Jahrhundertelange Hetze:
Kol Nidre und Antijudaismus
Von
Gabriel Miller
Der Titel dieses Beitrags
weist bereits auf die Fragestellung hin, mit der wir es hier zu tun haben:
Es geht um das Gebet, das am Vorabend des Fasten- und Gebettages Jom-Kippur
in der Synagoge vom Vorbeter (Kantor) gesungen wird und den Versöhnungstag
einleitet.
Ferner geht es darum zu
klären, warum dieses Gebet seit Jahrhunderten immer wieder manchen Christen
Anlass für antijüdische Hetze bietet, wie neuerdings einem amerikanischen
religiösen Fundamentalisten, der erklärt hat, das Kol Nidre-Gebet sei einer
der Gründe für den Judenhass.
Wer am Vorabend des Jom-Kippur
in einer Synagoge streng religiöser Juden am Gebet teilnahm und miterlebt
hat, wie beim Anstimmen des Kol Nidre von der Frauengalerie lautes
Schluchzen zu vernehmen ist, die Männer in ihre Gebettücher gehüllt sich
nach innen wenden und ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb ihrem Schöpfer
und seiner Gnade überlassen, kann auch verstehen, dass dieses Gebet den
Stellenwert des wichtigsten Gebets im jüdischen Jahreszyklus erhalten hat.
Es bringt den Ernst der Stunde in ergreifender Weise zum Ausdruck. Im Laufe
der Jahrhunderte wurde es mit viel Gefühl beladen, es erweckt fast
leidenschaftliche Emotionen, was schwer erklärlich ist, denn die meisten
verstehen den Wortlaut des Kol Nidre mindestens nicht ganz, ist es doch in
aramäischer Sprache verfasst und auch für Hebräischkundige nicht ohne
weiteres zugänglich.
Was ist das Kol Nidre-Gebet?
Der Inhalt, bestehend aus etwa
dreißig Worten, ist eine Nichtigkeitserklärung für alle im Laufe des
vergangenen Jahres übernommenen Gelübde, Versprechen, selbstauferlegte
Verbote, die man gegenüber Gott gemacht hat und alle, die man im kommenden
Jahr machen wird. Für unsere Besprechung hier ist es am zweckmäßigsten, sich
mit dem Begriff Gelübde zu beschäftigen, der am Anfang des Gebets steht und
ihm seinen Namen verliehen hat.
Was bedeutet das Wort Gelübde
(Neder) in der jüdischen Religion und im jüdischen Recht? Folgende Merkmale
hat dieser Begriff:
- Eine freiwillige
Verpflichtung, die eine Person auf sich nimmt. Es ist eine Art Eid gegenüber
Gott, wobei die Nichteinhaltung des Versprechens die Bestrafung durch Gott
nach sich ziehen kann.
- Inhalt des Gelübdes kann die Entsagung von den Freuden des Lebens sein,
z.B. Verzicht auf Weingenuss, das Führen eines enthaltsamen Lebens oder aber
auch das Leisten von Schenkungen für das Heiligtum.
- Die Institution des Gelübdes ist in der Tora begründet, und der Talmud hat
dieser Einrichtung einen großen Diskussionsraum gegeben. Die Formel für das
Gelübde wird im Talmud absichtlich kompliziert gestaltet, um das Eingehen
eines Gelübdes zu erschweren.
- Die Möglichkeit der Auflösung des Gelübdes ist ebenfalls kompliziert.
- Mit aller Deutlichkeit wird an verschiedenen Stellen des Schrifttums der
Gedanke ausgedrückt, dass diese religiöse Sonderbindung abgelehnt wird, weil
die freiwillige Entsagung vom erlaubten Genuss nicht menschenfreundlich sei.
Rabbi Schmuel geht so weit, dass er den Gelobenden als Sünder bezeichnet.
Hier ist die Frage angebracht, warum und wann das Kol Nidre Aufnahme in die
Liturgie gefunden hat.
Es ist nicht ausgemacht,
weshalb das K.N. in die Liturgie aufgenommen wurde. Der Text hat mit dem
eigentlichen Gedanken des Versöhnungstages nicht viel zu tun. Es ist eine
schlichte Erklärung, in einfachen Worten ausgedrückt, fast wie eine Aussage
beim Notar oder vor Gericht.
Die Nichtigkeitserklärung
bezieht sich ausdrücklich auf Versprechungen, die man Gott gegeben hat.
Während solche äußerst selten vorkommenden Gelübde für nichtig erklärt
werden, ist die Aufhebung einer Verpflichtung gegenüber anderen Menschen
durch eine einseitige Erklärung nach dem jüdischen Recht ausgeschlossen.
Vermutlich war das der Grund, weshalb der Gaon Rabbi Amram (9. Jh.) das
Beten des K.N. als einen unsinnigen Brauch bezeichnete. Das Gebet entstand
gegen Ende der Talmud-Zeit, zur Zeit der Gaonim, der geistigen Oberhäupter
im 8. bis 11. Jh. Obwohl das K.N. bei den Gaonim nicht unumstritten war,
fand es im Laufe der Zeit Aufnahme in die Liturgie.
Für die Akzeptanz des Kol
Nidre-Gebets könnte es folgende Erklärung geben: Manche in Bedrängnis
geratenen Menschen pflegen sich voreilig eine Entsagung aufzuerlegen, die
sie dann nicht einhalten können oder auch vergessen. Um vor dem Beginn
dieses "schrecklichen" Tages, an dem das Schicksal des Menschen für das
kommende Jahr entschieden wird, rein von jeder Verpflichtung gegenüber dem
Schöpfer vor ihm zu stehen und ihn um Reue und Gnade zu bitten, wurde
wahrscheinlich dieses Gebet verfasst.
Die Rolle dieses Gebets im
Streit mit den Christen
Jahrhundertelang diente das
Kol Nidre-Gebet dazu, die Juden der Untreue, der Unzuverlässigkeit, der
Falscheide zu verdächtigen und sie zu beschuldigen mit der Begründung, die
Juden würden sich von ihren Versprechungen und Eiden im Vorhinein und
Nachhinein lossagen.
Warum gerade dieses Gebet
dafür herhalten musste, kann mit dem schlechten Gewissen derjenigen Christen
zusammenhängen, die sich durch Beichte und Bußleistungen von ihren Sünden
befreien, die sie dann doch wieder begehen. Sie bezichtigen die Hassobjekte
der Scheinheiligkeit und Untreue, die sie bei sich nicht sehen wollen. Da
kommt die Funktion der Projektion zum Vorschein: Die eigenen schlechten
Eigenschaften und bösen Handlungen werden auf den Gegner projiziert, und er
wird mit diesen belastet.
Kol Nidrei
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Kol Nidrei - mp3
Kol Nidrei:
Eine leise
Stimme
Von allen Gebeten an Yom Kippur hat das "Kol
Nidrej" –das Auftaktgebet am Vorabend des Feiertages- den Ehrenplatz. Doch
seine Reise auf diesen Gipfel war nicht leicht...
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