Guten Morgen, Herr Olmert:
SchlussbilanzUri Avnery
IM UMGANGSSPRACHLICHEN israelischen Hebräisch sagen wir,
wenn jemand etwas entdeckt, was schon alle kennen: "Guten Morgen, Elijahu!"
Warum Elijahu? Das weiß ich nicht. Jetzt könnte man sagen:
"Guten Morgen, Ehud!"
Das sagte ich mir, als ich das sensationelle
Interview las, das Ehud Olmert der Tageszeitung "Yediot Aharanot",
am Vorabend zum jüdischen Neujahrsfest, gab.
AM ENDE seiner politischen Karriere, nachdem er vom
Ministerpräsidentenposten zurückgetreten war, während Zipi Livni dabei ist,
eine neue Regierung zu bilden, sagte er erstaunliche Dinge – nicht an sich
erstaunlich – aber gerade deshalb erstaunlich, weil sie aus seinem Munde
kamen.
Für diejenigen, die es nicht mitbekommen haben, hier noch einmal, was er
sagte:
- "Wir müssen mit den Palästinensern ein Abkommen erreichen, was
bedeutet, dass wir uns tatsächlich aus fast allen (besetzten) Gebieten
zurückziehen. Wir werden einen Prozentsatz von diesen Gebieten behalten,
aber wir werden genötigt sein, den Palästinensern einen ähnlich großen
Prozentsatz an Land im Austausch zu geben – denn ohne dies wird es
keinen Frieden geben."
- " …einschließlich Jerusalem. Mit speziellen Lösungen für den
Tempelberg und die historischen heiligen Stätten, wie ich sie mir
vorstellen kann …jeder , der das ganze Stadtgebiet behalten will, muss
innerhalb des Herrschaftsgebietes von Israel 270.000 Araber hinter
Sicherheitszäunen halten. Das funktioniert nicht."
- " Ich war der erste, der die israelische Herrschaft über die
ganze Stadt haben wollte …Ich gebe zu …ich war nicht bereit, die
Konsequenzen meines damaligen Handelns bis in alle Tiefen der Realität
abzusehen."
- "Was Syrien betrifft, so brauchen wir vor allem eine
Entscheidung. Ich frage mich, ob es eine einzige ernsthafte Person in
Israel gibt, die glaubt, es sei möglich, mit Syrien Frieden zu
schließen, ohne am Ende die Golanhöhen zurückzugeben?"
- " Das Ziel ist, das erste Mal eine genaue Grenze zwischen uns und
den Palästinensern zu ziehen, eine Grenze, (die die Welt anerkennen
wird)."
- "Nehmen wir einmal an, dass im nächsten oder übernächsten Jahr
ein regionaler Krieg ausbrechen wird und wir mit Syrien eine
militärische Konfrontation haben werden. Ich hege keinen Zweifel daran,
das wir sie zusammenschlagen werden. Aber was wird geschehen, wenn wir
siegen? …Warum mit den Syrern einen Krieg beginnen, um das zu erreichen,
was wir auf jeden Fall auch ohne diesen hohen Preis erreichen können?"
- "Worin lag die Größe Menachem Begins? Er sandte Dayan nach
Marokko, um (Sadats Emissär) Tohami dort zu treffen, bevor er sich mit
Sadat traf … und Dayan sagte zu Tohami im Auftrag von Begin, ‚wir sind
bereit, uns aus dem ganzen Sinai zurückzuziehen’."
- "Arik Sharon, Bibi Netanayahu, Ehud Barak und Rabin – sein
Andenken möge gesegnet sein – jeder von ihnen tat einen Schritt in die
richtige Richtung, aber zu einem gewissen Zeitpunkt, an einem
Scheideweg, wenn eine Entscheidung zu treffen gewesen wäre, wurde sie
nicht getroffen."
- "Vor ein paar Tagen nahm ich an einer Diskussion mit den
wichtigsten Leuten teil, die sich am Entscheidungsprozess beteiligen.
Zum Schluss sagte ich zu ihnen: Wenn ich Ihnen so zuhöre, verstehe ich,
warum wir mit den Palästinensern und den Syrern während der letzten 40
Jahre keinen Frieden gemacht haben."
- "Wir könnten einen historischen Schritt mit den Palästinensern
machen und auch einen historischen Schritt bei unseren Beziehungen mit
den Syrern. In beiden Fällen wäre es eine Entscheidung, die wir mit
offenen Augen seit 40 Jahren verweigert haben."
- "Wenn man auf diesem Stuhl hier sitzt, muss man sich fragen:
Welches Ziel hat man? Frieden zu machen oder nur immer stärker und
stärker und stärker zu werden, um den Krieg zu gewinnen. …Unsere Macht
ist groß genug, um jeder Gefahr zu begegnen. Nun müssen wir versuchen,
wie wir diese Infrastruktur der Macht anwenden, um Frieden zu machen und
nicht um Kriege zu gewinnen."
- " Der Iran ist eine sehr große Macht …die Annahme, dass Amerika,
Russland, China, Britannien und Deutschland nicht wissen, wie man mit
den Iranern umgehen soll, und nur wir Israelis es wissen und es tun
werden, ist ein Beispiel für den Verlust jeglicher Proportion."
- "Ich lese die Statements unserer Ex-Generäle und sage: wie kann
es nur sein, dass sie nichts gelernt und nichts vergessen haben?"
DIE ERSTE Reaktion war, wie ich schon sagte: Guten Morgen,
Ehud.
Ich erinnerte mich an meinen verstorbenen Freund, den Dichter, der unter dem
Namen Yebi bekannt war. Vor etwa 32 Jahren, nachdem ein halbes Dutzend
arabischer Israelis getötet worden waren, als sie gegen die Enteignung ihrer
Ländereien demonstrierten, kam er sehr aufgeregt zu mir und rief: ‚Wir
müssen etwas tun’. Also entschieden wir uns, Kränze auf die Gräber der
Getöteten zu legen. Wir waren zu dritt: Yebi, ich und der Maler Dan Kedar,
der letzte Woche starb. Allein diese Geste weckte einen Sturm des Hasses
gegen uns, derart, wie ich es bis dahin und auch später nicht erlebt hatte.
Wenn seitdem in Israel jemand etwas zu Gunsten des Friedens sagte, platzte
Yebi heraus: "Wo war er, als wir Kränze auf die Gräber legten?"
Das ist eine normale Frage, aber wirklich völlig irrelevant. Olmert, der
sein Leben lang gegen unsere Positionen kämpfte, nimmt sie jetzt anscheinend
an. Das ist die Hauptsache Es sollte also nicht "Guten Morgen, Ehud",
sondern "Willkommen, Ehud!" heißen.
Es stimmt schon, wir haben diese Dinge bereits vor 40 Jahren gesagt. Aber
keiner von uns war amtierender Ministerpräsident.
Diese Dinge waren zwar schon gesagt und in Einzelheiten von vielen guten
Leuten buchstabiert worden, wie von jenen, die den Gush Shalom-Entwurf für
einen Friedensvertrag zusammenstellten oder das Nusseibeh-Ayalon-Dokument
oder die Genfer Initiative. Aber keiner von ihnen war ein amtierender
Ministerpräsident.
Und das ist das Wichtigste.
ES SOLLTE nicht vergessen werden: in der Periode, in der
sich in Olmerts Kopf diese Gedanken bildeten, erlaubte er den Siedlungen,
sich auszudehnen, besonders in Ost-Jerusalem.
Das lässt eine unausweichliche Frage hochkommen: meint er denn wirklich, was
er sagt? Ist das eines seiner Täuschungsmanöver? Ist es wieder eine
Manipulation ?
Dieses Mal neige ich dazu, ihm zu glauben. Man kann sagen, die Worte klingen
ehrlich. Nicht nur die Worte selbst sind wichtig, sondern auch der Ton, in
dem er sie sagt. Die ganze Sache klingt wie das politische Testament einer
Person, die sich mit dem Ende ihrer politischen Karriere abgefunden hat.
Diese Worte haben einen philosophischen Klang. Es ist das Bekenntnis eines
Menschen, der zweieinhalb Jahre im höchsten Amt als Entscheidungsträger des
Landes saß, der die Lektionen aufgenommen und Schlussfolgerungen gezogen
hat.
Man könnte fragen: Warum kommen solche Leute erst am Ende ihrer Amtszeit zu
ihren Schlussfolgerungen, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, die klugen
Dinge zu realisieren, die sie vorschlagen? Warum formulierte Bill Clinton
seinen Vorschlag für einen israelisch-palästinensischen Frieden während
seiner letzten Tage im Amt, nachdem er acht Jahre unverantwortlich in dieser
israelisch-palästinensischen Arena gespielt hat? Und warum gestand Lyndon B.
Johnson, dass der Vietnamkrieg von Anfang an ein schrecklicher Fehler war,
nachdem er selbst den Tod von Tausenden von Amerikanern und Millionen von
Vietnamesen zu verantworten hatte?
Eine oberflächliche Antwort liegt im Wesen des politischen Lebens. Ein
Ministerpräsident hastet von Problem zu Problem, von Krise zu Krise. Er ist
Versuchungen und Druck von außen und dem Stress von innen ausgesetzt, auch
von Koalitionsstreitereien und innerparteilichen Intrigen. Er hat weder die
Zeit noch die Distanz, um Schlussfolgerungen zu ziehen.
Die zwei ein halb Jahre von Olmerts Amtszeit waren voller Krisen, vom 2.
Libanonkrieg, für den er verantwortlich war, bis zu den
Korruptionsermittlungen, die ihn überallhin verfolgten. Erst jetzt hatte er
die Zeit und vielleicht die philosophische Einstellung, um
Schlussfolgerungen zu ziehen.
Das ist die Bedeutung dieses Interviews: der Sprecher ist eine Person, die
zweieinhalb Jahre im Zentrum nationaler und internationaler
Entscheidungsfindung stand, eine Person, die Druck und Berechnungen
ausgesetzt war, eine Person, die persönliche Kontakte mit den Oberhäuptern
der Welt und den Palästinensern hatte. Eine normale Person, nicht brillant,
kein tiefsinniger Denker, ein Mann der politischen Praxis, der die Dinge
wohl "von dort sah, die man aber nicht von hier sehen kann."
Er hat der Öffentlichkeit eine Art Bericht zur Lage der Nation geliefert,
ein Resümée der Realität Israels nach 60 Jahren seiner Existenz und nach 120
Jahren der zionistischen Unternehmungen.
MAN KÖNNTE auf die riesigen Lücken bei dieser Schlussbilanz hinweisen: keine
Kritik der zionistischen Politik der letzten fünf Generationen – aber das
ist etwas, das man wirklich nicht von ihm erwarten kann. Da gibt es auch
keine Empathie mit den Gefühlen, den Hoffnungen und Traumata des
palästinensischen Volkes, keine Erwähnung des Flüchtlingsproblems (es ist
bekannt, dass er bereit ist, nur gerade ein paar Tausend im Rahmen von
"Familienvereinigung" wieder aufzunehmen). Es gibt auch kein
Schuldeingeständnis für die verheerende Vergrößerung der Siedlungen. Diese
Liste könnte noch lange fortgesetzt werden.
Die primitive Basis seiner Weltsicht hat sich nicht verändert. Das wurde
durch das folgende verwunderliche Statement deutlich: "Jeder kleinste Teil
des Gebietes zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, den wir aufgeben
werden, wird in unsern Herzen brennen … Wenn wir in diesen Gebieten graben,
was werden wir finden? Reden von Arafats Großvater oder von Arafats
Ur-Ur-Ur-Großvätern? Wir finden dort die historischen Erinnerungen des
Volkes Israel!"
Das ist natürlich vollkommener Unsinn. Das hat nichts mit historischen und
archäologischen Nachforschungen zu tun. Der Mann wiederholt nur Ansichten,
an denen er seit seiner Jugend festhält; er drückt sich rein gefühlsmäßig
aus. Jeder, der an dieser Ideologie klebt, dem wird es sehr schwer fallen,
die Siedlungen aufzulösen und Frieden zu machen.
Aber trotzdem – was steht nun in diesem Testament?
Es ist ein unmissverständlicher und endgültiger Abschied von "Ganz Erez
Israel" von einer Person, die in einem Zuhause aufgewachsen ist, über dem
das Irgun-Emblem wehte: die Karte von Erez Israel auf beiden Seiten des
Jordan. Für ihn hat sich der Irgun-Slogan "Nur so!" in ein " Alles nur s o
nicht!" verwandelt.
Es unterstützt unmissverständlich die Teilung des Landes. Dieses Mal hört
sich sein Festhalten am Prinzip von "Zwei Staaten für zwei Völker" viel
aufrichtiger an, nicht wie ein Lippenbekenntnis oder wie ein
Taschenspielertrick. Seine Forderung, "die Grenzen des Staates Israel
festzulegen" ist im zionistischen Denken wie eine Revolution.
Olmert hat schon in der Vergangenheit gesagt, dass der Staat Israel "am Ende
ist", wenn er nicht einer Teilung des Landes zustimmt – wegen der
"demographischen Gefahr". Dieses Mal hat er diesen Dämon nicht
heraufbeschworen. Jetzt spricht er als Israeli, der über die Zukunft Israels
als eines fortschrittlichen, konstruktiven, friedlichen Staates nachdenkt.
All dies ist nicht als Vision für die ferne Zukunft vorgebracht worden,
sondern als Plan für die Gegenwart. Er fordert, dass jetzt eine Entscheidung
getroffen wird. Es klang fast wie ‚Lasst mich noch ein paar Monate
weitermachen – und ich werde dies tun’. Die unausgesprochene Voraussetzung
ist, dass die Palästinenser für diesen historischen Wendepunkt bereit sind.
Und er hat eine israelische Position festgelegt, die in keiner zukünftigen
Verhandlung rückgängig gemacht werden kann.
DIES IST das Testament des Ministerpräsidenten, und es ist offensichtlich
für den nächsten Ministerpräsidenten gedacht.
Wir wissen nicht, ob Zipi Livni bereit ist, solch einen Plan zu erfüllen,
oder was sie über dieses Testament denkt. Sie hat zwar vor kurzem ähnliche
Ideen geäußert, aber jetzt betritt sie den Hexenkessel des
Ministerpräsidentenamts. Man kann nicht wissen, was sie tun wird.
Ich wünsche ihr nur eines: dass sie am Ende ihrer Tage als
Ministerpräsidentin sich nicht für ein Interview hinsetzen muss, in dem sie
sich dann dafür entschuldigen muss, die historische Gelegenheit, Frieden zu
machen, versäumt zu haben.
Die Grüne Linie von 1967 ist das Ziel:
Israels Premier Olmert fordert kompletten Rückzug
Frieden mit den Palästinensern und
Syrien sei nur möglich, wenn sich Israel aus nahezu allen 1967 eroberten
Gebieten zurückziehe. Das sagte Israels scheidender Regierungschef Ehud
Olmert in einem Interview der Tageszeitung "Jediot Aharonot"...
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom
Verfasser autorisiert) |