Dringende Fehlersuche nötig:
Israels Friedensbewegung
Tel Aviv, Ende 2008: Ein Kongress von Friedenssuchern
..."Die Menschen, die 1948 jung waren,
die Israel gründeten, sind Mitstreiter im Rahmen eines
bedeutenden historischen Erfolges – und
ebenso Teilnehmer an einem bedrückenden
Misserfolg"...
Zu
Uri Avnerys 85.Geburtstag veranstaltete
"Gush Shalom" in Tel Avivs angesehener Cinematheque eine Konferenz. Hier die Rede
des Jubilars:
LIEBE FREUNDE, LIEBE PARTNER,
Ich muss zugeben, dass ich
bewegt bin; denn während meines langen
Lebens bin ich mit Äußerungen der Zuneigung
nicht verwöhnt worden. Ich bin eher an
Bekundungen von Hass gewöhnt. Deshalb
entschuldigen Sie bitte, dass ich etwas
verlegen bin.
EINIGE LEUTE FRAGEN mich: Wie fühlt man sich
mit 85?
Nun, es ist seltsam. Schließlich war es erst
gestern, als ich mit nur 42 Jahren das
jüngste Mitglied in der Knesset war. Ich
fühle mich nicht älter oder weiser als
damals.
85 wird auf alte hebräische Weise mit den
Buchstaben P und H ausgedrückt. PH kann poh
– „hier“ bedeuten, und es stimmt, ich bin
hier und beabsichtige noch eine Weile hier
zu bleiben – zunächst einmal, weil es mir
Freude macht, und zweitens, weil ich hier
noch einige Dinge zu Ende bringen möchte.
PH kann aber auch Peh, „Mund“ bedeuten – der
Mund befähigt mich, meine Gedanken zu
äußern. Ich möchte diese Gelegenheit nützen,
um mit Euch die Gedanken zu teilen, die mir
heute durch den Kopf gehen.
Hat es mit den 85-Jährigen in Israel etwas
Besonderes auf sich? Zunächst einmal sind
wir die Generation, die den Staat gegründet
hat. Als solche – meine ich – tragen wir
eine besondere Verantwortung für das, was
hier geschieht. Wenn unser Staat nicht zu
dem geworden ist, was wir uns ursprünglich
in unseren Träumen ausmalten, dann ist es
unsere Pflicht, dies zu verändern.
UND HIER stehen wir vor einem seltsamen
Widerspruch. Wir sind Mitstreiter im Rahmen
eines bedeutenden historischen Erfolges –
und wir sind ebenso Teilnehmer an einem
bedrückenden Misserfolg.
Vielleicht können nur Leute meiner
Generation vollständig die Größe des
Erfolges bei der Umwandlung des nationalen
Bewusstseins begreifen, auf die wir
mittlerweile zurückschauen können.
Viele Leute fragen mich, woher ich meinen
Optimismus nehme, nachdem die Situation so
schlecht geworden ist und gute Leute von
Depressionen und Verzweiflung heimgesucht
werden. In solchen Augenblicken erinnere ich
mich – und erinnere die Leute, die mir
zuhören – daran, wie wir angefangen haben.
Ich wiederhole dies immer wieder für die,
die das nicht durchgemacht haben, und für
jene, die dies vergessen haben.
Als einige von uns am Tage nach dem Krieg –
dem Krieg von 1948 - sagten: es existiert
ein palästinensisches Volk, und wir müssen
mit ihm Frieden schließen, waren wir hier,
ja, in der ganzen Welt, nur ein paar
vereinzelte Leute. Wir wurden ausgelacht. Es
gibt keine Palästinenser, wurde uns gesagt.
„So etwas wie ein palästinensisches Volk
gibt es nicht!“ behauptete Golda Meir noch
wesentlich später.
Gibt es heute jemand, der die Existenz des
palästinensischen Volkes leugnet?
Wir behaupteten, um Frieden zu erlangen
müsse ein palästinensischer Staat entstehen.
Man lachte uns aus. Was denn? Wozu? Es gibt
Jordanien, Ägypten, insgesamt 22 arabische
Staaten – das genügt.
Heute ist es ein weltweiter Konsens - zwei
Staaten für zwei Völker.
Wir sagten, dass wir mit den Feinden reden
müssten – und der Feind war damals die PLO.
Vier Kabinettsminister forderten, dass ich
wegen Hochverrats vor Gericht gebracht
werden sollte, nachdem ich mich mit Yasser
Arafat während der Belagerung in Beirut
getroffen hatte. Alle vier trafen sich
später mit Arafat, und der Staat Israel
unterzeichnete offizielle Verträge mit der
PLO.
Die Verträge wurden zwar nicht erfüllt und
führten nicht zum Frieden. Aber die
gegenseitige Anerkennung zwischen Israel und
der PLO, zwischen Israel und dem
palästinensischen Volk, wurde eine Tatsache.
Das war eine Revolution, und dies kann nicht
rückgängig gemacht werden.
Heute sagen wir: wir müssen mit der Hamas
reden. Die Hamas ist ein integraler Teil der
palästinensischen Realität. Selbst diese
Idee wird immer mehr anerkannt.
Was für einen Aufruhr entfachten wir damals,
als wir sagten, Jerusalem müsse die
Hauptstadt der zwei Staaten werden! Heute
weiß fast jeder, dass dies geschehen muss,
dass es geschehen wird.
Ich habe diesem Kampf 60 Jahre meines Lebens
gewidmet – und dieser Kampf ist noch in
vollem Schwange. Wir haben die Idee von
Großisrael besiegt und bringen die
Alternative der zwei Staaten voran, die in
Israel und in aller Welt inzwischen
überzeugend klingt. Sogar so weitgehend
überzeugend, dass diejenigen in den
aufeinander folgenden israelischen
Regierungen, die dieser Idee gegenüber
gegnerisch eingestellt sind, nun gezwungen
sind, so zu tun, als würden sie sie
unterstützen, um Stimmen im Wahlkampf zu
gewinnen.
Denken Sie daran, wenn sie verzweifelt sind.
Schauen sie sich das ganze Bild an und nicht
nur das nächste Puzzleteil.
ABER WIE groß auch unser Erfolg sein mag, so
groß ist auch unser Scheitern.
Man muss nur auf diese kommenden Wahlen
blicken: die drei großen Parteien benutzen
fast dieselbe Ausdrucksweise, und keine von
ihnen stellt einen Friedensplan auf.
Es gibt noch kleine Parteien, die gute und
aufrichtige Dinge sagen, aber genau zu
diesem Zeitpunkt brauchen wir einfach mehr.
Was uns fehlt, ist eine große politische
Macht, die bereit ist, Frieden zu schließen.
Es ist ziemlich klar, dass die Ergebnisse
der bevorstehenden Wahlen schlecht sein
werden, und die einzige Frage ist die, ob
sie nur schlecht oder sehr schlecht oder
sogar noch schlimmer sein werden.
Warum geschieht dies? Dafür gibt es viele
Gründe, viele Vorwände. Wir kritisieren – zu
Recht - viele Dinge: die Medien, das
Bildungssystem, alle unsere aufeinander
folgenden Regierungen, den Präsidenten der
USA und alle Welt.
Aber eines vermisse ich – die Selbstkritik.
Mein Vater pflegte zu sagen: wenn die
Situation schlecht ist, frage als erstes
dich selbst, ob du in Ordnung bist. Also
frage ich mich. Bin ich in Ordnung? Sind wir
in Ordnung?
Doch, wir haben die richtigen Ideen
geäußert. Unsere Ideen haben den Sieg
errungen, aber haben wir alles getan, um auf
dem politischen Schlachtfeld diese Ideen in
die Praxis umzusetzen?
Politik ist eine Sache von Macht. Was haben
wir getan, um eine progressive politische
Macht in Israel zu schaffen? Wie konnte es
geschehen, dass die Linke, das
Friedenslager, fast von der politischen
Bildfläche verschwunden ist? Warum haben wir
keine politische Macht, warum haben wir
nicht einmal eine Zeitung, ein Radio oder
eine Fernsehstation? Wie hat die israelische
Linke innerhalb der letzten Generation all
ihre Machtpositionen verlieren können?
Wir im Friedenslager haben wunderbare Männer
und Frauen, die sich jede Woche der Armee
beim Kampf gegen die Mauer entgegenstellen,
die die Checkpoints beobachten, die sich
weigern, sich der Besatzungsarmee
anzuschließen, die auf vielerlei Weisen
gegen die Besatzung kämpfen. Viele von uns
in jedem Alter nehmen an diesen Aktionen
teil.
Doch während wir stehen und protestieren,
eilen die Siedler voran. Noch eine Ziege,
noch einen Quadratmeter, noch einen Hügel
und noch einen Außenposten. Manchmal habe
auch ich das Gefühl, dass die Hunde bellen
und die Karawane weiterzieht – und ich bin
nicht bereit, der Hund in dieser Analogie zu
sein. Wir sind hinter den Moskitos her, aber
der Sumpf, aus dem die Moskitos kommen, wird
größer und größer.
Der Sumpf ist politisch. Nur eine politische
Macht kann ihn trockenlegen. Mit andern
Worten: nur eine Macht kann sich mit den
herrschenden Mächten anlegen, und die
Entscheidungen der Regierung und der Knesset
beeinflussen.
Das ist ein historisches Versagen – und wir
tragen die Verantwortung dafür.
WENN ES mir erlaubt ist, einen
Geburtstagwunsch zu äußern: ich wünsche mir,
dass wir am Tag nach den Wahlen über die
nächsten Wahlen nachzudenken beginnen.
Wir müssen auf eine neue Weise nachdenken.
Von Grund auf neu. Wir müssen alles prüfen,
was wir bis jetzt gemacht haben, und
herausfinden, wo wir einen falschen Weg
eingeschlagen haben.
Warum gelang es uns nicht, viele der jungen
Leute zu überzeugen, die Leute aus der
orientalisch-jüdischen Gemeinde, die
Immigranten aus Russland, die arabische
Gemeinschaft in Israel oder die aus dem
moderaten religiösen Sektor, warum konnten
wir sie nicht davon überzeugen, dass es
jemand gibt, mit dem wir Friedensgespräche
führen können, dass es möglich ist, einen
Wechsel herbeizuführen, ja, dass wir es
tatsächlich können!
Warum gelang es uns nicht, die Herzen der
jungen Generation zu erreichen, die von den
Politikern angeekelt sind – und von der
Politik, so wie sie sie bisher kennen
gelernt haben?
Was dringend nötig ist, ist etwas vollkommen
Neues, geradezu ein neuer Schöpfungsakt. Ich
möchte sagen: wir müssen den Boden für einen
israelischen Obama vorbereiten.
Obama bedeutet: ein Licht der Hoffnung
anzuzünden, wo keine Hoffnung mehr ist. Eine
grundlegende Veränderung zu fordern und
davon überzeugt zu sein, dass es möglich
ist, diesen Wechsel herbeizuführen. Den
Enthusiasmus der Massen junger Leute für
eine Botschaft zu entzünden, die das Herz
berührt, eine Botschaft, die das Ende der
Besatzung fordert, eine Botschaft der
sozialen Gerechtigkeit, der Sorge für
unseren Planeten. Die Sehnsucht nach einem
anderen System – säkular, gerecht,
anständig, friedensuchend.
Die neue Botschaft muss das Herz und den
Verstand ansprechen, die Emotionen
ansprechen und eben nicht nur den Intellekt.
Sie muss wieder den Idealismus erwecken, der
sich in so vielen Herzen verbirgt und der es
nicht wagt, sein Gesicht zu zeigen.
Das große Hindernis für solch eine Explosion
ist die Verzweiflung. Es ist viel leichter,
viel bequemer zu verzweifeln. Es fordert
nichts. Es ist leichter zu sagen, dass alles
verloren ist; dass sie unseren Staat
gestohlen haben. Aber Pessimismus bringt –
wie bekannt sein dürfte – nichts Neues
hervor. Er führt nur zu innerer und äußerer
Emigration.
Ich weigere mich, pessimistisch zu sein: ich
habe in meinen 85 Jahren zu viel
überraschende, wunderbare, unerwartete Dinge
gesehen – im guten wie im bösen Sinne – um
nicht an Unerwartetes zu glauben. Mit Obama
hat keiner gerechnet – doch es geschah vor
unsern Augen. Der Fall der Berliner Mauer
war völlig unerwartet, und keiner hätte es
sich nur wenige Augenblicke, bevor es
geschah, vorstellen können. Sogar der Sieg
der Grünen bei den Gemeindewahlen in Tel
Aviv vor kurzem war so etwas.
ICH MÖCHTE vorschlagen, dass der Anfang
neuer Bemühungen einen Tag nach den Wahlen
beginnt. Ich würde am liebsten vorschlagen,
dass sich die Intellektuellen und die
Friedensaktivisten, die sozialen Aktivisten
und die Kämpfer für die Umwelt versammeln
und anfangen, gemeinsam nachzudenken, um das
israelische Wunder zu bewirken.
Ich wünsche mir einen großen Kongress all
jener, die einen Wechsel wollen, eine Art
Sanhedrin für Friedens- und
Menschenrechtsaktivisten, eine Art
alternative Knesset.
Vom Gipfel meiner 85 Jahre möchte ich all
jenen zurufen, denen unsere Zukunft am
Herzen liegt, Juden und Arabern und
besonders den jungen Leuten, sich in
Bewegung zu setzen, um mit gemeinsamen
Anstrengungen den Boden für eine große
Veränderung, für das andere Israel, für
einen Staat vorzubereiten, in dem es Spaß
macht zu leben, ein Israel, auf das wir
stolz sein können.
Das ist kein Spiel, das zwischen bestehenden
Organisationen gespielt werden kann, was es
braucht, ist eine vollkommen neue politische
Schöpfung, die eine neue Sprache sprechen
wird, die eine neue Botschaft bringen wird.
Ich bin davon überzeugt, dass dies geschehen
wird, wenn nicht morgen, dann eben
übermorgen. Für mich selbst und für alle,
die hier im Saal anwesend sind, wünsche ich,
dass wir das noch mit unsern eigenen Augen
sehen, dass wir Partner sein werden, dass
wir sagen werden können: es ist uns
gelungen, den Staat guten Händen zu
übergeben.
UND JETZT möchte ich euch, meinen Freunden,
noch meinen herzlichen Dank ausdrücken, dass
ihr gekommen seid, um meinen Geburtstag mit
einem Austausch von Meinungen zu begehen,
und Themen zu debattieren, die für uns alle
so wichtig sind.
Herzlichen Dank auch den Moderatoren und den
Referenten, die die Themen für uns
offengelegt haben; den Organisatoren dieser
wunderbaren Veranstaltung, den Mitgliedern
von Gush Shalom, die es möglich machten.
Danke Euch allen, die ihr hier von nah und
fern gekommen seid, und danke für alle guten
Wünsche, mit denen ihr mich überschüttet
habt.
Ich hätte mir keinen erfreulicheren und
spannenderen Geburtstag wünschen können.
Danke.
[Porträt]
[Radiobericht]
[Zum 85.Geburtstag]
http://www.uri-avnery.de
Übersetzung: Ellen Rohlfs und Christoph
Glanz |