Ab dem Jahre 1941 wurden 223 jüdischen Gemeinden ausgelöscht. Es
waren vor allem lokale Mörder. Der litauische Präsident bezeichnete
diese im Interview mit der Wiener Zeitung "DIE PRESSE" am 23.6.98
verharmlosend als "Wenige Hoolligans". Die Geschichte ist leider anders.
Sonst wäre der Grad des Judenmordes in Litauen nicht erklärbar. Etwa 94%
der 220.000 Juden, die in Litauen im Jahre 1941 lebten, wurden ermordet.
In 42 Orten geschah dies bevor die deutschen Besatzer überhaupt
eintrafen. In vielen Fällen wurden die Juden in die Synagoge des
Shtetels gepfercht. Die Schändung der Thora gehörte da quasi zur "Norm".
Nun erklären Verantwortliche der seit 1991 von der UdSSR nach
großen Kämpfen unhabhängig gewordenen Republik Litauen, die Sifrei Thora
wären "Kulturelles Erbe" Litauens. Die nationale Nachrichtenagentur ELTA
spricht sogar davon, "Diese Bücher müssen per Gesetz in Litauen
bleiben".
Im September 1997 hatten die litauischen Behörden den 200.
Todestag des Gaon von Wilna zum Anlass genommen, eine Kette von
Veranstaltungen zu präsentieren. Insgesamt sechs Sifrei Thora wurden
jüdischen Gemeinden in Litauen übergeben, und mehr werden die etwa 3.500
Juden in Litauen auch nicht benötigen.
Manche jüdische Organisationen liessen sich willig vor
den Karren des "Festivals" spannen.
Speerspitze des Protests war wieder einmal Dr. Efraim Zuroff vom
Wiesenthal Center in Jerusalem: "Dieses Festival ist ein zynischer
Versuch Litauens, sich für EU, Nato und potentielle Investoren positiv
in Szene zu setzen".
Eine Rede des israelischen Botschafters Oded Ben Hur, in welcher
dieser nichts andereres getan hatte, als die Litauer an die Beteilgung
einer beträchtlichen Anzahl von Landsleuten zu erinnern, erregte einen
ziemlichen Aufruhr. Zwei litauische Abgeordnete forderten sogar die
Ausweisung des israelischen Diplomaten aus Wilna, und dies obwohl
bereits 1995 auch der damalige Präsident Algirdas Brazauskas vor der
Knesset ebenfalls über diese Beteiligung an den Massenmorden gesprochen
hatte.
Der Hauptagitator gegen den Botschafter war ein gewisser Kazys
Bobelis, dessen Vater der Militärische Oberkommandeur von Kovno am
22.6.41 war. "Für jeden Deutschen dem ein Haar gekrümmt wird, werden 100
Juden umgebracht", liess dieser in jenem Juni 1941 verlauten. "Alles
Lüge" sagt Bobelis heute. Im Wahlkampf liess sich Bobelis zu einigen
antisemitischen Aussagen hinreissen, wie Salomon Weintraub aus Wilna der
JR berichtete.
In dieser Atmosphäre sollte der Welt klar werden, daß die
meisten Litauer die Sifrei Thora nicht herausgeben wollen. Zur
Begründung dient die Behauptung, man betrachte sie als "Kulturelles
Litauisches Erbe".
Blanker Zynismus?
Der Hauptverhandler mit jüdischen Organisationen war der
Abgeordnete zum Seimas Immanuel Singer. Der "Hofjude" ist Leiter der
Kommission für Menschenrechte im litauischen Parlament, dem Seimas und
Mitglied der konservativen "Heimatunion".
Tatsächlich gibt es eine große Sammlung der YIVO (Jiddisches
Wissenschaftliches Institut / gegründet in Wilna) dessen Ruhm weit in
die Welt ging. Briefe von Albert Einstein und Sigmund Freud sind unter
anderem in der Sammlung. Vor mehr als zwei Jahren hatte das YIVO, das in
den 30-er-Jahren nach New York umzog , einige dieser Dokumente erhalten,
um sie auf Microfilm zu bannen. Anfang 1998 erschien in der
auflagenstärksten Zeitung Litauens "LIETUVOS RYTAS" ein Bericht, der die
Verspätung bei der Rückgabe der Dokumente beklagte. Initiator dieses
Artikels ware Immanuel Singer.
Es folgte ein heftiger Protest von Tom L. Freudenheim, Leiter
des YIVO (NYC), und inzwischen designierter Vize von Michael Blumenthal
als Leiter des entstehenden jüdischen Museums in Berlin. Auch
Freudenheims Brief wurde in "LIETUVOS RYTAS" veröffetlicht. Die für das
YIVO-Archiv Verantwortliche in der litauischen Nationalbibliothek, die
unermüdliche Esfira Bramson, wurde im gesamten Disput nie erwähnt.
Die doppelbödige Vorgangsweise der vom "Kulturministerium"
geführten Behörden wird sich bei den Sifrei Thora nicht wiederholen.
"Wir haben heute ein besseres Verständnis für die Problematik" sagt
Parlmentspräsident Landsbergis. (Der Musikologe wird von vielen als
"Väterchen" verehrt. Vytautas Landsbergis war einer der aktivsten
Kämpfer für die Befreiung Litauens. Inzwischen scheint er in obskure
politische Ecken abgedriftet. So verglich er die Nichtberücksichtigung
Litauens bei der ersten Runde der EU-Aspiranten mit der Politik der
Nazis...).
Gegenüber jüdischen Organisationen versicherte Staatspräsident
Adamkus, die meisten Sifrei Thora seien nach Israel zu bringen. Sollte
es Litauen ernst meinen, wäre dies ein wichtiger Schritt hin zu mehr
Bewusstsein der Vergangenheit gegenüber. Prof. Dov Levin, in Kovno
geboren, heute in der Hebrew University, vermutlich der weltbeste Kenner
des Baltikum, bezweifelt dies. "Harazachta vegam Jaraschtha?" (Hast du
gemordet und auch geerbt?) zitiert er....
SLW