchem. Kein Prophet, kein Text der
apokryphen Mystik, nicht einmal die Schrift werden auch nur zitiert.
Seine 1988 in Paris veröffentlichte und nun
unter dem Titel "Erlösung und Utopie" auf deutsch erhältliche Arbeit ist
in erster Linie biographisch motiviert. Der 1938 in Brasilien als Sohn
jüdischer Eltern aus Wien geborene Soziologe spürt darin dem verlorenen
"geistigen Universum des mitteleuropäischen Judentums" nach. Weniger als
religionsgeschichtliche oder vordergründig politische Fragen
beschäftigen ihn die soziokulturellen Bedingungen, unter denen um 1900
eine spezifisch jüdische Intellektualität erst entstehen sollte.
Das angenommene wahlverwandtschaftliche
Verhältnis zwischen Judentum und Anarchismus ist zunächst nicht mehr als
ein Kunstgriff, um disparate Denker wie Scholem, Martin Buber, Gustav
Landauer, Walter Benjamin, Ernst Bloch und Georg Lukács unter einen Hut
zu bringen. Sämtlich um das Jahr 1880 geboren, sind sie die erste
Generation assimilierter Juden, die sich wieder mit ihrer jüdischen
Tradition auseinandersetzten. Den entscheidenden Anstoß dafür gaben die
rückwärtsgewandte Zivilisations- und die neuromantische
Kapitalismuskritik, wie sie um die Jahrhundertwende den Zeitgeist
prägten.
Daß die jüdischen Denker, anders als ihre
Zeitgenossen, sich nicht in ästhetischen Fundamentalismus oder
totalitäre Ordnungsmodelle flüchten konnten, ergibt sich für Löwy aus
dem Wesen der jüdischen Tradition, zu der sie zurückfanden. Diese, so
folgert er aus Bubers Studien, besitze einen "anarchischen Aspekt" - zum
einen, weil Talmud und Kabbala explizit die Mitwirkung des Menschen an
der Erlösung fordern, zum anderen, weil die Ankunft des Messias dort als
"die Aufhebung sämtlicher Einschränkungen und Verbote" verstanden werde.
In Verbindung mit dem Diktum Scholems, daß die messianische Hoffnung auf
Erlösung von allem Bösen ein "Grundpfeiler" jeder anarchistischen Utopie
sei, glaubt er seine Hauptthese von der Affinität beider Denkrichtungen
auch schon bewiesen.
Wie dünn das Eis ist, auf dem er sich bewegt,
zeigt sich jedoch, sobald er konkret werden müßte. In den Forschungen
der konservativen Traditionalisten Scholem und Buber, deren Interessen
an der jüdischen Mystik nicht zuletzt philologischer Natur war, spürt er
"eine anarchistische Tendenz als unterirdische Tendenz". Bei Landauer,
Bloch und Lukács, die unbestritten im untersuchten Zeitraum der Jahre
1905 bis 1923 große Sympathien für den Anarchismus hegten, müssen
einzelne aus dem Werkzusammenhang gerissene Zitate ihre geistige
Verwurzelung im Judentum belegen. Dabei unterschlägt Löwy keineswegs,
daß die jüdische Tradition nur eine Quelle ihrer Revolutionsmetaphysik
war. Der einzige Denker, der unter den Prämissen von "Erlösung und
Utopie" in seiner Komplexität gewürdigt werden kann, ist Walter
Benjamin. In seinem widersprüchlichen Werk fließen die von Löwy
nachgezeichneten Traditionsstränge zu einer Symbiose aus jüdischer
Religion, Romantik, Antikapitalismus und Nihilismus zusammen. Jüdischer
Messianismus und Anarchismus sind die Punkte, zwischen denen Benjamins
Denken oszilliert.
Michael Löwy:
Erlösung und Utopie
Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine
Wahlverwandtschaft.
Aus dem Französischen von Dieter Kurz und Heidrun Töpfer. Karin
Kramer Verlag, Berlin 1997. 303 S., 45 Mark.
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