Visionen des europäischen Kosmopolitismus:
Tel-Aviv
Einleitung
zu
Gedächtnisraum Europa von
Natan Sznaider
Wir leben in finsteren
Zeiten - Zeiten, die das jüdische Problem
zum Allgemeinproblem werden lassen.
Sozialwissenschaftler haben angesichts der
neuen Barbarei einen schweren Stand: Unser
Handwerkszeug taugt nicht viel, wenn es
darum geht, die heutigen Gefahren zu
verstehen. So drehen wir uns im Kreis,
versuchen die Welt in alten Kategorien zu
verstehen, die wir alle noch so fleißig
gelernt haben.
Ob es nun um Europa geht oder um die Welt,
ob es sich um Kosmopolitismus oder
Globalisierung handelt. Man erfreut sich an
der Vision eines kosmopolitischen Europas,
das die Grenzen sprengt, und wundert sich
gleichzeitig über die Wiederkehr der
Tradition, des Eigenen, des Lokalen, der
Kultur. Oft geht es dabei um einen fast
schon heiligen Konflikt zwischen Christentum
und Islam.
Trotz aller
Rituale und Gedenktage:
Das jüdische Denken ist aus Europa
verschwunden
Bei all diesen Debatten in Europa werden jüdische Stimmen jedoch
nicht wahrgenommen. Das jüdische Gedächtnis ist aus dem europäischen Diskurs
verschwunden. Und das trotz aller Rituale und Gedenktage! Oder vielleicht auch
deswegen. Dieses ausgelöschte Gedächtnis wieder in das Zentrum der europäischen
Debatte zu stellen, ist das Ziel dieses Essays.
Dabei geht es aber nicht nur um Geschichte. Vielmehr stellt
das Buch
einen, wie der Leser rasch bemerken wird, schwierigen Versuch dar, "die"
Geschichte mit einzelnen Geschichten zu verbinden. Es werden Geschichten
erzählt, die sich in Europa vor und nach der Vernichtung der jüdischen Menschen
und ihrer Kultur abspielten. Wie eine Art Drehtür wird sich "die" Geschichte um
diese Geschichten drehen, wenn es darum geht zu zeigen, dass die Theorie des
Kosmopolitismus nicht ohne die Praxis dieser kosmopolitischen Menschen erzählt
werden kann.
Nicht Linearität steht dabei im Vordergrund, vielmehr schöpft unsere Verknüpfung
von Geschichte und Geschichten aus Fragmenten eines "Alten־Neuen" Europas, das
heute Theorie und Praxis in einer Weise betreibt, als ob es die Juden nie
gegeben hätte. Wir werden auf ehemalige europäische Juden treffen, die durch die
Katastrophe eine neue jüdische Kosmopolitik betrieben - ja sie gleichsam unter
Zwang erfunden und gelebt haben die sich vom europäischen Kosmopolitismus nicht
nur abgrenzen muss, sondern auch abgrenzen soll. Es geht also ebenso um
kosmopolitische Akteure. Aber nicht geht es dabei um die so genannte Anerkennung
der Andersheit - einen von den Sozial- und Kulturwissenschaften zu Tode
getretenen Begriff, dessen Ursprünge schon lange nicht mehr klar sind. Auch geht
es nicht um den von der Anthropologie gelehrten Kulturrelativismus, in dem die
verschiedensten Sitten und Gebräuche in einer sich gegenseitig anerkennenden
Welt integriert werden können, und weiterhin geht es nicht um den moralischen
Gegensatz zwischen "gutem" Universalismus und »bösem« Partikularismus, zu dem
auch die Soziologie beigetragen hat. Jüdisches Denken kann und konnte sich
diesen Luxus des Universalismus nicht erlauben. Es bewegte sich immer schon
zwischen diesen Polen.
Das heißt aber nicht, dass das Denken in einem ausweglosen Essentialismus
versinken muss. Es sind gerade die Debatten, die zwischen jüdischen
Intellektuellen unter sich und zwischen jüdischen Intellektuellen und ihrer
Umwelt geführt wurden, die diese Fragen als existenzielle Fragen ständig
aufreißen. Es verwundert nicht, dass sich die Soziologie als Paradewissenschaft
des Liberalismus mit Begriffen wie Feindschaft und Vernichtung schwer tut. Es
scheint uns in der Tat einfacher zu fallen, gewohnte Kategorien noch mal und
noch mal zu denken, als das radikal Neue verstehen zu wollen. Auch hier kann die
jüdische Erfahrung des Kosmopolitismus, um die es auf den folgenden Seiten geht,
aus der Sackgasse fuhren.
Am Beginn der Moderne - angesichts des europäischen Krieges des 17. Jahrhunderts
- hat der englische Theoretiker Thomas Hobbes die Todesangst als den
ursprünglichen Trieb für moderne Institutionen angesehen. Es war dabei die
Unterwerfung unter die Souveränität des Staates, welche das Recht auf Leben
garantieren konnte:
»Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der
Lage ist. die Menschen vor dem Angriff fremder und vor gegenseitigen Übergriffen
zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie
sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden
leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen
Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch
Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können. Das heißt so viel wie einen
Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person
verkörpern sollen, und bedeutet, dass jedermann alles als eigen anerkennt, was
derjenige [...] tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor alles
dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen
und Urteil unterwirft. Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: es ist
eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch den Vertrag
eines jeden mit jedem zustande kam. [...] Ist dies geschehen, so nennt man diese
zu einer Person vereinigte Menge Staat, auf lateinisch "civitas". Dies ist die
Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken,
jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unsern Frieden
und Schutz verdanken. Denn durch diese ihm von jedem Einzelnen im Staate
verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, dass er
durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen
aller auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken.« (Hobbes 1991,
120f.)
Dies ist der Beginn der Moderne und damit der Beginn der
Souveränität als »sterblicher Gott«. Die Souveränität geht, so kann man hier
sehen, der Nation voraus. Und die Religion wurde damit säuberlich vom Staat
getrennt. Die Judenvernichtung, die Niederlage Deutschlands, die Nürnberger
Prozesse und die Einbindung Deutschlands in eine westliche Moderne haben jedoch
alle Folgen für die Hobbes'sche Formulierung der Souveränität: Es ist die
Souveränität, die gebändigt werden musste! Und das ist auch der Hintergrund des
heutigen europäischen Kosmopolitismus. Hier zeigt sich, dass sich hinter dem
europäischen Kosmopolitismus nichts anderes als ein europäischer Partikularismus
verbirgt. Das ist natürlich nichts Neues und steht in einer langem europäischem
Tradition, die in der Aufklärung ihren Höhepunkt erreicht hat. Gerade die
Aufklärung wollte und kannte den Begriff der Menschheit (gegen die später
Verbrechen verübt werden konnten) und tat sich schwer gegenüber denjenigen, die
sich der menschlichen Humanität nicht unterwerfen wollten. Tolerant war die
Aufklärung nur gegen die Gleichgesinnten und denjenigen, die sich dem Begriff
der Menschheit unterwerfen wollten.
»Den Juden als Nation muss man alias verweigern; als Individuen muss man ihnen
alles zugestehen.« (*1)
So hieß es in Frankreich nach der Französischen Revolution, und dieser Ausspruch
wurde zum Inbegriff der gescheiterten jüdischen Assimilation in Europa. Denn
letztendlich forderte er eine Konvertierung der Juden: Nur der Jude, der sich
dem Prinzip der Staatsbürgerschaft unterwerfe, werde der neue gute Jude sein.
Juden als Kollektiv sind ein Relikt einer vergangenen Geschichte. Das ist die
Botschaft der Aufklärung an die Juden, wie sie am deutlichsten Nathan der Weise
in der Lessing'schen Ringparabel ausspricht:
»Wie kann ich meinen
Vätern weniger,
Als du den deinen glauben? Oder
umgekehrt. -
Kann ich von dir verlangen, dass du
deine
Vorfahren lügen strafst, um meinen nicht
Zu widersprechen? Oder umgekehrt.
Das Nämliche gilt von den Christen.
Nicht?«
(Lessing 2000: 81)
Der Jude Nathan wurde seiner partikularen Geschichte beraubt und
damit konnte er in die Universalität der Menschheit eintreten - ein Projekt, das
der Nationalsozialismus brutal unterlaufen hat. Aber dieses Projekt des
europäischen Kosmopolitismus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Angriff
genommen. Die Versöhnung ehemaliger Feinde - das deutsch-französische Verhältnis
gilt hier als exemplarisch -, die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit und
die gemeinsame Politik gegenüber dem Ostblock waren die konstituierenden Momente
eines kosmopolitischen Europas mit universaler Mission, die in die Welt getragen
werden sollte. Eine gemeinsame historische Erinnerung, die über die
nationalstaatliche Erfahrung hinausgehen sollte, wurde zum Grundpfeiler des
neuen Europas. Der Krieg als Schreckensereignis, in dem alle Menschen leiden,
die Judenvernichtung eingebettet in die universale Erinnerung als
Menschheitsverbrechen, in der alle Täter oder Opfer sein können, ja in gewissem
Sinne die christliche Vereinnahmung der Judenvernichtung, in der Juden als
Individuen, aber nicht als Nation gelten dürfen - all das trägt zu einem neuen
kosmopolitischen Europa bei, in der Juden als Juden mit ihren spezifischen
Erinnerungen keinen Platz mehr einnehmen können. Der heutige Kosmopolitismus
sieht sich natürlich nicht mehr so homogenisierend wie seine Vorgänger im 18.
Jahrhundert, jedoch ist die Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus
- wie wir im Folgenden sehen werden - immer noch nicht überwunden: Oft werden
die eigenen Erfahrungen als universal eingestuft. Moralischer Universalismus
stellt noch immer eines der begehrtesten europäischen Exportgüter dar, ohne dass
dabei aber berücksichtigt wird, dass gerade die partikularen Erfahrungen der
Kriegszeit der Grund dafür sind, dass die postnationale Konstellation heute als
universale Botschaft in die Welt geführt werden kann.
weiter:
Universalismus und Partikularismus nicht als sich gegenseitig
ausschließende Begriffe, sondern als gelebte Praxis:
Jüdischer Pluralismus
In der Menschheit, so kann
man sagen, gibt es keinen Ort für die
Menschen in ihrer Besonderheit. Das
Weiterbestehen und Weiterbestehen wollen von
Partikularität wird nur noch als Rückschritt
und Reaktion verstanden. Wenn man die
europäische jüdische Erfahrung jedoch mit in
die Analyse holt - und genau das ist unser
Anliegen -, werden Universalismus und
Partikularismus, das Allgemeine und das
Besondere keine sich gegenseitig
ausschließenden Begriffe mehr sein, sondern
gelebte Praxis. Das ist historisch
schwierig, denn diese gelebte Praxis, die
jüdische kulturelle Existenz in Europa,
existiert trotz der physischen Anwesenheit
von Juden in Europa nicht mehr...
Und ...
... weiter im
Buch...
Natan Sznaider:
Gedächtnisraum Europa
Die
Visionen des europäischen Kosmopolitismus.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
*1) So der Abgeordnete
Stanislas de Clermont-Tonnerre
in der Nationalversammlung von 1791.
|