Zum Tod von Abie Nathan:
Der einsame ReiterUri Avnery
Bei der Beerdigung Abi Nathans sagte ich mir: hier
nimmt das Israel, so wie es ist, Abschied vom Israel, wie es hätte sein
können.
Abschied vom Idealbild eines Staates, von dem wir träumten, als er gegründet
wurde; von einem Staat, in dem moralische Überlegungen die Innen- wie
Außenpolitik beherrschen; von einem Staat, dessen Bürger für ihre Taten und
die Taten des Landes die Verantwortung übernehmen.
Abi Nathan symbolisierte diese Hoffnungen, nicht theoretisch, sondern
praktisch – durch seine eigenen Taten.
Und als Augenzeuge erinnerte ich mich an die "Geburt" dieses Abie.
Es war Ende der 50er-Jahre, und ich war gerade nach ein paar Tagen im
Ausland zurückgekommen. Ich hörte, dass sich in der Tel Aviver Szene etwas
Neues getan hatte: einige Mitglieder des Flugpersonals von El Al hatten
mitten im Zentrum der Stadt ein neues Cafe eröffnet, an der Ecke Dizengoff-
und Frishman-Straße.
Wir liebten das "California", so hieß dieses Café, von Anfang an. Das lag
nicht zuletzt am Gastgeber, einem Piloten namens Abie. Man sagte, er sei im
Iran geboren und in Indien aufgewachsen, habe sich der Britisch-Königlichen
Luftwaffe angeschlossen und habe freiwillig als einer unserer ersten Piloten
am 1948er Krieg teilgenommen.
Abie war damals 33, hatte einen dunklen Teint und ein breites Lächeln. Er
sprach meistens Englisch oder Hebräisch mit einem deutlich englischen
Akzent. Er war ein perfekter Gastgeber, und er wusste, wie er seinen Gästen
das Gefühl geben konnte, sie seien etwas Besonderes, als seien sie seine
persönlichen Freunde. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Ort zum Treffpunkt von
Tel Avivs Bohème – einer Gruppe von Künstlern, Schriftstellern,
Medienleuten, Berühmtheiten und Nachtschwärmern, die Tel Aviv in ein Zentrum
des gesellschaftlichen Lebens des Landes verwandelten. Auch die Politiker
wurden durch die Lebendigkeit dieses Ortes angezogen.
Das Leben des Restaurants drehte sich um ihn: wenn er für ein paar Wochen
nicht da war, verschwanden auch die Kunden. Er wusste , wie man die Leute
verwöhnen kann: er spendierte Getränke und bereitete besondere Gerichte, die
die Leute mochten. Es gab auch Stammtische. (Der Stammtisch, zu dem ich
jeden Freitagabend gehe, stammt aus dieser Zeit - und kommt bis zum heutigen
Tag zusammen).
Der junge Staat jener Tage war optimistisch, aufregend, ein Paradies für
junge Leute. Die neue hebräische Kultur mit ihren Autoren, Dichtern,
Theater- und satirischen Programmen blühte, und die Bohèmes von Tel Aviv
gaben den Ton an. Ihr Organ war "haOlam hazeh", eine radikale Wochenzeitung
gegen das Establishment und deren Chefredakteur ich war.
Eines Tages im Sommer 1965 nahm mich Abie beiseite und fragte mich nach
meiner Meinung. Seine Freunde drängten ihn, er solle sich um einen Sitz in
der Knesset bemühen, sagte er. Ehrlich gesagt, war meine erste Reaktion,
dies sei ein Witz. Aber nach ein paar Tagen wurde mir klar, dass dies
todernst gemeint war. Abie, der die Politiker an seinen Tischen sitzen sah
und ihren Gesprächen zuhörte, fragte sich: Sind sie besser als ich?
Eine kleine Gruppe seiner Restaurantkunden sammelte sich um ihn. Sie waren
Leute, die sich auskannten und sie stachelten ihn an. Was wie ein Spiel
begonnen hatte, sollte weitreichende Konsequenzen haben.
Und ich muss gestehen, dass mich dies ärgerte.
Kurz zuvor hatte die Regierung ein neues Pressegesetz herausgegeben, das
ganz offen darauf abzielte, Haolam Hazeh mundtot zu machen. Das Gesetz
bedrohte jede Zeitung mit drakonischen Strafen, die "Verleumdungen, auf
hebräisch "böse Zunge", veröffentlichen würde. Die Absicht war klar: Jeder
Enthüllungsjournalismus, der der Regierungsangehörigen unbequem werden
konnte, sollte gestoppt werden. Als Reaktion darauf gründete eine Gruppe von
Friedens- und Menschenrechtsaktivisten eine Bewegung, die die radikale Linie
der Zeitschrift repräsentierte: Frieden mit den Palästinensern, Kampf gegen
Korruption, Trennung von Staat und Religion, soziale Solidarität. Sie
nannten sie "Haolam Hazeh – Neue Kraft-Bewegung".
Es war ein gewagtes Unterfangen, denn bis dahin war es keinem gelungen, mit
einer neuen politischen Kraft in die Knesset einzuziehen, die in der
damaligen Zeit ein exklusiver Klub von alt etablierten Parteien und ihren
Splittergruppen war. Unsere Bewegung appellierte an die junge Generation,
die im Lande aufgewachsen war. Abies Liste hätte uns einen Teil dieses
Publikums, dessen Ausmaß unsicher war, wegnehmen können. Das hätte dazu
führen können, dass wir an der Sperrklausel gescheitert wären.
Abies Freunde – unter ihnen einige PR-Leute – schauten nach einem Gag, um
die Aufmerksamkeit auf seine Liste zu ziehen. Sie stießen auf einen Trick
von vor ein paar Jahren. Dwight Eisenhower war gewählt worden, nachdem er
versprochen hatte, "nach Korea zu fliegen", um dort den Krieg zu beenden.
Nun, Abie war Pilot. Warum nicht versprechen, dass er nach Ägypten fliegen
würde, wenn er gewählt würde?
Ägypten war damals der Hauptfeind Israels. Neun Jahre vorher hatte Israel es
in Absprache mit zwei Kolonialmächten, Frankreich und Großbritannien,
angegriffen. Jeder verstand, dass ein Dorthinfliegen ein sehr gefährliches
Unternehmen war.
Abie erwarb ein kleines Flugzeug, strich es weiß an und nannte es "Frieden
eins". Es wurde auf einem leeren Platz in der Nähe des Restaurants
abgestellt. Einer der Freunde komponierte ein eingängiges Liedchen dafür.
Doch der Gag funktionierte nicht. Abies Liste bekam nur 2135 Stimmen, weit
unter dem erforderlichen Minimum. Die Haolam Hazeh-Liste erhielt 1,5% der
Stimmen aus dem ganzen Land – und ich wurde gewählt. Wenn wir die
Unterstützung von Abies Stimmen gehabt hätten, hätten wir einen zweiten Sitz
in der Knesset gewonnen.
Das hätte das Ende der Geschichte sein können – aber mit Abie geschah etwas.
Die Idee, die mit einem Wahlgag begann, hielt ihn fest. Der extrovertierte,
unbekümmerte Restaurantbesitzer, der Liebling der Bohèmiens, begann die
Sache mit dem Frieden sehr ernst zu nehmen.
Ein paar Monate nach den Wahlen, mitten während einer Knessetsitzung,
brachte mir jemand eine alarmierende Nachricht: Abie war auf seinem Weg nach
Ägypten. Er war am Morgen in sein Flugzeug geklettert und abgeflogen. Das
ganze Land hielt den Atem an. Und dann kam der Schock: das Radio verkündete,
dass sein Flugzeug abgeschossen worden sei und dass es unklar sei, ob Abie
überlebt habe.
Die Öffentlichkeit war wie zerstört. Aufgeregte Leute, von denen einige
offen weinten, hingen am Radio. Und dann kam eine andere aufregende
Nachricht. Abie war nicht abgeschossen worden, sondern war sicher in Port
Said gelandet und herzlich vom ägyptischen Gouverneur empfangen worden.
Ein brillanter Dramatiker hätte die Herzen der Menschen nicht wirksamer
kneten können. Die Ägypter hatten Abi zwar nicht mit Gamal Abd-al-Nasser,
den damals schon legendären ägyptischen Führer, zusammentreffen lassen. Aber
sie tankten sein Flugzeug wieder auf und sandten ihn mit allem Respekt nach
Hause.
Keiner, der damals in Israel lebte, wird diesen Tag jemals vergessen können.
Was mich selbst betraf, hörte ich auf, an Abies Ehrlichkeit zu zweifeln. Ich
begann, seine Aktionen in einem neuen Licht zu sehen.
Wir wurden keine Partner, denn Abie hatte keine Partner. Er achtete nicht
auf die Meinung anderer. Er tat alles nach eigenem Gutdünken. Wie der erste
Flug waren all seine Aktionen ganz und gar persönlich: er ergriff die
Initiative, er traf die Entscheidung, er führte sie aus. Er übernahm
persönlich für alles die Verantwortung und nahm die Konsequenzen auf sich.
Aber er hatte ein besonderes Talent, andere mit seiner Begeisterung
anzustecken, sogar für Aufgaben , die unmöglich und zu phantastisch
schienen. Einige von denen, die ihn damals begleiteten, blieben ihm bis zu
seinem letzten Tag treu.
Seine Stärke und seine Schwäche war der Stil des "einsamen Reiters". Er
gründete nie eine Bewegung und schloss sich nie einer an. Nie nahm er ein
politisches Programm an. Dies interessierte ihn nicht. Er erkannte die
Notwendigkeit, eine politische Kraft zu schaffen, die Einfluss auf die
Regierungspolitik gehabt hätte, nicht an. Diese Aufgabe überließ er anderen.
Er war eine Person der Gefühle, und all seine Aktionen sprachen die Gefühle
an.
Das war etwas Neues. Das israelische Friedenslager mit all seinen Fraktionen
appelliert an die Logik. Es versucht, die israelische Öffentlichkeit davon
zu überzeugen, dass für die Existenz, die Zukunft, die Sicherheit und das
Wohlbefinden des Staates Israel der Frieden notwendig sei. Aber Politik ist
eben nicht nur eine Sache der Logik. Emotionen spielen eine bedeutende
Rolle.
Wie ich immer wieder insistiere: in der Politik ist es nicht rational, das
Irrationale zu ignorieren. Abie handelte aus dem Herzen, und so berührte er
das Herz der Leute.
Er hatte noch einen anderen Vorteil: er war ein orientalischer Jude. Das
israelische Friedenslager besteht fast ausschließlich aus Ashkenasim (Juden
europäischen Ursprungs). Bei der jährlichen Gedenkdemonstration mit 100.000
Leuten auf Tel Avivs Rabin-Platz sieht man kaum orientalische Gesichter.
Viele Orientalen glauben, dass die ganze Sache mit dem Frieden wirklich nur
eine Angelegenheit der "ashkenasischen Elite" sei. Und da kommt nun ein Mann
aus Abadan im Iran mit sehr orientalischem Aussehen und spricht "in ihrer
Sprache".
Abie wurde auch ein authentischer orientalischer Held. Man kann darüber
streiten, ob die Bewunderung für den Mann Abie wirklich viele Leute für den
Kampf für Frieden angezogen hat. Aber einige Jahre lang war für diese
Öffentlichkeit das Wort Frieden nicht mehr verpönt.
Über seine Abenteuer ist viel geschrieben worden, und ich muss sie hier
nicht noch einmal aufzählen. Sein Engagement für Frieden wurde weiter und
tiefer. Er verkaufte sein Restaurant und kaufte ein Schiff. Es stand
unbenutzt im Hafen von New York herum, wurde von einer Pier zur anderen
geschoben und rostete dahin, bis er genügend Geld gesammelt hatte, um es
auszurüsten, damit nach Israel zu segeln und darin "Die Stimme des Friedens"
zu etablieren. Es ankerte vor der Küste von Tel Aviv (und an jedem Morgen
fiel jahrelang mein erster Blick von meinem Fenster auf das Schiff). Es
wurde ein Teil des israelischen Lebens.
Auch dies war wieder ein typisches Unternehmen von Abie. Es gab keine
Redaktionsmannschaft, kein klares politisches oder Bildungsprogramm. "Die
Stimme des Friedens" war Abie, und Abie war "die Stimme des Friedens". Eine
große, junge Zuhörerschaft hörte regelmäßig die exzellente Musik dieser
Station, und nebenbei nahm sie Abies Predigten auf Englisch oder in
elementarem Hebräisch mit englischem Akzent auf. Er äußerte seine Gedanken
jederzeit und auf jede Weise, wie ihm gerade zumute war, und fügte
Interviews mit Friedensaktivisten dazwischen. Seine Stimme war jedem Israeli
vertraut. Als die Werbebranche immer stärker durch etablierte Agenturen und
Konzerne bestimmt wurde, die sich weigerten bei ihm Werbespots zu schalten,
ging er fast bankrott. Aus Protest versenkte er das Schiff in einer
feierlichen Zeremonie.
Die ganze Zeit über blieb Abie ein einsamer Mensch. Erst nach seinem Tod
hörte ich, dass er Eltern und Geschwister in Israel hatte und den Kontakt zu
ihnen abgebrochen hatte. Er hatte auch zwei Töchter von zwei verschiedenen
Frauen; aber auch mit ihnen hatte er nur losen Kontakt. Vielleicht machte
ihm sein Charakter und seine stürmische Lebensweise ein Familienleben
unmöglich, und vielleicht lag der Grund auch darin, dass man ihn als Kind in
eine Internatsschule geschickt hatte - und er dies bis zu seinem Lebensende
seinen Eltern nicht vergeben konnte, wie er einem Interviewer einmal sagte.
Er kompensierte seine Einsamkeit, indem er eine Menge Freunde zu großen
Partys einlud, die er bei sich zu Hause gab, und seine Gäste mit exotisch
indischem Essen verwöhnte, das er selbst mit seinem indischen Helfer Rada
stundenlang vorher vorbereitete. Es war 1977 bei einer dieser Partys auf dem
Dach seiner Wohnung, als wir die bittere Nachricht hörten, der Likud sei an
die Macht gekommen.
Nach dem Yom Kippur-Krieg flog er noch einmal nach Ägypten. Diesmal mit
einem normalen Flug. Er hoffte, den ägyptischen Präsidenten zu treffen.
Irgend etwas war bei den Vorbereitungen schief gelaufen. Als er am Flughafen
in Kairo ankam, war niemand da, der ihn empfing. Er ging von sich aus zu
einem Hotel im Zentrum der Stadt. Und als er allein in seinem Zimmer war,
wurde er immer unruhiger, weil er meinte, er könne irrtümlicherweise als
Spion angesehen werden. Verzweifelt rief er Eric Rouleau, einen
französischen Journalisten in Paris mit vielen guten Beziehungen an. Der
kontaktierte seine Freunde in der ägyptischen Regierung. Bald kamen ein paar
Offiziere vom ägyptischen Nachrichtendienst, nahmen Abie zu einer
Stadtrundfahrt mit und setzten ihn wieder in ein Flugzeug nach Hause.
Seine einsamen Aktionen wurden vielfältiger und häufiger. Er begann einen
Hungerstreik gegen die Errichtung der Siedlungen in den besetzten Gebieten
und stellte ein Zelt im Zentrum von Tel Aviv auf. Er wurde zum Ziel für
bekannte Persönlichkeiten, die kamen, um ihm gegenüber ihre Bewunderung
auszudrücken. Nur mit großer Schwierigkeit gelang es, ihn davon zu
überzeugen, damit aufzuhören, bevor ihm nicht wieder gut zu machender
Schaden widerfahren würde.
Er traf sich mit Yassir Arafat, als es absolut verboten war, und – im
Gegensatz zu mir- wurde er dafür zweimal ins Gefängnis gesteckt. Das Gesetz,
nach dem er verurteilt wurde, war unter der Regierung von Shimon Peres
erlassen worden – eine Tatsache, die Peres letzte Woche nicht daran
hinderte, eine bewegende Trauerrede zu halten.
Als während des nigerianischen Bürgerkrieges bekannt wurde, dass die
Menschen in Biafra Hungers stürben, ging Abie hin und organisierte eine
Rettungsaktion. Als eine Hungersnot in Äthiopien ausbrach, stellte er dort
eine Zeltstadt auf und brachte Hilfe. Bei seiner Rückkehr beklagte er sich
bitter über die großen bürokratischen internationalen Hilfsorganisationen,
die so viel Geld verschwendeten und wegen ihrer arroganten Haltung gegenüber
den Einheimischen so wenig Hilfe brachten.
Ein andermal organisierte er ein Kindertreffen, bat die Kinder, ihre
Kriegsspielzeuge abzugeben und gab ihnen im Gegenzug dafür andere. Die
Panzer und Kriegsflugzeuge wurden an Ort und Stelle zerstört. Sein
theatralischer Zug stand bei all diesen Gelegenheiten im Vordergrund.
Zu einer Zeit, als die israelische Regierung mit dem südafrikanischen
Apartheid-Regime zusammenarbeitete, war Abie einer der wenigen Leute im
Lande, die laut gegen diese abscheuliche Politik protestierten.
All diese Aktionen, die seiner phantasiereichen Gesinnung entsprangen,
hatten eines gemeinsam: sie forderten persönlichen Mut, Selbstvertrauen,
Phantasie und die Gabe der Improvisation und vor allem Empathie mit dem
Leiden anderer und dem unbändigen Wunsch zu helfen.
Einmal sagte jemand zu mir: "Aber Abie ist doch verrückt!"
"Besser verrückt nach Frieden, als verrückt nach Krieg!" war meine Antwort.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom
Verfasser autorisiert) The Voice of Peace:
Friedensaktivist Abie Nathan gestorben
Am 27.August 2008 starb Abi Nathan (81)
in Tel Aviv. Der 1927 in Persien Geborene, hatte sich jahrzehntelang für Frieden
und Gerechtigkeit eingesetzt. Bekannt wurde er u.a. durch seinen Flug 1966
nach Kairo. Später wurde vor allem sein Piratensender "The Voice of Peace"
berühmt... |