Batja Gurfinkel, Überlebende:
«Der Schmerz wird mit den Jahren nicht weniger, eher stärker»
Jerusalem - Auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende
des Zweiten Weltkriegs sind die Erinnerungen der Holocaust- Überlebenden
Batia Gurfinkel kaum verblaßt. «Die zum Leben Verurteilten sind die wahren
Opfer des Holocaust. Die Toten sind schon zur Ruhe gekommen», sagt die
rundliche, weißhaarige Frau mit den hellblauen Augen in ihrem Haus im Norden
Jerusalems. «Der Schmerz wird mit den Jahren nicht weniger, eher stärker.»
Wiedergeboren im Staat der Juden, ging sie daran, ihr
Leben neu aufzubauen und zu organisieren. 1955 heiratete sie, gebar drei
Kinder. Heute hat sie vier Enkel. «Das ist meine Rache an den Nazis - daß
ich überlebt habe und nun in einem eigenen Staat der Juden lebe», sagt sie.
Gurfinkel wurde 1928 als achtes von zehn Kindern einer
streng religiösen jüdischen Familie in der Kleinstadt Bendzin im polnischen
Teil des damaligen Oberschlesien geboren. Im Herbst 1939 marschierten die
Deutschen in ihre Stadt ein. «Als erstes verbrannten die Deutschen die
prächtige Synagoge der Stadt und ganze Häuserreihen in umliegenden Straßen»,
erzählt die lebhafte Frau.
Im Sommer 1942 hieß es dann, alle Familien müßten ihre
besten Feiertagskleider anziehen und sich zu einem «Picknick» auf einem
zentralen Sportplatz in der Stadt versammeln. «Als wir ankamen, sah ich, daß
SS-Männer und Soldaten den ganzen Platz umstellt hatten - alle paar Meter
stand einer von ihnen. An Ungehorsam war einfach nicht zu denken».
Dort begann die «Selektion»: «Ich war die einzige von
meiner Familie, die nach links geschickt wurde.» Gurfinkel merkte, daß sie
nur von Säuglingen und alten und gebrechlichen Menschem umgeben war. «Ich
hatte schreckliche Angst und wußte, ich muß etwas tun.» Sie entdeckte eine
kleine Lücke in der Reihe der Soldaten.
«Vor mir stand ein ganz junger. Ich sah ihm in die Augen
und machte ihm ein Zeichen, er solle mich nicht verraten.» Dann schlüpfte
sie durch die Lücke. «Er war so überrumpelt, daß er nicht gleich reagierte.
Er schrie 'halt', aber da war ich schon auf und davon. Von allen links
Angetretenen habe ich nie wieder etwas gesehen oder gehört.»
Die 14jährige versteckte sich in einem Heuschober und
wurde dort Zeugin einer schrecklichen Szene: Einer der deutschen Soldaten
drängte einen Mann und dessen kleine Tochter in den Schober. «Er verfluchte
und schlug die beiden. Dann vergewaltigte er das Mädchen brutal.
Anschließend tötete er sie, indem er sein Bajonett in ihre Schamgegend
stieß.» Auch den Vater des Mädchens habe der Deutsche ermordet. «Ich werde
nie die offenen schwarzen Augen der beiden vergessen», erzählt Gurfinkel,
während sie schluchzend die Hände vor das Gesicht schlägt.
Etwa ein halbes Jahr später wurde Gurfinkel nachts von den
Nazis gefangen und kam in verschiedene Zwangsarbeitslager, zuletzt nach
Langenbielau in Niederschlesien. «Die Arbeit war sehr hart, zwölf Stunden
täglich in einer Textilfabrik. Wir liefen bei Eiseskälte jeweils eine halbe
Stunde zur Arbeit und zurück in das Lager.» Die Mädchen und Frauen
umwickelten sich die nackten Füße in Holzschuhen mit Zeitungspapier, aber
fast alle hatten Erfrierungen.
Eine der intensivsten Erinnerungen Gurfinkels aus der Zeit
im Lager ist der Diebstahl ihrer blechernen Eßschüssel. «Das war
lebensgefährlich. Ohne Schüssel gab es kein Essen.» Ihre Freundin Renja
teilte die Schüssel mit ihr und rettete so ihr Leben. Nachdem sie eine neue
Schüssel gefunden hatte, legte Gurfinkel nachts immer den Kopf darauf, damit
sie nicht wieder gestohlen werden konnte. «Jahre nach dem Krieg konnte ich
nur einschlafen, wenn ich meinen Kopf auf einen Stein legte, es war völlig
verrückt», erzählt sie.
Im Januar 1945 wurde das Arbeitslager aufgelöst, die
Frauen auf einen Todesmarsch geschickt. «Ein junger SS-Mann hörte mich mit
meiner Freundin sprechen und merkte, daß wir wie er aus Oberschlesien
kommen.» Der Mann riet den Mädchen, zu fliehen. «Er sagte mir: 'Ihr geht
nirgendwo hin, ihr sollt Euch totlaufen'», erzählt Gurfinkel. Noch in
derselben Nacht entkamen die beiden und wanderten mehrere Tage und Nächte in
klirrender Kälte in ihren Holzpantoffeln durch die Berge des Sudetenlandes.
In einem kleinen Ort fanden die beiden schließlich eine Anstellung als Magd.
«In diesen Zeiten wurde nicht viel gefragt. Wir gaben uns als polnische
Flüchtlinge aus. Die Deutsche, bei der ich arbeitete, war überzeugte
Nationalsozialistin.» Die damals 16jährige Gurfinkel nannte sich «Barbara
Roth» und verbarg ihre Identität.
Als die Ostfront schon zusammengebrochen war, hörte
Gurfinkel ein Gespräch zwischen ihrer Arbeitgeberin und deren Bruder, einem
SS- Mann, der in größter Erregung von den Greueln in den
Konzentrationslagern erzählte. Der Mann sagte: «Wenn die Rache kommt, dann
kommt sie doppelt.» Seine Schwester erwiderte: «Aber was willst du denn, es
sind doch nur Juden.» In derselben Nacht erhängte sich der Bruder.
Es sind diese schlaglichtartigen Erinnerungen einer damals
16jährigen, die ihr heute noch den Schlaf rauben. Nach Kriegsende kehrte
Gurfinkel in ihre Heimatstadt zurück und hörte, daß fast ihre gesamte
Familie in Auschwitz ermordet worden war. Nur eine Schwester und ein Bruder
hatten überlebt. Sie machte in Polen noch ihr Abitur, dann emigrierte sie
nach Israel.
dpa-0398 |