In einem Klassenzimmer wird Musik für das nächste
jüdische Fest geprobt. Das fünfstöckige, mit religiösen Motiven und
Losungen popart-ähnlich bemalte Gebäude im Süden Moskaus beherbergt das
jüdische Gymnasium.
Die Schule wurde kurz nach der Auflösung der
Sowjetunion vor sieben Jahren gegründet. Gründer und Direktor Grigori
Lipmann will die Kinder der Juden in Moskau nach fast 75 Jahren
staatlichem Atheismus wieder an ein religiös traditionelles Leben
führen: «Im Kommunismus war jede nationale Bewegung verboten. Deshalb
sind jüdische Religion und Bräuche fast ganz verlorengegangen. Dank der
Demokratisierung können sich Juden heute wieder zu ihren Wurzeln
bekennen und nach jüdischer Sitte leben.»
Die Juden in Moskau haben seit dem Zusammenbruch der
UdSSR trotz der Emigrationswelle der vergangenen Jahre ein reges
kulturelles und religiöses Leben aufgebaut. In der russischen Hauptstadt
wurden 70 religiöse und gesellschaftliche jüdische Organisationen, vier
Synagogen, mehrere Talmudschulen, fünf Gymnasien, jüdische Theater und
sogar eine Reihe koscherer Restaurants und Läden gegründet.
In Moskau leben nach Angaben von Irina Scherbin, der
Leiterin des jüdischen Gemeindehauses, 200 000 Juden. 35 000 von ihnen
engagieren sich aktiv im jüdischen Leben.
Nach Angaben von Roman Spektor, Präsident der
jüdischen Dachorganisation in Rußland, VAAD, identifizieren sich die
russischen Juden immer mehr mit ihrer Nationalität. Antisemitische
Tendenzen gegen Juden lebten in der russischen Gesellschaft aber weiter.
Sie seien besonders gegen einige führende Politiker und Finanzmagnaten
jüdischer Herkunft gerichtet. Von einem offenen Antisemitismus in der
Gesellschaft will Spektor aber nicht sprechen.
Im jüdischen Gymnasium werden neben den gewöhnlichen
Fächern wie Mathematik und Erdkunde Hebräisch, jüdische Geschichte und
Tradition gelehrt. Aus Israel eingeflogene Lehrer bringen allerdings
nicht nur den Kindern Sprache bei. Sie weisen auch die 50 Lehrkräfte in
jüdische Feste und Feiertage ein. «Wir Lehrer lernen fast genauso viel
wie die Kinder», sagt die stellvertretende Direktorin Irina
Sucholinskaja.
Zu den verschiedenen Feiertagen wie Ostern und Purim
kommen auch die Eltern in die Schule. «Weil ich hier lerne, wie jüdische
Feste gefeiert werden, leben wir zu Hause mittlerweile auch wieder
jüdisch», sagt die Siebtklässlerin Ira. Die jüdische Schule ist mit 300
Kindern voll belegt. Die Nachfrage sei so groß, daß es leicht doppelt so
viel sein könnten, sagt Lipmann.
In Rußland leben nach Schätzungen Spektors etwa eine
Million Juden. Die Emigrationswelle flaue ab, sagt er. Viele Juden
wollten mittlerweile wieder in Rußland bleiben und sich dort ein
jüdisches Leben aufbauen, obwohl sie die Möglichkeit zur Ausreise haben.
Einen ersten Zugang zum jüdischen Leben bietet das
jüdische Gemeindehaus in Moskau. Dorthin kommen nach Angaben von Irina
Scherbin Leute, die sich noch nicht in die Synagoge trauen.
«Viele Juden müssen sich erst mit ihrer Herkunft
auseinandersetzen. Wir mußten so viele Jahre unsere Abstammung
verdrängen, so daß unser Zentrum eine Art Schwellenfunktion hat. Es
ermöglicht einen fließenden Übergang zum Judentum», erklärt sie.
Das Gemeindehaus bietet seinen ungefähr 1 000
Mitgliedern ein breitgefächertes Programm. Kinder treffen sich zum Chor,
Literaturfreunde zur Buchbesprechung und Frauen zum Kaffeklatsch. Neben
dem wöchentlichen Sabbat werden auch alle anderen jüdischen Feste
gefeiert. «Es ist ein Wunder, was hier vorgeht», sagt Irina Scherbin:
«Vor zehn Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen.»
Zum Zeitpunkt der Detonation am Mittwoch
abend hatten sich zahlreiche Menschen in der Synagoge versammelt, um
einen religiösen Feiertag zu begehen. Von ihnen wurde niemand verletzt.
Vertreter der jüdischen Gemeinde Moskaus vermuteten, daß Neonazis hinter
den Anschlägen stehen. Es war bereits der dritte Anschlag auf das
Gebäude.
Im Dezember 1993 wurde die Synagoge bei einem
Brandanschlag beschädigt. Im August 1996 explodierte eine Bombe. Der
Oberrabbiner Adolf Schajewitsch rief die russische Führung auf, schärfer
gegen antisemitische Straftaten vorzugehen. Einen Tag vor dem Anschlag
war im sibirischen Irkutsk ein jüdischer Friedhof geschändet worden.
Der stellvertretende Sprecher des russischen
Außenministeriums, Valeri Nesteruschkin verurteilte den Anschlag als
«barbarischen Akt», wie Interfax meldete. Zugleich wies er Vorwürfe
zurück, die russische Führung sei gleichgültig gegenüber
fremdenfeindlichen und nationalistischen Tendenzen.