Israel mit 60:
Ein Staat sucht sich selbst
Igal
Avidan
Wenn sich Israelis gegenseitig zum Geburtstag
gratulieren, sagen sie »bis 120«. Vielleicht weil dieses Alter so hoch ist,
dass keiner auf die Idee kommen kann, der eine wünsche dem anderen ein
kurzes Leben. In diesem Jahr beglückwünschen viele ihren Staat Israel zum
60. Geburtstag.
Aber zwischen den Feuerwerken und Festveranstaltungen
kommen Sorgen und Zweifel hoch, über die man bereits in aller Öffentlichkeit
redet: Wird Israel noch weitere 60 Jahre existieren? Und wenn ja, wird es zu
einer Art Massada, einer aufgerüsteten Burgfestung, deren Bewohner ein Leben
im Dauerkampf um ihre Existenz führen? Wird der Judenstaat zu einem
verschlossenen Thora-Staat, der liberale jüdische Gemeinden unterdrückt,
nichtjüdische Einwanderer als Fremde herabwürdigt und die arabischen
Israelis als Bürger zweiter Klasse und eine demografische Gefahr betrachtet?
Denn die Bedrohung von außen verstärkt die Intoleranz von innen und
gefährdet die ohnehin fragile und fehlerhafte jüdische Demokratie. Diese
steht vor gewaltigen Aufgaben wie der Räumung von Siedlungen mit
Zehntausenden jüdischen Bewohnern, der Rückgabe von für Juden heiligen
Städten an die Palästinenser und der zunehmenden Gewaltbereitschaft, der
bereits ein israelischer Premierminister zum Opfer gefallen ist.
Israel ist ein einmaliger Staat. Zum einen hat er keine
international anerkannten Grenzen: Auf der Grundlage einer UN-Resolution im
Jahr 1948 gegründet, definierte Israel seine Grenzen zweimal durch Kriege
neu. Teile des Staatsgebiets und sogar Ost-Jerusalem gelten in der Welt als
besetzt. Daher residieren die internationalen Botschaften auch nicht in der
Hauptstadt Jerusalem, sondern in Tel Aviv. Außerdem belasten der
Unabhängigkeitskrieg von 1948 und der Sechs-Tage-Krieg von 1967 bis heute
die Friedensperspektiven Israels, weil die Palästinenser immer noch das
Rückkehrrecht für ihre Flüchtlinge fordern. Zum anderen gehören zum
Staatsvolk nicht nur alle Bürger Israels, sondern auch die jüdischen
Bewohner des besetzten Westjordanlandes und der Golanhöhen. Als potenzielle
Israelis gelten alle Juden weltweit — samt ihren engen Verwandten. Die
Einwanderung, auf Hebräisch »Aliya«, also »Aufstieg« genannt, ist weiterhin
ein Grundpfeiler des Zionismus und ein Instrument zur Aufrechterhaltung der
jüdischen Mehrheit. Fast jeder fünfte Israeli kam seit 1989 als Einwanderer
ins Land, meistens aus der ehemaligen Sowjetunion. Aber mit ihnen zusammen
kamen auch 300.000 nichtjüdische Verwandte.
Eine Demokratie ist Israel vor allem für Juden. Die
Araber, die ein Fünftel der Bevölkerung stellen, werden seit der Zweiten
Intifada zunehmend isoliert. Die Teilnahme einzelner Araber an gewalttätigen
Demonstrationen und palästinensischen Terroraktionen sowie die Tötung
arabischer Demonstranten durch die Polizei haben die Gräben zur jüdischen
Mehrheitsbevölkerung noch tiefer werden lassen. Wie in einem Teufelskreis
verstärkt die zunehmende Benachteiligung die Islamisierung und
separatistischen Tendenzen unter den Arabern, die Israel als jüdischen Staat
nicht anerkennen und eine Autonomie fordern. Diese von vielen Juden als
bedrohlich empfundene Haltung wiederum feuert die Diskussion an, durch
Gebietsaustausch arabische Ortschaften an den Palästinenserstaat abzutreten,
auch um eine stabile jüdische Mehrheit im eigenen Land zu erhalten. Die
Mauer wächst somit auch innerhalb Israels — zwischen Juden und Arabern.
Israel ist ein jüdischer Staat. Er wurde aber vor allem
von weltlichen Zionisten gegründet, die die Religion ihrer Familien
ablehnten. Die ultraorthodoxen Juden sind in Israel eine kleine Minderheit,
aber sie kontrollieren die jüdisch-staatlichen Organisationen. Aus diesem
Grund kann man in Israel nur religiös heiraten. Nur wenige Neueinwanderer
konvertieren zum Judentum, weil die Staatsrabbiner sie dazu drängen, nach
dem Übertritt ein religiöses Leben zu führen. Gelegentlich führen die
Spannungen zwischen benachbarten säkularen und ultraorthodoxen Juden zu
Gewaltausbrüchen.
Israel versteht sich aber auch als Demokratie, was im
Alltag gelegentlich zu Konflikten mit der jüdischen Staatsausrichtung führt.
Die zionistischen Organisationen setzen sich per Definition nur für Juden
ein. Junge orthodoxe Religionsschüler werden vom Militärdienst befreit, was
in einem Land mit Wehrpflicht von der Mehrheit als Verrat am Staat gesehen
wird. Die Auseinandersetzungen um junge Israelis, die sich aus dem Militär
hinausschleichen, werden in letzter Zeit immer intensiver. Israel ist aber
weiterhin eine mobilisierte Gesellschaft. Daher bevorzugen Tausende
orthodoxer Frauen, die aus religiösen Gründen vom Militärdienst befreit
werden, den Zivildienst. Seit Kurzem dürfen auch Männer, die zum Beispiel
aus medizinischen Gründen vom Militärdienst ausgeschlossen werden,
Zivildienst leisten. Auch etliche Araber, die aus politischen Gründen vom
Dienst befreit werden, erlangen auf diesem Weg mehr Gleichberechtigung.
Israel entstand nicht zuletzt als Folge des Holocaust. Je weiter die
Vernichtung der europäischen Juden durch Nazi-Deutschland zur Geschichte
wird, desto stärker wirkt sie auf die israelische Identität.
Europäischstämmige und orientalische Israelis sehen sich bereits
gleichermaßen als Nachfahren von Überlebenden, auch wenn ihre Familien
niemals mit Nazi-Deutschland zu tun hatten. Einige arabische Israelis setzen
sich inzwischen mit der Vernichtung der Juden auseinander, weil sie dadurch
Versöhnung demonstrieren und hoffen, auch eine israelische Anerkennung der
palästinensischen Tragödie zu erlangen.
Das kollektive Andenken in Israel gilt den Ermordeten, nicht jedoch den
Überlebenden des Holocaust. Erst durch den hartnäckigen Kampf von
Politikern, Medienvertretern und engagierten Bürgern ist es gelungen, diesen
betagten Israelis einen würdigen Lebensabend zu gewährleisten.
Je kleiner Israel durch den sukzessiven Rückzug aus den besetzten Gebieten
wird und je schärfer damit seine Grenzen umrissen sind, desto größer wird
die Akzeptanz des Judenstaates im Nahen Osten sein. Die hängt aber nicht nur
von den Israelis ab.
Auf der Grundlage von über 80 Interviews mit Israelis —
Politikern, Wissenschaftlern, Literaten und Aktivisten sowie mutigen Frauen
und Männern — möchte ich ein Röntgenbild Israels zeigen, jenseits der
gängigen Klischees von frommen Rabbis und sexy Soldatinnen. Die zahlreichen
dekorierenden Geschichten und Anekdoten über außergewöhnliche Israelis
schützen die Leser vor schädlichen Strahlen und verdeutlichen ihm die
Fehlstrukturen Israels — einen »Bandscheibenvorfall« oder eine »Blockade in
der Halswirbelsäule« etwa. Und so wie Menschen, können auch Staaten mit 60
nur so jung sein wie ihre Strukturen, aber dennoch fit genug für die
kommenden 60 Jahre.
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Ein Staat sucht sich selbst:
Quo
vadis, Israel?
Der Journalist und Politikwissenschaftler Igal Avidan beschreibt ein Land am
Scheideweg und skizziert eine Road Map für Israel. Dabei verbindet er mit
profundem historischem und politischem Wissen zahlreiche spannende
Geschichten von Israelis aus unterschiedlichen Bevölkerungs-gruppen. So
verdeutlicht er die drei Problemfelder der israelischen Gesellschaft: den
Konflikt zwischen orthodoxen und säkularen Juden, zwischen jüdischen und
arabischen Israelis sowie zwischen Israelis und Palästinensern... |