Jenseits der "Todesfuge":
Versteckte zionistische
Spuren im Werk Paul Celans
Von Gernot Wolfram
Als Paul Celan 1969 nach
Israel reiste, ein Jahr vor seinem
Selbstmord in Paris, wusste er, dass er
einer letzten Hoffnung seines Lebens folgte:
im Lande Israels eine neue Heimat zu finden.
Seit seiner Jugend in Czernowitz, in der
vielgerühmten Bukowina mit ihren
mehrsprachigen Kulturen, hatte er sich immer
wieder mit den Gedanken des Zionismus und
des Kulturzionismus auseinandergesetzt, ohne
zu einer eindeutigen Position zu gelangen,
sobald es um die Frage ging, ob die Rückkehr
ins biblische Land der Väter ein Verheißung
war, der er folgen wollte und konnte.
In seiner Jugend hatte er
zumindest ein sehr ambivalentes Verhältnis
zu den mit leidenschaftlicher Inbrunst
vorgetragenen Ideologien des Zionismus in
der Bukowina. Sein Vater, Leo Antschel, war
ein überzeugter Zionist und regelmäßiger
Besucher zionistischer Veranstaltungen in
Czernowitz. Antschel war es wichtig,
dass sein Sohn Hebräischunterricht in der
hebräischen Volksschule "Ssafa Iwrrija"
erhielt, einer Bildungseinrichtung, der
Chaim Weizmann 1927 eine kurze Visite
abstattete und sich "sichtlich beeindruckt"
zeigte. Celan
besuchte erst widerstrebend in Czernowitz
den verordneten Hebräischunterricht; zu
stark lasteten die Erwartungen des
orthodoxen Vaters auf diesen Studien. Als
Erwachsener ergriff Celan hingegen selbst
die Initiative und vertiefte sich so
intensiv in das Studium der hebräischen
Sprache, dass er während seines
Israel-Aufenthaltes, glaubt man den
Hinweisen seines Biographen John Felstiner,
bei einem Besuch im Hause des Dichters
Jehuda Amichai die Übersetzungen seiner
eigenen Gedichte ins Hebräische verbessernd
kommentierte. "Celan saß da und hörte zu.
Hin und wieder überraschte er uns mit dem
Hinweis, dass wir noch genauer sein könnten.
Dann schlug er uns irgendeine andere Wurzel
vor, die in seinem Gedächtnis gespeichert
war." So wundert es
nicht, dass Paul Celan wiederholt hebräische
Wörter in seinen deutschsprachigen Gedichten
verwendete. Besonders eindrücklich geschieht
das in einigen seiner letzten, erst posthum
veröffentlichten Gedichte, die in enger
Beziehung zu seiner einzigen Reise nach
Israel stehen und zugleich intensiver
Ausdruck der Liebesbeziehung zu seiner in
Tel Aviv lebenden Freundin und Liebe Ilana
Shmueli sind. Er sammelte diese Gedichte
unter dem Titel "Zeitgehöft". Am 2.
September 1968, knapp einen Monat vor seiner
Reise nach Israel, schrieb er das an Shmueli
adressierte Gedicht "Mandelnde". Darin
spricht er über eine Zeit, in der er noch an
die Versprechungen zionistischer Träume
glauben konnte. In den Schlussversen des
Gedichtes liest man: "Und war/noch nicht/
entäugt,/noch unverdornt im Gestirn/des
Lieds, das beginnt:/Hachnissini."
Das hier verwendete
hebräische Wort "Hachnissini" ist der Beginn
eines zu Anfang des 20. Jahrhunderts in
Osteuropa viel gesungenen Liedes des großen
neuhebräischen Dichters Chajim N. Bialik
(1873-1934), ein Sehnsuchtslied nach Zion,
Anrufung eines Vogels, der in der Ferne bei
den schon freien Brüdern zu Besuch war. In
der deutschen Übersetzung beginnt dieses
Lied folgendermaßen: "Birg mich unter deinem
Flügel/und sei mir Mutter und Schwester/ und
laß deine Brust mein Haupt schützen,/ ein
Nest meinen ausgestreckten Gebeten."
Von den deutschen Lesern
konnte diese Anspielung freilich kaum jemand
identifizieren. Der Name Bialik, in Israel
jedem Schulkind ein Begriff, kannte (und
kennt) in Deutschland kaum ein Leser. So ist
dieses Wort "Hachnissini" eine schwierige
und zugleich erhellende Schwelle, Zeichen
für jene Fremdheit, die Celan bedrückte, vor
allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als er
plötzlich feststellen musste, dass er durch
sein Gedicht "Todesfuge", bis heute in
vielen deutschen Schulbüchern abgedruckt,
unfreiwillig zum Vorzeigeautor der
sogenannten Aufarbeitungsliteratur wurde,
die jüdische Identität so gern auf die
Auseinandersetzung mit der Shoa reduzieren
wollte. Ilana
Shmueli begriff allerdings, welcher tiefe
Ruf der Verzweiflung in diesem Gedicht
sichtbar wurde, auch welche dunklen
Todesahnungen in ihm mitschwingen. Bestürzt
schrieb sie ihm 1969 aus Israel, wörtlich
Bezug nehmend auf das Gedicht "Mandelnde":
"Du bist unverdornt im Gestirn des Lieds,
das beginnt…" Das Wort Hachnissini ließ sie
im Brief aus, darauf hoffend, dass Celan die
Leerstelle als Kraftquelle wiederentdecken
würde. Vertieft man
sich in die schier unüberschaubare Literatur
zu Paul Celan, ist auffällig, dass seine
Bezüge zum Zionismus nur selten erwähnt
werden. Erst durch
Literaturwissenschaftlerinnen wie Dorothee
Gelhard und Eveline Goodman-Thau sind hier
die Spuren in den letzten Jahren deutlicher
zutage getreten, obgleich die tiefere
Diskussion um die Rolle des Zionismus bzw.
des Kulturzionismus noch aussteht.
Es gibt eine selten offen
ausgesprochene Skepsis und ein merkwürdiges
Zögern gerade innerhalb der
Literaturvermittlung in Deutschland, die
Referenzen auf den Zionismus wie sie bei
Dichtern wie Paul Celan oder Franz Kafka zu
finden sind, als das zu lesen was sie sind:
Suche nach einem Ausweg aus den
Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft.
Ausweg aus den Deutungen, im Jüdischen eine
exotische Verzweiflung zu entdecken, die
solange ihren Reiz behält, solange sich
keine schwierigen Selbstbehauptungen oder
Auskünfte jenseits des Opfer-Diskurses
dazwischen mischen.
Paul Celan war – und das muss man deutlich
betonen – kein Zionist. Das wäre eine
politische Kategorie. Aber er war ein Leser
von kulturzionistischen Dichtern wie Chajim
N. Bialik, in deren Werk er eine Sehnsucht
fand, die ihm vertraut war und für die es in
der europäischen Literaturgeschichte, die er
gut kannte, keine Entsprechung gab. Diesen
Horizont seines Lebens und Schreibens zu
entdecken, ist noch eine offene
Leseerfahrung. Denn
wie hatte Celan bei seiner Ansprache vor dem
hebräischen Schriftstellerverband am 14.
Oktober 1969 in Tel Aviv gesagt: "Ich bin zu
Ihnen nach Israel gekommen, weil ich das
gebraucht habe. Wie nur selten eine
Empfindung, beherrscht mich, nach allem
Gesehenen und Gehörten, das Gefühl, das
Richtige getan zu haben – ich hoffe, nicht
nur für mich allein."
Gernot Wolfram, lebt als
Autor und Kulturwissenschaftler, in Berlin
und Kufstein.
Literaturhinweise: Gernot
Wolfram:
Birg mich – Interkultureller Dialog und
jüdische Identität bei Paul Celan und Chajim
N. Bialik, Frankfurt/Main 2006.
Ich hörte sagen:
Paul Celan liest Gedichte und Prosa
Paul Celan, 1920 als Paul Ancel in
Czernowitz geboren, verkörpert wie kein
anderer die Poesie nach Auschwitz. Davon
dass es im Werk Celans weit mehr zu
entdecken gibt als nur die berühmte
"Todesfuge", die 1952 im Gedichtband "Mohn
und Gedächtnis" veröffentlicht wurde, kann
man sich nun mit einem neuen Hörbuch
überzeugen...
Paul Celan & Ilana
Shmueli:
Briefwechsel
Jerusalem und die Frau, die
ihm Jerusalem zeigt, scheinen noch einmal
ein Anker der Hoffnung, eine Rettung aus
Vereinzelung und Verzweiflung. Und doch muß
Celan, nach Paris zurückgekehrt, erkennen, "daß
die Kräfte, die ich in Jerusalem hatte,
geschwunden sind"... |