Fakten
Trotz zahlreicher Initiativen von Individuen,
politischen Organisationen und parlamentarischen Vertretungen, u.a.
durch das europäische Parlament und den Deutschen Bundestag weigert sich
die Bundesregierung bis heute, den Überlebenden endlich Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen. Das innerhalb der Bundesregierung zuständige
Bundesministerium der Finanzen verstieg sich sogar zu der Behauptung,
heute sei nicht mehr feststellbar, welche Firmen aus der Beschäftigung
von NS-Zwangsarbeitern Nutzen gezogen hätten.
Auch die Mehrzahl der Versuche, vor Gericht
eine Entschädigung zu erstreiten, scheiterten. Mit den im Folgenden
aufgelisteten Begründungen wurden Klagen immer wieder abgelehnt.
- Durch das Londoner Schuldenabkommen sei
eine Regulierung entsprechender Ansprüche erst nach Abschluß eines
endgültigen Friedensvertrages möglich.
- Die Ansprüche seien verjährt.
- Eine Entschädigung sei durch entsprechende
Paragraphen in den deutschen Wiedergutmachungsgesetzen (§ 8 BEG / § 1
AKG) ausgeschlossen.
Wenn dennoch Kompensationszahlungen von
deutschen Firmen erstritten werden konnten, so meist im Zusammenhang
integrierter Kampagnen aus gerichtlichen Klagen und intensiver,
systematischer Öffentlichkeitsarbeit. Dies gilt zunächst für die frühen
Fälle, in denen von der deutschen Industrie Zahlungen an (zumeist
jüdische) Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter geleistet wurden.
1995 führte eine ähnliche Strategie im Fall
des amerikanischen Staatsbürgers Hugo Princz zum Ziel. Ihm gelang es
1995 im Rahmen eines außergerichtlichen Vergleichs, nach vorheriger
Klage in Washington DC (USA) gegenüber den Firmen Mercedes Benz, Bayer,
BASF und Hoechst mehrere hunderttausend Dollar zu erstreiten.
Urteile in Bonn und Bremen
Eine neue Möglichkeit im Rechtssystem der
Bundesrepublik Deutschland Ansprüche auf Entschädigung von
NS-Zwangsarbeit zu erstreiten, ergibt sich aus der Tatsache, daß nach
Abschluß des 2 + 4 Vertrages das Londoner Schuldenabkommen die
Durchsetzung individueller Ansprüche nicht länger hemmt. Diese
Rechtsauffassung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom
26. November 1996 bestätigt.
Das BVerfG wurde aufgrund einer
Beschlußvorlage des Landgerichtes Bonn mit dem Thema befaßt. Dort hatten
zweiundzwanzig überlebende ZwangsarbeiterInnen einer Rüstungsfabrik beim
Konzentrationslager Auschwitz die Bundesrepublik Deutschland auf
Schadenersatz verklagt. Nachdem das Verfassungsgericht die Möglichkeit
einer solchen Klage grundsätzlich bestätigt hatte, allerdings auch
Hindernisgründe bei deren Durchsetzung benannte, hat das LG Bonn am
15.November 1997 die Sache in erster Instanz entschieden.
Die Ansprüche von 21 der 22 Klägerinnen
wurden mit Hinweis auf § 8 BEG abgelehnt. Dort sei eindeutig bestimmt,
daß nur die - im BEG ausdrücklich aufgeführten - Tatbestände entschädigt
würden. Die Zulässigkeit dieser Beschränkung sei durch das
Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Deshalb müßten die Klagen all
derjenigen Überlebenden zurückgewiesen werden, die nach diesem Gesetz
bereits Leistungen, z.B. für Freiheitsentzug oder Gesundheitsschaden
erhalten hätten. Lediglich einer Klägerin wurden 15.000 DM Schadenersatz
zugesprochen.
Diese hatte sich während der Gültigkeit des
BEG noch in Mitteleuropa befunden, wo dieses Gesetz nicht gültig war.
Daher erhielt sie keine BEG-Entschädigung, sondern lediglich monatliche
Härteleistungen in Höhe von 500 DM aus einem Fonds, der Jewish Claims
Conference. Sowohl die unterlegenen Klägerinnen, als auch die im
letztgenannten Fall unterlegene Bundesrepublik Deutschland haben
Berufung gegen das Urteil des LG Bonn beim OLG Köln eingelegt. Dieses
wird im Oktober 1998 erstmalig zur Sache verhandeln.
Ähnlich wie die Bonner Kammer entschied das
Landgericht Bremen am 2. Juni 1998. Es wies zwei Klagen zurück, da die
Kläger aus Israel und der Bundesrepublik bereits BEG-Leistungen
erhielten. Der Klage eines rumänischen Klägers in Höhe von 15.000 DM
wurde jedoch stattgegeben. Das Bremer Urteil folgte im wesentlichen der
Argumentation des Bonner Gerichts. Es stellt jedoch neben dem
Schadenersatzanspruch auf einen ergänzenden Anspruch auf Zahlung eines
Schmerzensgeldes ab.
Trotz der vordergründigen Niederlage der
Mehrzahl der KlägerInnen in Bonn und Bremen eröffnen die Urteile eine
wichtige neue Handlungsmöglichkeit für zahlreiche Überlebende der
NS-Zwangsarbeit. Erstmalig wurde ein individueller Schadenersatzanspruch
für diejenigen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gerichtlich
bestätigt, die gegen Zahlung eines Entgeltes an die SS Firmen überlassen
wurden. Lediglich dann, wenn diese Betroffenen bereits eine Leistung
nach dem BEG bzw. AKG erhielten, sah sich das Gericht durch die
entsprechenden Ausschlußregelungen dieser Gesetze daran gehindert,
weitere Leistungen zuzusprechen.
Daß die Mehrzahl der Bonner und Bremer
KlägerInnen unter diese Einschränkung fielen, liegt an der mangelnden
Heterogenität und damit Representativität beider Klägergruppen. Diese
rekrutierten sich in der Mehrzahl aus bereits nach dem BEG entschädigten
Überlebenden in westlichen Ländern. Dies trifft jedoch auf den weitaus
größeren Teil der heute noch lebenden Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter nicht zu. Diese lebten und leben in Mittel- und Osteuropa
und waren daher stets von den Leistungen des BEG und AKG ausgeschlossen.
Eine Leistung von 15.000 Mark kann für diese KlägerInnen eine
nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität bedeuten. Die Summe
übertrifft zu dem bei weitem die durchschnittliche Summe der unter dem
BEG gezahlten Haftentschädigungen und wird lediglich von den gezahlten
Entschädigungen bei vorliegen eines Gesundheits- und Berufsschadens
übertroffen.
Strategie
Trotz der neuen Qualität der in Bonn und
Bremen ergangenen Entscheidungen sind erst wenige Folgeklagen bei
deutschen Gerichten eingegangen. Das dürfte im wesentlichen auf folgende
Ursachen zurückzuführen sein:
- Die meisten potentiellen KlägerInnen leben
in Mittel- und Osteuropa. Ohne Unterstützung sind sie organisatorisch
und materiell überfordert, ihre Interessen gerichtlich durchzusetzen.
- Da das Bonner Verfahren bereits in die
Berufung gegangen ist und gleiches für Bremen erwartet werden muß, sich
eine endgültige Entscheidung daher, z.B. bei einer erneuten Anrufung des
Bundesverfassungsgerichts, über mehrere Jahre hinziehen kann, (der
endgültige, juristische Ausgang zudem ungewiß ist) bietet sich hier kein
lukratives Betätigungsfeld für niedergelassene Rechtsanwälte auf der
Vergütungsbasis von Erfolgshonoraren. Trotzdem ist die kontinuierliche
Organisation von juristischem Druck ein wesentliches Mittel, auch zur
Durchsetzung einer politischen Entschädigungslösung von NS-Zwangsarbeit.
Eine juristische Strategie
- fokussiert die Interessen der Überlebenden
NS-Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus verschiedenen Ländern.
- involviert die Bundesregierung als
Beklagte kontinuierlich in die Lösung dieser Problematik.
- schafft einen öffentlichen Ort und
kontinuierliches Interesse, vor allen Dingen auch im Ausland.
Ansprüche, die nicht kurzfristig gerichtlich
geltend gemacht werden, drohen zudem erneut an den spätestens nach dem
Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 26 November 1996 neu
anlaufenden Bewährungsfristen spätestens am 26. November 1999 zu
scheitern. Der Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte
wird daher die im folgenden näher beschriebene Kampagne initiieren und
koordinieren:
Im Sommer 1998 wurde die Kampagne
"Gerechtigkeit für die Überlebenden der NS-Zwangsarbeit" gestartet. Im
Rahmen dieser Kampagne werden Gerichtsverfahren sowohl beim Landgericht
Bonn gegen die Bundesrepublik Deutschland, parallel und je nach den zur
Verfügung stehenden Mitteln auch gegen einzelne (möglichst prominente)
Firmen angestrengt.
Verfahren gegen die Bundesrepublik
Deutschland
Beim Landgericht Bonn werden fünf bis zwanzig
Klagen einer nach Geschlecht, Nationalität und Verfolgungsschicksal
repräsentativen Gruppe von Überlebenden der NS-Zwangsarbeit anhängig
gemacht. Die Biographie dieser KlägerInnen sollte im Wesentlichen den -
von den Landgerichten Bonn und Bremen in ihren Urteilen aufgestellten -
Kriterien für Anspruchsberechtigte entsprechen:
- NS-Zwangsarbeit unter Nutznießung der SS
- keine Antragsmöglichkeit nach BEG und AKG.
Die Gruppe sollte sich außerdem untereinander
kennenlernen und ihre Mitglieder möglichst Deutsch sprechen. Nur so ist
eine authentische Repräsentation der KlägerInnen gegenüber den Medien
gewährleistet.
Eine Begrenzung der Anzahl einzureichender
Klagen ist erforderlich, da das Prozesskostenrisiko bei einem Streitwert
von 15.000 DM über zwei Instanzen pro KlägerIn bei ca. 11.000 DM liegt.
Trotzdem ist auch die quantitative Dimension des Problems zu
dokumentieren. Es werden deshaln, ebenfalls beim Landgericht Bonn, für
alle anderen potentiellen KlägerInnen Anträge auf Prozeßkostenhilfe
unter Beifügung einer vollständigen Klageschrift gestellt.
Die erste Zivilkammer des Landgerichts Bonn
ist nach dem dortigen Geschäftsverteilungsplan nach wie vor für alle
Ansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland zuständig. In ihrem
Urteil vom November 1997 hat die Kammer ihre Rechtsauffassung zur
Entschädigung von NS-Zwangsarbeit festgelegt und veröffentlicht. Es ist
daher damit zu rechnen, daß Anträge auf Prozesskostenhilfe, die sich an
dieser Entscheidung der Kammer ausrichten, mit hoher Wahrscheinlichkeit
positiv beschieden werden. Dies gilt jedenfalls so lange, bis eine
höhere Instanz das Urteil des Landgerichts Bonn aufhebt.
Wenn es gelingt, rechtzeitig eine relevante
Anzahl von positiven Entscheidungen über die Gewährung von
Prozeßkostenhilfe zu erwirken, können anschließend die entsprechenden
Klageverfahren durchgeführt werden.. Selbst wenn man davon ausginge, daß
die Bundesregierung bei einem obsiegenden Urteil der Kläger in erster
Instanz erneut in die Berufung ginge, wäre die Entscheidung der
Erstinstanz bindend und würde in jedem Fall gewährleisten, daß auch die
nächste Instanz ohne volles Kostenrisiko getragen werden kann.
Klagen gegen Firmen
Wenn ein Rechtsnachfolger der nutznießenden
Firma existiert, und die historischen Fakten ausreichend dokumentiert
und recherchiert sind, sollen auch Klagen gegen Firmen anhängig gemacht
werden. Dabei ist zu beachten, daß im Gegensatz zu den Klagen gegen die
Bundesrepublik Deutschland keine vergleichbaren Präzedenzurteile
existieren, auf die sich z.B. Anträge auf Prozeßkostenhilfe berufen
könnten. Auch ist keine homogene gerichtliche Zuständigkeit gegeben. Die
Klagen müßten vielmehr am Sitz der jeweiligen Firma anhängig gemacht
werden. Zudem bedarf es für jede Firma einer ausführlichen historischen
und dokumentarischen Recherche. Daher sind Verfahren gegen Firmen
ungleich komplizierter. Für einige Firmen ist die historische Faktenlage
ausführlich dokumentiert (z.B. VW und Daimler Benz).
Nach dem positiven Beispiel des Verfahrens
Princz im Jahre 1995 und analog zu einer - vor wenigen Monaten
eingereichten - Klage gegen die Fordwerke in Köln und USA, sowie zur
Zeit dort vorbereiteten Klagen gegen Krupp und VW sollten für
Unternehmen mit Weltmarktbedeutung und Niederlassungen in den
Vereinigten Staaten die dortigen verbraucherfreundlicheren und
erfolgversprechenderen Klagemöglichkeiten genutzt werden.
Besonders wichtig ist dies bei einer Klage
gegen die Volkswagenwerke. Deren Hauptaktionär ist mit 20% das Land
Niedersachsen, vertreten durch dessen Ministerpräsidenten und
SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder. Dieser hat sich, nachdem das
Fernsehmagazin MONITOR über das Schicksal von NS-Zwangsarbeitern
berichtet hatte, bereits für die Einrichtung einer Bundesstiftung zur
Entschädigung von NS-Zwangsarbeit eingesetzt.
Kooperationen
In den vergangenen Monaten sind mit einer
Reihe von Institutionen, die Interessen Überlebender - insbesondere in
Mittel- und Osteuropa - vertreten, Vorgespräche zur hier skizzierten
Kampagne geführt worden. Dort besteht die grundsätzliche Bereitschaft,
eine Kampagne mitzutragen und insbesondere bei der Organisation und
Dokumentation der Schicksale potentieller Klägerinnen und Kläger
mitzuwirken. Daher erscheint es realistisch, kurz nach der Sommerpause
eine erste Klage in Bonn einzureichen. Die folgenden Anträge auf
Prozesskostenhilfe können dann jeweils sukzessive erfolgen. Zur
Zeit besteht Kontakt zu potentiellen KlägerInnen in den Niederlanden,
Polen, Tschechien und Rußland und Weißrußland.