Zum 200. Geburtstag:
Rabbiner Michael J. Sachs (1808-1864)
Von
Margit Schad
Am
13. September 2008 jährt sich zum zweihundertsten Mal der Geburtstag des
Berliner Rabbiners Michael Jechiel Sachs. Sachs zählt zu den großen
Persönlichkeiten des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert - fast alle
jüdischen Lexika und Enzyklopädien führen ihn auf. Aber nur Wenigen ist er
ein Begriff. In manchen 'konservativen' Synagogen kann man noch seinen
Machsor und Siddur finden. Aber selbst Nutzern der 'Zunz-Bibel' ist oft
nicht bekannt, dass Sachs einer ihrer wichtigsten Mitarbeiter war - ihr
Initiator, Freund des Verlegers Moritz Veit und Übersetzer von Deuteronomium,
des größten Teils der prophetischen Bücher, von Hohelied, Klagelieder und
Psalmen.
An
Leistung und Nachwirkung überstrahlen ihn die 'ganz Großen' seiner Zeit wie
Samson Raphael Hirsch (1808-1888), Abraham Geiger (1810-1874) und Zacharias
Frankel (1801-1875), die Begründer und Führer der Neuorthodoxie, des Reform-
und Liberalen Judentums und der Breslauer Richtung des
"positiv-historischen" Judentums. Sachs ging eigene Wege, auch wenn er
Breslau nahe stand. Er wirkte über seine Persönlichkeit, seine Predigten,
Gebetbücher, Übersetzungen und Nachdichtungen. An eine systematische
theoretische Fundierung seiner Position zwischen Orthodoxie und Reform
dachte er nicht. Dabei hatte er durchaus ein Programm, aber eine soziale
Organisierung seines Standpunktes und eine andere als spirituelle
Führerschaft waren ihm fremd. Das aber versperrte den Weg zu einer größeren
und auch historischen Wirkung. In Berlin erinnern zwar noch Gedenktafel und
freigelegte Fundamente an das alte Gotteshaus der Gemeinde in der
Heidereuter Gasse, ihr berühmtester Prediger aber ist aus dem Gedächtnis der
Gemeinde verschwunden. Selbst sein Grab in der Ehrenreihe des Friedhofs in
der Schönhauser Allee ist schwer zu finden; die lange hebräische Inschrift
ist kaum noch lesbar.
Dabei hing Berlin einstmals an ihrem rabbinischen Führer mit besonderer
Verehrung.
Sachs war charismatisch und streitbar, seine Position scheinbar
widersprüchlich. Er zog Anhänger wie Gegner gleichermaßen an. Den Einen
Ideal- und Leitfigur, der höchste klassische und jüdische Bildung in sich
vereinte, der akkulturiert und gleichzeitig ein gesetzestreuer und
traditionsbewusster Jude war, der Liebe und Begeisterung für sein Judentum
ausstrahlte und weckte und in der Wissenschaft des Judentums eigene Akzente
setzte. Sein Reformwille und sein unorthodoxes Denken weckten das Misstrauen
bei der altfrommen und der neuorthodoxen Partei, den Reformern galt er als
'Schwächling' und 'Romantiker' eines 'historisch überlebten' Judentums. Als
seine Anhänger der von Samuel David Luzzatto (SchaDaL) (1810-1865),
dem führenden Kopf der Wissenschaft des Judentums in Italien, verfassten
hebräischen Inschrift für Sachs' Grabstein den höchsten Ehrentitel für
rabbinische Gelehrte (ha-Gaon ha-gadol) hinzufügten, obwohl Sachs
keine Jeschiva geleitet und sich auch nicht durch besondere
Talmudgelehrsamkeit ausgezeichnet hatte, stieß das auf Kritik. Aber dieser,
soweit mir bekannt, einmalige Eingriff in die Tradition gehörte zum Kern des
Selbstverständnisses der 'mittleren' Partei. Sie wollte die Tradition durch
Veränderung bewahren und dazu gehörte eben auch ein neuer, Normen und
Inhalte verändernder Umgang mit ihr. Die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
von allen Seiten betriebenen Kontroversen um die Legitimität und
Authentizität der religiösen Position setzten sich auf dem Friedhof bis in
die Grabinschriften fort.
Diese wurden traditionell vom amtierenden örtlichen Rabbiner und dem
Gemeindevorstand kontrolliert. Bei Sachs' Tod gab es in Berlin nur noch den
greisen Dajjan R. Rosenstein und einen Sachs nicht wohl gesonnenen
Vorstand. Der Tod mag hier mildernd auf das Desinteresse beider, Sachs einer
besonderen Ehrung teilhaftig werden zu lassen, gewirkt haben. Es gab aber
eine große Gruppe in der Gemeinde, die ihr in den Stein gemeißeltes
Versprechen, Sachs für immer einen Platz in ihrem Herz zu bewahren (sekher
... mi-lev … lo jamusch), mit einer höchstmöglichen und Aufsehen
erregenden Ehrung besiegeln wollte und dies auch durchsetzte.
Sehen wir uns den Begriff Gaon näher und jenseits der traditionellen
Verwendung an, dann entfaltet sich seine Anwendung auf Sachs in einem ihm
geradezu auf den Leib geschneiderten aggadischen Sinne neu und treffend.
Die
Geonim, die Häupter der babylonischen Gelehrtenschulen, beschäftigten
sich zwar hauptsächlich mit der Interpretation und dem Ausbau des
talmudischen Rechts – und auf diesem Gebiet zeichnete sich Sachs kaum aus -
aber daneben auch mit der philologischen Erforschung der Talmudsprache, mit
der Liturgie, der Bibelauslegung und der Religionsphilosophie. Genau auf
diesen Gebieten entfaltete Sachs geradezu programmatisch sein Wirken, so
dass man später von einem "System Sachs" sprach. Genannt seien die sich
durch ihre philologische Akribie auszeichnenden Bibelübersetzungen (Die
Psalmen (1835), Die vier und zwanzig Bücher der Heiligen Schrift.
Unter der Redaktion von L. Zunz (1837/38)), Die Festgebete der Israeliten
(9 Bde., 1855/56)), Das Gebetbuch der Israeliten (1858)), die
Übersetzung, Darstellung und Einführung in die hebräische Gebetsdichtung des
Mittelalters (Die religiöse Poesie der Juden in Spanien (1845)),
seine innovative Erklärung 'dunkler' Wörter und Stellen in Talmud und
Midrasch (Beiträge zur Sprach- und Alterthumsforschung. Aus jüdischen
Quellen (2 Bde., 1852/54) und dazu gehören auch – unter
religionsphilosophisch-pädagogischem Aspekt gesehen – seine Predigten und
seine Nachdichtungen von Midrasch und Aggada (Stimmen von Jordan und
Euphrat (2 Bde., 1853, 1868).
Sachs kommt in kleinbürgerlichen, bescheidenen Verhältnissen im
niederschlesischen Glogau zur Welt. Seine Eltern, der Vater war Tuchhändler,
waren fromm und traditionsbewusst, aber auch weltlich informiert und den
Ideen der Aufklärung aufgeschlossen. Sie fördern eine der Herkunft und dem
Herkommen, aber auch den neuen Bildungsidealen und den Interessen des jungen
Sachs gleichermaßen entsprechende geistige Entwicklung. Sachs besucht das
humanistische Gymnasium in Glogau und die Jeschiva, er liest die
griechischen und römischen Klassiker, lernt Hebräisch, Bibel und Talmud und
verfasst hebräische Gedichte. 1827 geht er zum Studium nach Berlin und hört
an der Universität Hegel, vielleicht auch Schleiermacher und Schopenhauer,
vor allem aber lernt er bei dem Begründer der Berliner Altertumskunde,
August Boeckh (1785-1867). Bei ihm erwirbt er neben dem Rüstzeug der
klassischen Philologie eine ganzheitliche Auffassung des Altertums in allen
seinen historischen Bedingungen, literarischen und materiellen Dokumenten,
kulturellen Berührungen und Zusammenhängen. Sachs vertieft sich gleichzeitig
in die jüdische Literatur, liest begeistert Leopold Zunz'
Gottesdienstliche Vorträge der Juden (1832) und arbeitet an einer
literargeschichtlichen Einführung in den Midrasch und die mittelalterliche
hebräische Dichtung sowie einem hebräischen Wörterbuch. Er beschäftigt sich
mit Bibelkritik und Exegese; 1835 erscheint seine radikal das hebräische
Original nachbildende Übersetzung und Kommentierung der Psalmen, mit der er
selbstbewusst und kampfeslustig die führende christliche Psalmenübersetzung
von Wilhelm Martin de Wette in Frage stellt.
Als
Jude trotz Promotion und Lehrbefugnis vom Lehramt an höheren öffentlichen
Schulen ausgeschlossen, sucht Sachs nach einer Stelle als Religionslehrer
und Prediger. Er fristet seine Existenz mit Privatunterricht und
Korrekturarbeiten, bis ihn 1836 der Prager Tempel zum Nachfolger für Leopold
Zunz beruft. Hier entwickelt und erprobt er das Modell eines geregelten,
gemäßigt reformierten Gottesdienstes und entpuppt sich als charismatischer
und kämpferischer Prediger, der nicht nur der Tempelgemeinde, sondern auch
den allsabbatlich in die "Altschul" (an ihrer Stelle wird später die
"Spanische Synagoge" gebaut) ziehenden Christen in einer Art und Weise
jüdisches Selbstverständnis präsentiert, wie man es hier bisher noch nicht
vernommen hat. In Prag vollendet Sachs seine rabbinische Bildung und wird
vom berühmten Oberrabbiner und Mitbegründer der Wissenschaft des Judentums,
Salomon Jehuda Rapoport (SchiR) (1790-1867), ordiniert.
Trotz anerkannter Stellung sehnt sich Sachs nach der Metropole Berlin
zurück, den Freunden, dem intellektuellen Klima und den vielfältigen
Möglichkeiten des gelehrten, literarischen und philosophischen Austauschs.
1844 nimmt er die nach Jahren erfolgloser Bemühungen um eine Modernisierung
des Berliner Rabbinats auf ihn fallende Wahl zum zweiten Rabbinatsassessor
an. Wie in Prag war Sachs auch in Berlin der erste moderne, akademisch
gebildete und promovierte Rabbiner. Er führt hier in die Alte Synagoge in
der Heidereuter Gasse die deutsche Predigt ein und schlägt einen maßvoll
reformierten Gottesdienst vor. Unter seiner Aufsicht werden das
Gemeindeschulwesen und hier besonders der Religionsunterricht mustergültig
modernisiert. Zwanzig Jahre lang war Sachs der geistige und spirituelle
Führer der Berliner Gemeinde, der sie auf einem schwierigen Mittelweg
zwischen Orthodoxie und radikaler Reform führt.
Die
Bedingungen dafür waren denkbar ungünstig. Im Berliner Rabbinat herrschten
unerquickliche Spannungen zwischen Sachs und den beiden älteren orthodoxen
Kollegen R. Jakob Josef Oettinger (1780-1860) und R. Elchanan Rosenstein
(1796-1869), die sich lange Zeit einer zusammenhängenden Reform in den Weg
stellten. Vor allem aber hielt die dem Vorstand subordinierte Stellung den
Rabbiner in einem unwürdigen und machtlosen Zustand. Nach vielen Jahren
zermürbender Auseinandersetzungen um die rabbinische Position schrieben
schließlich die Gemeindestatuten den Autoritätsverlust des Rabbiners fest –
er war neben seiner Tätigkeit im bet din nicht viel mehr als ein
Gutachter, der auf Aufforderung für den Vorstand tätig werden sollte. Aber
auch die Gemeinde war von tätiger Mitbestimmung und –gestaltung
ausgeschlossen, die Macht konzentrierte sich in den Händen des Vorstands.
Unter diesen Bedingungen war jede Initiative des Rabbiners zur Gestaltung
der religiösen Verhältnisse zum Scheitern verurteilt, wenn sein Standpunkt
nicht den Meinungen, dem Geschmack und den Trends, denen die Honoratioren
und Kommerzienräte huldigten, entsprach.
Aber
auch die Wahrung der Einheit der Gemeinde stellte eine schwierige
Gratwanderung dar. Schon Sachs' Wahl provozierte die Gründung der radikalen
Reformgenossenschaft (1845), seine Vorschläge für einen modernisierten
Gottesdienst wurden von orthodoxen Gruppen und den rabbinischen Kollegen
über ein Jahrzehnt lang und unter Abspaltungsdrohungen blockiert.
Schließlich war es 1862 die Entscheidung des Vorstandes für die Orgel im
Gottesdienst der noch im Bau befindlichen Neuen Synagoge, der Sachs vehement
und zwar nicht vorrangig aus halachischen, sondern vor allem aus
historischen, kulturellen und religionsphilosophischen Gründen widersprach,
die diesen Mittelweg beendete. Von der Orthodoxie über ein Jahrzehnt an der
Einführung und Gestaltung einer gemäßigten Reform gehindert, wurde die
mittlere Richtung schließlich vom liberalen Judentum überrollt. Dieses wurde
zur bestimmenden Kraft in Berlin. 1869 brach mit dem Amtsantritt von Abraham
Geiger - Sachs' großer 'Lieblingsgegner' - die Einheit der Gemeinde
auseinander, erst spät erfuhr das 'konservative' Element in der Gemeinde
durch die Berufung von Josef Eschelbacher (1848-1916) wieder eine Stärkung.
Historisch also kann Sachs als gescheitert gelten. Aber ihn und seine
Bedeutung daran zu messen, wird ihm nicht gerecht. Und wie so oft, helfen
nicht die 'harten' Fakten, sondern die subjektiven Faktoren weiter.
Im
Unterschied zu anderen Zeitgenossen stieß der junge Sachs mit seiner
praktizierten Gesetzestreue in den Berliner akademischen und Salonkreisen,
in denen er sich bewegte, nicht auf Unverständnis und Ablehnung, sondern
freundliche Rücksicht. Auf der anderen Seite wurde er Zeuge, wie Dutzende
seiner Altersgenossen, die zu Studium oder Erwerbstätigkeit nach Berlin
gezogen waren und ganze Berliner Familien während der Taufwellen der 1820er
Jahre zum Christentum konvertieren. Bei vielen Reformen, wie dem Abwerfen
der Speise-, Ehe-, Feiertags- und Sabbatgesetze oder dem Verzicht auf die
hebräische Gebetssprache sah Sachs eine Verinnerlichung antijüdischer
Vorwürfe am Werk. Nach dem Besuch einer geselligen christlich-jüdischen
'Tischgesellschaft' beschreibt er seine Zurückhaltung beim gemeinsamen Essen
als einen Liebesdienst, den er dem "bisschen Judentum", das er bewahrt,
beweist und verwendet dafür das antike Bild vom rettenden Tragen durch einen
reißenden Strom. Das schmerzliche Bewusstsein von Gefahr und Mangel evoziert
Liebe und Wille zum Judentum als Ausgangspunkt für die Suche nach einer
geistig wie emotional befriedigenden Motivierung der Gesetzestreue, einer
jüdischen Lebens- und Weltanschauung.
Ähnlich den Reformern und anders als Samson Raphael Hirsch in seinen
Neunzehn Briefen (1836) geht Sachs von den Propheten aus, aber er
versteht ihre Kritik nicht als Negation von Opfer und Vorschrift, von Kult
und Gesetzesbestimmung, sondern als Warnung vor einer Verzerrung der Uridee
des Judentums, die Sachs in der Einheit von Gesetz und Ethik sieht. Die
Propheten wollten die kultischen Vorschriften zu einem Gesetz des Inneren
erheben. Beim suchenden und instinktiv-genialischen Zusammenlesen von Hegel
und Plato mit den hebräischen Propheten erfährt Sachs so etwas wie eine
geistige Erleuchtung. Das objektive und notwendige Gesetz wird durch das dem
Menschen innewohnende göttliche daimonion, das höhere Selbst, in die
Selbsterkenntnis hineingezogen und damit zum "innersten Eigentum", zu einer
inneren Eingebung, zum Instinkt umgestaltet. Das 'höhere Selbst', die
Orientierung am höheren Ursprung der Seele aber ist eine wichtige Figur der
jüdischen Neuplatoniker des spanischen Mittelalters. Sachs, der ihre
Dichtungen studiert, übersetzt und kommentiert, findet sie hier in Form des
poetischen Gesprächs der Seele mit Gott und der Tora, des Menschen mit
seiner Seele wieder. In seinen Predigten nutzt er diese von ihm entdeckte
Übereinstimmung als Modell für seine Neumotivierung der Torafrömmigkeit.
In
der Debatte um das Wesen des Judentums konnte sich Sachs weder einem
Verständnis als Gesetzesreligion, noch als ethischen Monotheismus
anschließen. Er ging von einer existentiellen Erfahrung aus. Lange vor
Martin Buber entdeckt Sachs im Judentum ein dialogisches Prinzip. Die
jüdische Weltanschauung sehe den Menschen in einem ewigen unauflösbaren
Zusammenhang mit Gott, in einem ununterbrochenen Ich und Du, in einem
Dialog. Wie in einem Spiegelsaal weiß man sich stets gesehen, reflektiert.
Das ist das Göttliche, Gott selbst, das Judentum ringsherum. Es lehrt den
Menschen, Gott kennen und sich selbst. Judentum ist die 'höhere
Lebensanschauung', die den Menschen in diesem immer währenden Zusammenhang
und Dialog mit Gott versteht und das große Schrifttum, in dem sich diese
Lebensanschauung "lebendig, kräftig und selbstständig" herausgebildet hat.
Sachs teilte nicht das orthodoxe Dogma von der göttlichen Herkunft der
mündlichen Lehre, sondern ging von deren historischer Entwicklung aus. Aber
er hielt an der Autorität und Verbindlichkeit der Halacha fest. Gleichzeitig
suchte er nach dem 'freien' Element in der jüdischen Tradition und fand es
im aggadischen Schrifttum von den Propheten über den Midrasch bis zur
Gebetsdichtung. In der Auslegungstätigkeit erkennt Sachs das zentrale Muster
und die wichtigste Strategie der Selbstverständigung und
Selbstvergewisserung und das kreative, identitätsstiftende, erneuernde und
immer wieder an seinen Ausgangspunkt zurückführende Potential des Judentums
im Prozess der kulturellen Auseinandersetzung. Sachs ist einer der Ersten
und Wichtigsten, der die Bedeutung des in seiner Zeit weithin unbekannten,
unverstandenen oder verachteten Midrasch für das Judentum erkannte und auf
das literarische und spirituelle Potential der liturgischen Dichtung, die
aus dem Gottesdienst verbannt wurde, ohne literarisch und
religionsphilosophisch gesichtet und erforscht worden zu sein, aufmerksam
machte.
Ein
Meister der deutsch-jüdischen Predigt, lehnte Sachs sich stark an die
rabbinische Auslegung an und integrierte das in der sefardischen
Synagogaldichtung gefundene Modell. Der Prediger ist Psychagoge und
Menschenbildner. Er fordert die Selbstveränderung des Menschen, eine Art
Selbsttherapie durch Ausrichtung am 'höheren' Selbst; er demonstriert in
seiner Auslegung den spirituellen Zusammenhang zwischen Tora- und
Selbsterkenntnis und entfaltet die höhere Lebensanschauung", in der Tora,
'höhere' sittliche Natur des Menschen und die Ausübung der Gebote spirituell
miteinander verbunden sind. Wie die jüdischen Neuplatoniker des spanischen
Mittelalters ordnet Sachs alles der Selbsterkenntnis und -vervollkommnung
unter, der intentionellen Orientierung am höheren Ursprung der Seele und an
den praktisch-ethischen Konsequenzen – an Hand der Tora. Diese Verbindung
von Tora- und Selbsterkenntnis steht der Richtung des Gaon von Vilna (HaGRO
(1720-1797) und der litauischen Musar-Bewegung nahe. Deren Orientierung an
Ethik und Selbsterforschung und –verbesserung war ein paralleler
'konservativer' Versuch der Neuorientierung angesichts großer kultureller
und sozialer Herausforderungen.
Sachs war ein Sozialpraktiker und Seelsorger, der aus den jüdischen Quellen
ein kommunitaristisches Gesellschafts- und Sozialmodell herauslas, in dem
Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete, Begabte und scheinbar weniger
mit Fähigkeiten und Talenten Gesegnete, ganz zu schweigen von Erfolgreichen
und Erfolglosen einander ergänzen, unterstützen und dadurch erst ein
vollgültiges soziales, religiöses und kulturelles Leben ermöglichen. Seine
Gegner auf der radikalen Reformseite verketzerten ihn dafür als Verkünder "communistischer"
Ideen. Für Seelsorge, Hilfe und Beratung in schwierigen Lebenslagen, die
Organisierung von Wohltätigkeit, Geldsammlungen und Hilfe zur Selbsthilfe
verwandte Sachs einen Großteil seiner Arbeits- und Lebenszeit. Er galt auf
Grund seiner glaub- und vorbildhaften, mit Stolz und Freude demonstrierten
Gesetzestreue und seines Einsatzes, seiner Fürsprache und Hilfsbereitschaft
für Andere als Chassid und Zaddiq.
Die
biblische Bedeutung von Gaon - Glanz, Pracht, Majestät – lässt sich
auf die würdevolle und auch Nichtjuden beeindruckende Erscheinung von Sachs
beziehen, seine vielfältigen Beziehungen, seinen gelehrten und geselligen
Verkehr mit den großen Geistern seiner Zeit und die Anerkennung durch sie -
die Brüder Humboldt, Karl August Varnhagen, Friedrich Wilhelm Schelling,
Jakob Grimm. Denn darauf war Berlin allezeit stolz - einen so klassisch
gelehrten und schöngeistigen Mann, einen solch mitreißenden Redner und
Prediger (den "Cicero von Berlin") als Rabbiner aufzuweisen. Der 'Rabbinatsassessor',
dessen Stellung zu Lebzeiten nie aufgewertet und mit Autorität und
Votumsrecht ausgestattet wurde, wird posthum zum Gaon (v)erklärt.
Eine Gestalt wie Sachs verlieh dem Judentum Glanz und Pracht und weckte
Stolz; er verkörperte in diesem Sinne tatsächlich Geon Jaakov (Ps
47,5).
Gaon gadol
jedoch geht darüber hinaus. Gaon bedeutet auch die Hoheit und
Herrlichkeit Gottes (Ex 15, 7; Jes 24, 14), und wir dürfen dies auch auf die
Tora anwenden. Die Hoheit und Herrlichkeit der Lehre des Judentums der
Gegenwart nahe zu bringen, die Gleichgültigen zu wecken, den Unschlüssigen
Orientierung zu geben und die Entfremdeten zurückzuführen, darin erblickte
Sachs seine wichtigste Aufgabe. Und darin war er ein 'Großer'.
Die Verfasserin promovierte über "Rabbiner
Michael Sachs. Judentum als höhere Lebensanschauung", Georg Olms
Verlag: Hildesheim, Zürich, New York 2007.
Anmerkungen:
Der Text ist bewahrt in: Michael Brocke (u. a.): Stein und Name. Die
jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin).
Berlin 1994, S. 136.
So
ist in der Hinzufügung des Ehrentitels auch ein posthumer Gegenschlag gegen
den 1860 gegen Sachs' Protest in der Ehrenreihe des Gemeindefriedhofs
bestatteten Gegenspieler und Rabbiner der Reformgemeinde, Samuel Holdheim
(1806-1860), zu sehen. In dessen Grabinschrift heißt es: "größer als [der
Titel] Rabban ist sein Name" (gadol mi-Rabban schmo). Größer als Rabban
aber ist Gaon. Die Grabinschrift für Sachs' orthodoxen Kollegen,
Jakob Josef Oettinger (1780-1860), "Rabbinatsverweser", Rosch Bet-Din
und Rosch Jeschiva enthält selbstverständlich, aber eben 'nur'
Gaon. Oettinger blockierte seinerzeit Sachs' Vorschläge für eine
gemäßigte Reform. Esriel Hildesheimer wiederum, Rabbiner von Adass
Jisroel und Gründer des berühmten Rabbinerseminars, wird in der
Inschrift zu seinem Grabstein Gaon amiti, also "wahrer Gaon"
genannt. Hieran lassen sich die Vorbehalte der Neuorthodoxie Sachs gegenüber
und erst recht gegenüber der Legitimität des ihm verliehenen Ehrentitels
ablesen, auch wenn Hildesheimer selbst Sachs schätzte. Trotz direkter und
indirekter Kritik hielt die Gemeinde an ihrer Praxis fest. Auch in der
Grabinschrift für den Sohn Immanuel Sachs (1849-1904) auf dem Friedhof in
Weißensee findet sich "Ben ha-Gaon ha-gadol".
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