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Meldungen aus den Jahren 1995 - 1999 |
DIE LAST DER GESCHICHTE
SLW
Am 16. Januar 1998 hatten die Staatschefs von Litauen, Estland und
Lettland einen großen Auftritt im Weißen Haus. Bill Clinton, noch nicht mit
den politischen Folgen eventueller Seitensprünge oder dem Zangengriff von
konservativer Moral Majority - Arm in Arm mit "Bibijahu" konfrontiert,
unterzeichnete mit Lennart Meri aus Estland, Guntis Ulmanis aus Lettland,
Algirdas Brazauskas, Litauens Präsident, der nur noch bis Februar sein Land
vertritt (Valdas Adamkus, sein Nachfolger, ein aus den USA rückgekehrter
pensionierter Chef einer Umweltbehörde, wurde am 6.1 mit 11.000 Vorsprung
hauchdünn zum Nachfolger gewählt) die Baltic Charter, einen Art
Sicherheits-und Beistandspakt, ein Trostpflaster für die bis dato noch nicht
erfolgte NATO-Mitgliedschaft.
Viele Bekundungen der Ehre und Solidarität wurden den Staatsoberhäuptern
in den Tagen davor und danach zuteil. Jüdische Organisationen waren hier
keine Ausnahme. American Jewish Comitee und Anti Defamation League ehrten
Brazauskas aus Litauen und Ulmanis aus Lettland. Welche Ehrungen von
jüdischer Seite Lennart Meri zuteil wurden, ist nicht bekannt.
Die Tatsache, daß hier drei Präsidenten simultan zugegen waren, eröffnet
ja ungeahnte Möglichkeiten. Alles scheint geprägt von Harmonie, Verständnis
und Toleranz. Doch halt, da war noch was, oder?
- (1) Der scheidende Präsident Litauens wies in seiner Rede bei der
Ehrung des American Jewish Congress darauf hin, daß Verdächtige an
Kriegsverbrechen als Helfer der Nazis im zweiten Weltkrieg verfolgt
würden. Vermutlich würde es die feierliche Stimmung stören zu fragen,
welche. Bis heute wurde im seit 1991 unabhängigen Litauen keine einzige
Anklage gegen aus den USA ausgebürgerten Personen wie den 90-jährigen
Aleksandras Lileikis (Leiter der Sicherheitspolizei SAUGUMAS in Wilna)
erhoben. Ferner wies Brazauskas, der sich 1995 für Verbrechen seiner
Landsleute während der Shoah vor der Knesset entschuldigte (etwa 94% der
ca. 250.000 Juden in Litauen wurden unter tätiger Mithilfe litauischer
Helfer ermordet, oft bevor die Deutschen kamen) auf die Anstrengungen
Judaica und Torahs zurückzugeben. Anläßlich der Veranstaltungen zur
200.Widerkehr des Todestages des Gaon von Wilna wurden tatsächlich
einige wenige SIFREL TORAH den Gemeinden in Litauen zurückgegeben. Der
Großteil der Bestände, die zum Teil Yeshivot oder dem YIVO gehörten,
lagern nach wie vor in irgendwelchen Kasernen. Fragen danach verbietet
der feierliche Rahmen vermutlich.
American Jewish Comitee führt in Zusammenarbeit mit der äußerst rührigen
Naumann-Stiftung aus Deutschland ein Programm namens: "Promoting
Tolearnce In Eastern Europe" durch. Zum Teil sind herausragende
gedankliche Ansätze in diesen Bemühungen enthalten. Besonders
hervorzuheben wäre im Baltikum der langjährige Bereichsdirektor der
Naumänner Walter Kliz, der sich um die Verbesserung des politischen und
gesellschaftlichen Biotops im Postkommunismus bemühte. Bei der Führung
des AJC könnte jedoch eine etwas oberflächliche Beobachtung zu eine
Sinnestäuschung geführt haben. Im Baltikum muß man aber vermutlich etwas
tiefer gehen, als es für diese Funktionäre Usus ist.
Bei der ANTI DEFAMATION LEAGUE, die Ulmanis als herausragenden
Staatsmann ehrte, verhält es sich ähnlich. Der lettische Präsident wurde
vermutlich nicht für den Umgang seiner Regierung mit der "RUSSISCHEN
MINDERHEIT" (etwa die Hälfte der Bevölkerung), oder auch die Herausgabe
eines Buches welches klare antisemitische Aussagen aufweist, Polen,
Russen und sonstige "Fremde" pauschal diffammiert wie der "Lettische
Eulenspiegel", der an den Schulen Lettlands verteilt wurde, geehrt.
Ulmanis versprach, die Bücher wuerden wieder aus dem Verkehr gezogen.
Dieser Anordnung wird nur zoergernd Folge geleistet. Der
Unterrichtsminister bezeichnete das Buch als "Teil des kulturellen Erbes
Lettlands" (sic!).
Es wird vermutlich auch keiner Herrn Ulmanis gefragt haben, ob das
Treffen der lettischen SS-Veteranen (Im Gespräch im Juli 1997 bestritt
Ulmanis mir gegenüber, dass dies SS-Veteranen wären...) am 16.März sowie
im letzten Jahr im Zentrum Rigas unter Beteiligung des Bügermeisters mit
anschließender Messe in Dom stattfinden würde.
Der Filmemacher, Ethnologe und Literat Lennart Meri schließlich, der
Urheber der neuen Mythen, die eine Nation unbedingt benötigt, um ihre
Identität zu behaupten. (Thule, mystische Ursprünge der Uresten aus den
Tiefen des Meeres) sagt dem "Spiegel", Deutschland wäre kein
verläßlicher Partner, wenn es nur dauernd bereue. "CANOSSAREPUBLIK" war
auch schon aus Meris Mund zu hören. Die Mannen Volker Rühes, des
deutschen Verteidigungsministers verstanden die Botschaft. Mehrere
Lastwagen wurden durch eine deutsche SS-Kameradschaftsorganisation an
Gleichgesinnte in Estland geliefert.
Ein junger smarter Diplomat Estlands in Deutschland sagte mir allerdings
"Die Aussagen des Präsidenten wären aus dem Zusammenhang gerissen
worden". Einer Frage bei einem Pressegespräch in Wien, ob die Balten
nicht öfters Freunde am allzu betont rechten Eck hätten, wich der
Antreiber der "Singenden Revolution" aus.
DAS BALTIKUM
Die Situation der jüdischen Gemeinden In Wilna (Vilnius) Riga und Tallinn
ist unvergleichlich besser als in der alten Sowjetunion. Es gibt jüdische
Schulen, die Ausübung der Religion ist frei. In Litauen leben etwa 4.500 ,
in Lettland ca. 12.500 und in Estland etwa 2.500 Juden.
Vor etwa 10 Tagen brach ein Feuer in der Synagoge in Tallinn aus. Die
Feuerwehr löschte den Brand und meldete dann, der Brand sei auf Alkoholika
zurückzuführen, die Juden für die "Rituelle Zubereitung von Wein" bräuchten.
Diese Meldung wurde in den Medien der jungen Republik vebreitet.
Der Chef der kleinen jüdischen Gemeinde protestierte gegen diesen Unfug
schärfstens. Dies nur eine kleine aktuelle Episode.
ESTLAND
Die ersten Spuren jüdischer Ansiedlung in Estland lassen sich bis in
das 14. Jahrhundert zurückverfolgen.
Eine permanente Niederlassung gab es aber erst im 19. Jahrhundert, als Zar
Alexander II Veteranen der russischen Armee sowie Kaufleuten das
Niederlassungsrecht gab.
Es entstanden bis zum Anfang des 20.Jahrhunderts zwei Gemeinden, in
Tartu und in Tallinn. Im unabhängigen Estland (1918-1940) genossen Juden
religiöse und politische Autonomie. Am Vorabend der deutschen Besetzung
lebten 4.500 Juden in Estland, davon 2.500 in Tallinn. Während
sowjetischen Okkupation in der Folge des Hitler-Stalin Paktes wurden
etwa 10% der Juden deportiert (Ähnlich war es in Litauen und Lettland),
juedische Institutionen wurden großteils geschlossen.
Der Treppenwitz der Weltgeschichte ist, von den nach Sibirien
deportierten Juden aus dem Baltikum überlebten mehr als die
Daheimgebliebenen. Knapp nach der deutschen Invasion wurden etwa 1.000
Juden durch die Deutschen und ihren lokalen Helfern ermordet. Die
anderen konnten großteils in die UDSSR fliehen. Es gab ein
Konzentrationslager in Estland, Klooga, etwa 35 km von Tallinn entfernt.
Die Insassen wurden knapp vor Ankuft der roten Armee von den Schergen
der Nazis verbrannt. Heute steht an dieser Stelle ein Mahnmal.
Bezeichnenderweise wird Estland im Bericht zur Wannseekonferenz als
"JUDENFREI" bezeichnet.
In Estland und Lettland sind die meisten Juden erst nach dem
2.Weltkrieg aus anderen Teilen der UdSSR zugewandert. Viele sprechen
sehr mangelhaft Estnisch oder Lettisch. Dies macht sie zu einer
doppelten Minderheit.
In beiden Ländern wird unter sehr zwiespältiger Beobachtung
europäischer Institutionen eine ethnische Diskriminierung betrieben. Die
Erlangung voller Bürgerrechte wird von einer Sprachprüfung abhängig
gemacht. In Litauen wird dieses Thema entspannter gesehen, da die
Russisch und Polnisch sprechenden nur etwa 10% der Bevölkerung
ausmachen. Junge Letten und Esten reagieren heftig und verständnislos ,
wenn sie auf dieses Thema angesprochen werden.
In Tallinn gibt es eine RADIO-Sendung mit jüdischen Themen: " Shalom
Aleichem", eine monatliche Zeitung erscheint in Russisch, im Jahre 1990
wurde eine judische Schule mit 12 Klassen eingerichtet. Aehnliche
Einrichtungen gibt es auch in Riga und Wilna. In der Universität von
Tartu wird ein Kurs in Judaistik angeboten. Präsident Lennart Meri hat
angekuendigt, einer Liga gegen Antisemitismus beitreten zu wollen.
LETTLAND
In Riga gibt es oft eine klare Trennung zwischen religiöser und
weltlicher Führung der Gemeinde. Rabbi Barkan, ein in Lettland geborener
und den Krieg dort überlebt habender imposant wirkender Mann, ist über
die Zukunft der Gemeinde skeptisch.
"Die Jungen wandern ja zum Großteil aus!" Die Gemeinde hat, wie auch in
Estland und in Litauen, eine große Auswanderung hinter sich. Ueber
10.000 Juden sind seit 1989 nach Israel auf Alija gegangen. Barkan ging
den umgekehrten weg, um sich um die Juden in Riga, seiner Gebutsstadt,
zu kuemmern.
SHAMIR, eine von Chabad unterstützte Bewegung fuer Juden aus der
ehemligen Sowjetunion, betreibt eine Armenausspeisung. "Die Leute kommen
manchmal zu uns, um anschließend Hare Krischna zu besuchen" sagt Barkan
verschmilzt.
Seit Sommer 1997 gibt es das Zentrum JUDEN in Lettland, das es sich zur
Aufgabe gemacht hat, die Shoah in Lettland darzustellen. Geleitet wird
das Zentrum, das sich im Gebäude der Gemeinde in der Skolas Strasse 6
befindet, von Margers Vestermanis, der sich schon in der sowjetischen
Zeit mit Geschichte auseinandersetzte.
Als er ein Kapitel eines Buches über die Shoah schrieb, wurde er
überraschend zum Reservedienst eingezogen, erzählt er. Einiges von den
Dingen, die Verstermanis erzählt, wird den meisten Letten nicht gerade
passen, da das Thema der Kollaboration mit den Nazis nicht zu den
Lieblingsthemen im freien Lettland fgehört.
Es ist allemal besser sich auf Eisenstein, dem Vater des berühmten
Filmrefisseurs zu berufen, auf Gidon Kremer. Dem weltberühmten Geiger,
der aus Riga stammt, oder auf Simon Dubnov, einer der bekanntesten
Chronisten der juedischen Geschichte, desssen letzte Worte lauteten:
JIDN VERSCHRABT (Juden schreibt auf.)
Im Gegensatz zum relativ guten Zusammenleben der Juden mit ihren
lettischen Mitbürgern in der Phase der kurzen 1.Lettischen Republik bis
1940 , kam es ab Juni 1941 kurz vor der deutschen Besetzung zu
schrecklichen Übergriffen. Die Saat dazu wurde noch im freien Lettland
gelegt. Ab 1934 gab es in Lettland eine Diktatur (unter Karlis Ulmanis,
Großonkel des jetzigen Praesidenten) unter der Antisemitismus verboten
war (...)
Die faschistische Bewegung Perkonkrusts war ebenso verboten. Einer
ihrer Fuehrer ARAJS, wurde später unter den Deutschen zum bestialischen
Anführer von Mordbanden. Es lebten vor der Shoah 85.000 Juden in
Lettland, davon 40.000 in Riga, 10.000 in Liepaja, der Rest in kleineren
Gemeinden. Im Laufe der deutschen Besatzung wurden ueber 93% der
jüdischen Bevölkerung von den deutschen und ihren lokalen Schergen
ermordet. Das KZ Salas Pils, etwa 15 km von RIGA entfernt, oder auch
Rumbula (Kaiserwald) zeugen von diesen Schrecken. In einer Synagoge in
Riga wurden im Juli 1941 alle Juden, die sich in dieser aufhielten
verbrannt.
Es war bis heute nicht möglich ein einziges Denkmal, das von der
Republik Lettland initiiert wurde, zu errichten. Fragt man Einheimische
nach dem Ghetto, so weiß niemand darüber.
Der Vorsitzende der Überlebenden des Ghettos, Rechtsanwalt Alexander
Bergmann aus RIGA, war an den Verhandlungen mit den Behörden in Bonn
involviert, die die JCC vor etwa 14 Tagen abschließen konnte. Es leben
79 Überlebende des Ghettos im heutigen Riga. Bergmann ist recht
zufrieden mit dem erzielten Kompromiß: "Besser als nichts" meint er.
LITAUEN
In Litauen ist wahrscheinlich die Situation am komplziertesten. Es
müssen wohl mehere Schichten geschält werden, um sich der Realitaet zu
naehern.
Die Ausstrahlung des litauischen Judentums reichte weit ueber die
Grenzen des Landes hinaus. Im 14.Jahrhundert gestatte Grossfuerst
GEDIMINAS das erste Mal die Ansiedlung von Juden in Litauen. Es
entstanden beruehmte Yeshivot wie die von Telshe, Slobodka in Kovno
(Kaunas) oder Volzhyn und Mir.
Das Wirken des Gaon von Wilna der im 18.Jhdt lehrte und forschte, hat
bis heute Einfluss. Der Gaon war der entschiedenste Gegner der
CHASSIDIM, die MITNAGDIM scharten sich hinter ihm.
Die " GOLDENE ZEIT" der "LITVAKS" war zwischen den Weltkriegen. In der
freien Republik gab es einen juedischen Minister, in der litauischen
Armee sogar einen Rabbiner. Gerne erinnern litauische Politiker an diese
Zeit, klammern jedoch gerne die Schattenseiten aus. Es gab natuerlich
Uebergriffe und kleine Pogromme. Ab dem Jahre 1926 bestand eine
Militaerdiktatur unter Smetona , Aufschriften in Yiddish wurden mit
Billgung der Behoerden mit Teer beschmiert.
In dieser Zeit entstand auch das YIVO (yiddische wissenschaftliche
Organisation). Litauen war ein Zentrum der Jiddischen Kultur. Am
Vorabend des zweiten Weltkrieges lebten 160.000 Juden in Litauen, dazu
kamen viele Fluechtlinge aus Polen. (Zusamen etwa 250.000).
Etwa 95% der Juden in Litauen wurden ermordet. Ueber 230 Gemeinden gab
es vor dem Krieg, in ueber 40 davon wurden die Juden von ihren Nachbarn
ermordet, bevor die Deutschen ueberhaupt die "SHTETTLS" erreichten.
Litauer wurden als Helfer der deutschen Besatzer in Polizeibatallionen
aktiv. Die LAF (LIETUVOS AKTYVISTAI FRONTAS) bereitete den Boden vor,
auf dem die Morde unter großer Zustimmung und Mithilfe der Bevoelkerung
stattfanden. Diese Tatsache wirkt in Litauen, aehnlich wie in Lettland
und Estaland, bis heute nach.
Die Ausrede, Juden wurden ermordet, weil sie als Kommunisten Litauer
vefolgt haetten, hat sogar teilweise staatliche Billigung. In Litauen
wird offiziell von einem Genozid am Litauischen Violk gesprochen. Im 9.
Fort in Kaunas (ein Lager der Deutschen, in welchem Juden getötet
wurden) wurde eine Halle errichtet, die an Deportationen nach Sibirien
erinnert. Nur: "ES GAB AN DER STELLE KEINE DEPORTATIONEN".
In Ponar, eine Stelle 10 km ausserhalb von Wilna, an der mehrere
Erdloecher die einzige Spur fuer 70.000 Opfer sind,steht seit 1991 ein
Denkmal. Finanziert hat es ein LITVAK aus Israel.
Die "Symmetrie", Leid aufrechnen. In Litauen, In Lettland sowie in
Estland wird gerne Deportatation nach Sibirien der Shoah
entegegengestellt. In Kaunas (Kovno) ist dies am offensichtlichsten.
Nationalisten fuegen noch die angebliche Beteiligung von Juden als
Miterrichter der Sowjetherrschaft an. Tatsaechlich gab es einige, fuer
die das Sowjetsystem das "Kleinere Übel" war. Der Historiker Liudas
Truska beziffert den Anteil juedischer Mitglieder in der kommunistischen
Partei auf 18.4% . Juden wurden im hoeheren Ausmass nach Sibirien
deportiert, als es den Anteil in der Bevoelkerung entsprach.
Die Aufklaerung ueber die dunklen Kapitel der Geschichte ist eine Art
Lackmustest fuer die Baltischen Republiken. Es waere gut, wenn dies von uns
allen genauso ernst betrieben werden wurde, wie wir es der Zukunft schulden.
SLW / II.98
haGalil onLine:
Dezember 2013 |
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