Beweint
wie die Zerstörung des Tempels in Jerusalem:
Wissenschaftskrimi
Die Entdeckungen des jüdischen Musikforschungszentrums Yuval
in Paris
Ein wenig südlich von Montmartre findet sich in der
Pariser Rue La Bruyère die Alliance Israélite Universelle, die älteste und
ehrwürdigste jüdisch-französische Gesellschaft des Landes. Im gleichen Haus,
direkt unter dem Giebel, ist - ebenfalls unscheinbar - in ein paar kargen
Räumen, Yuval untergebracht: ein vor zehn Jahren gegründetes, nach dem
ersten in der Thora erwähnten Musiker benanntes Institut, das die Reste
jüdischer Volksmusik sammelt, dokumentiert, erforscht. Doch obwohl die
Mittel knapp, die Widerstände groß und die Quellen vor allem wegen des
Völkermords der Nazis an den Juden minimal sind, hat das eng mit der
Jerusalemer Nationalbibliothek und der Hebräischen Universität
zusammenarbeitende Institut ein paar kleine, aber auch eine große Sensation
zu bieten: die Wiederentdeckung der legendären An-Ski-/Beregowsky-Sammlung
in Kiew.
Chef von Yuval ist Israel Adler: „In Berlin 1925 geboren
und als Kind – weil mein Vater klug genug war – nach Palästina ausgewandert:
1936.“ Adler, inzwischen emeritiert, aber unerschöpflich weiter am Werk, hat
Musikwissenschaft gelernt, lange in Paris gearbeitet, das Jüdische
Forschungszentrum für Musik an der Hebräischen Universität gegründet und
sich als Musikentdecker einen Namen gemacht: So zog er aus den Archiven die
Vertonung einer Beschneidungszeremonie, die von Louis Saladin – vermutlich
kein Jude – um 1670 in Südfrankreich komponiert worden war. Hebräisch
gesungene Barockmusik für einen Ritus: ein faszinierendes, bisher kaum
beachtetes Stück Musikgeschichte; eine direkte Folge gesellschaftlicher
Ausgrenzung von Juden seit dem 16. Jahrhundert.
Seit seiner Gründung wird von Yuval vor allem die
jüdische traditionelle Musik in Paris und Elsaß-Lothringen erforscht, aber
auch die fast unbekannte judeo-portugiesische Musiktradition in Frankreich,
die sich in Bordeaux und Bayonne erhalten hat.
Noch spektakulärer sind die Arbeiten von Yuval auf
der vor Tunesien gelegenen Insel Djerba. Die dortige, noch etwa 800 Menschen
umfassende jüdische Gemeinde, die stark in ihren lebendigen Traditionen
verhaftet ist, bewohnt ihrer Überlieferung nach schon seit der Zeit des
ersten Tempels die Insel – deshalb hat sich die Forschung häufig mit den
Djerba-Juden beschäftigt. Bereits 1929 machte
der jüdisch-deutsche Musikwissenschaftler Robert Lachmann (1892 bis 1929)
Aufnahmen auf Djerba; ein Forscher, „dessen Wissen und dessen Methoden bis
heute nicht ausgeschöpft sind“ – so Israel Adler. Yuval überspielte
Lachmanns bis dato ungenutzte Aufnahmen und versuchte, 1994 in Djerba
möglichst die gleichen Gesänge an den gleichen Orten wie Lachmann
aufzunehmen: ein sonst fast nicht mögliches Experiment in der vergleichenden
Musikforschung. Obwohl zwischen beiden Projekten 65 Jahre liegen, in denen
sich das Leben auf der Insel stark verändert hat, scheint sich die Musik der
Djerba-Juden erstaunlicherweise nur wenig gewandelt zu haben. Ein Phänomen,
das sehr viel über die Bedingungen oraler Traditionen aussagen könnte – doch
die Auswertung ist noch nicht abgeschlossen.
Dagegen liest sich die Wiederentdeckung der für die
jüdische Folklore-Forschung unschätzbaren An-Ski-/Beregowsky-Sammlung wie
ein Wissenschaftskrimi; Israel Adler spricht von der „überraschendsten
Episode der jüdischen Musikgeschichte in neuer Zeit“. Zwischen 1911 und 1914
wurde ausgehend von der legendären, vor allem aus Rimsky-Korsakow-Schülern
bestehenden Petersburger Gruppe jüdische Folklore in Rußland gesammelt. Das
war jene berühmte von An-Ski, dem Verfasser des „Dibbuk“, geleitete und vom
Baron Guenzburg (nach dem das Unternehmen benannt ist) bezahlte Expedition,
die etwa 1000 Volkslieder auf 500 Wachswalzen dokumentierte und beschrieb:
ein einmaliger Einblick in jüdisches Leben vor dem Ersten Weltkrieg. Im Jahr
1929 gelangten die Walzen nach Kiew, wo der jüdische Forscher Moisei
Beregowsky (1892 bis 1961) die Sammlung katalogisierte und erweiterte.
Allerdings wurde Beregowsky, wie so viele andere jüdische Intellektuelle,
Opfer des sowjetischen Antisemitismus. Obwohl überzeugter Stalinist, wurde
er 1949 nach Sibirien deportiert. Als er sechs Jahre später zurückkehrte,
war seine Sammlung verschwunden. „Es war“, sagt Israel Adler, „nach der
Shoah besonders unglücklich, daß dieses unvergleichbare Monument
verschwunden war. Das wurde beweint, bedauert wie die Zerstörung des Tempels
in Jerusalem – zumindest von denen, die die Sammlung kannten.“
Vor fünf Jahren stellte sich überraschenderweise durch
Zufall heraus, daß sich die Beregowsky-Sammlung unbeschädigt in der Kiewer
Nationalbibliothek befindet. „Die Sowjets haben nichts vernichtet“, so
Adler. Allein 17 000 Seiten Beschreibung und über 1200 Wachszylinder mit
liturgischen Gesängen und chazzanut (virtuos gesungene Gebetslyrik), aber
auch instrumentalen klezmer-Stücke, Musik zu Theaterstücken und niggunim
(wortlose Melodien).
Das Erbe ist gewaltig und wartet nur darauf, gerettet und
publiziert zu werden. Aber obwohl sich die Unesco genauso wie Yehudi
Menuhin, Elie Wiesel und der kürzlich verstorbene Isaiah Berlin intensiv für
dieses Projekt einsetzen, tut sich wenig. Zwar hat die Kiewer Bibliothek
vertraglich zugesichert, die Texte auf Mikrofilm zur Verfügung zu stellen
und auch die Walzen zu überspielen – doch bisher ist wenig geschehen. Israel
Adler, sonst so energiegeladen, wirkt an diesem Punkt des Gesprächs denn
auch etwas ratlos. Geldmangel, Verhandlungsprobleme, Mißtrauen – im Moment
sind die Beziehungen zwischen Yuval und der Kiewer Nationalbibliothek
gespannt. Das ukrainische Institut fordert sehr viel mehr Geld für die
Überspielungen als man bei Yuval aufbringen kann. Jetzt setzen die Kiewer
zum Alleingang an: Sie haben gerade 41 Walzen auf CD übertragen und
versuchen, in den USA dafür eine Plattenfirma zu finden. Sollte das klappen,
will Kiew im Verlauf dieses Jahres das komplette Beregowsky-Archiv auf den
Markt bringen. Ob dieses als Beitrag zum fünfzigjährigen Bestehen des
Staates Israels geplante Projekt allerdings realisierbar ist, steht in den
Sternen.
REINHARD J. BREMBECK
Copyright ©
1997, 1998 - Süddeutsche Zeitung.
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