Wie ein leise zirpendes Klagen tönt das "Kol Nidre"
durch das ehemalige KZ Auschwitz. Tausende junger Juden in blauen
Windjacken stockt der Atem. Stumm reihen sie sich in die Marschkolonne
ein. Ältere drücken sich Taschentücher gegen die Augen. Ein
Schofarbläser gibt das Zeichen zum Aufbruch. Die beiden
Ministerpräsidenten Israels und Polens, Benjamin Netanjahu und Jerzy
Buzek, setzen sich an die Spitze des Zuges. Sie gehen unter dem
schmiedeeisernen Tor mit der Aufschrift "Arbeit Macht Frei" durch und
biegen nach links zum eigentlichen Vernichtungslager Birkenau ab. Die
gut drei Kilometer lange Strecke verwandelt sich in ein wogendes Meer
blau-weißer Flaggen. "Marsch der Lebenden" steht auf dem größten
Transparent. Und: "50 Jahre Unabhängigkeit Israel".
Seit zehn Jahren kommen am Jom haShoa, dem
Shoa-Gedenktag Israels, Tausende junger Juden aus aller Welt nach
Auschwitz, um dort der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die
Nationalsozialisten zu gedenken. Allein in Auschwitz sind über eine
Million Menschen umgebracht worden, mehr als 90 Prozent waren Juden. Zu
den Opfern zählten aber auch 90 bis100.000 polnische Widerstandskämpfer
und Intellektuelle, über 20.000 Sinti und Roma, 15.000 sowjetische
Kriegsgefangene und noch einmal 15.000 Deutsche, Tschechen,
Österreicher, Ukrainer und Angehörige anderer Nationen.
"Nur ein eigener starker Staat kann in Zukunft die
jüdische Nation vor einer ähnlichen Tragödie bewahren," erklärte
Netanjahu vor sechstausend Jugendlichen und rund tausend
Holocaust-Überlebenden. "Die Shoa war für die Juden die größte
Katastrophe seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Heute aber
kommen die jungen Juden als Sieger nach Auschwitz. Hier zeigen wir der
Welt, daß das Volk Israel nicht zu vernichten ist". Zum Massenmord an
den Juden wäre es nie gekommen, so Israels Ministerpräsident weiter,
wenn es schon damals einen starken jüdischen Staat gegeben hätte und
wenn die Welt entschiedener gegen die Nazi-Verbrechen protestiert hätte.
Polens Ministerpräsident Jerzy Buzek stellte den fünf Jahren
Naziherrschaft in Polen, die das Land in den größten jüdischen Friedhof
der Welt verwandelt hatten, 800 Jahre gemeinsame polnisch-jüdische
Geschichte entgegen. Über Jahrhunderte hin hatten Juden, die in den
Nachbarländern um ihr Leben fürchten mußten, in Polen Schutz gefunden.
Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten über die Hälte aller
europäischen Juden in Polen. "Die Nazis drohten den Polen mit der
Todesstafe, wenn sie Juden in irgendeiner Form halfen. Und doch hat es
viele gegeben - das zeigen die Bäumchen für die "Gerechten unter den
Völkern in Yad Vashem - , die das Risiko mit der ganzen Familie
eingingen." Buzek gibt zu, daß es unter den Polen auch viele
Gleichgültige, viele Erpresser und Verräter gegeben habe. Zwar fällt nun
kein Wort der Entschuldigung, doch Buzek schließt mit einem für
polnische Politiker erstaunlichen Satz: "Das jüdische Volk sollte
ausgelöscht werden. Doch diese Nation lebt. Und wir freuen uns darüber.
Wir freuen uns über die Aufmerksamkeit, mit der heute die Augen der Welt
nach Auschwitz sehen.Genau daran fehlte es in der Zeit, als es am
nötigsten war."
Im Laufe der Jahre hat der "Marsch der Lebenden"
seinen Charakter geändert. Seit zwei Jahren dürfen sich auch Nichtjuden
dem Zug anschließen. Die Begleitbroschüren wurden geändert: Die Polen
werden nun nicht mehr als "Mittäter" an den Pranger gestellt, sondern
ebenfalls als Opfer der Nazi-Okkupation wahrgenommen. Auf dem Programm
stehen nicht mehr nur der Besuch von ehemaligen KZs und jüdischen
Friedhöfen, die Jugendlichen besichtigen auch Krakau und Warschau, beten
gemeinsam mit den polnischen Juden in den wiederaufgebauten und
renovierten Synagogen. Das Leben triumphiert über den Tod.