Die Kleine Anfrage der Linkspartei und die Lepsiusforschung-
Interview mit dem Journalisten und Publizisten Wolfgang Gust
Das Interview führte Toros Sarian,
Herausgeber des ArmenienInfo.net
Frage: Auf Ihre
kritischen Äußerungen über Lepsius, auf denen die meisten Aussagen der
Kleinen Anfrage der Linkspartei fußen, hat sich der Leiter des
Lepsiusarchivs in mehreren Interviews geäußert. Weshalb kritisieren Sie
eigentlich Lepsius?
Antwort: Ich
kritisiere eigentlich weniger Lepsius als die Lepsius-Forschung. Und auch
die nur, soweit sie sich auf den Politiker Johannes Lepsius bezieht, denn
beispielsweise für die theologischen Fragen habe ich gar keine Kompetenz.
Lepsius hat mit seinem Engagement für die Armenier und seine publizistische
Tätigkeit über die Leiden der Armenier auch schon vor dem Völkermord
Hervorragendes geleistet. Das habe ich immer herausgestellt und werde es
auch in Zukunft tun. Die Lepsius-Forschung aber kümmert sich gar nicht um
den Völkermord, sondern will Lepsius zu einem der zwei, drei größten
Deutschen machen. Da muß man sich dann auch den
Politiker Lepsius ansehen, und der kann diesem Anspruch nicht gerecht
werden.
Frage: Professor
Goltz (Gründer des Dr. Johannes-Lepsius-Archiv Halle, Anm.d.R.) stellt
Lepsius auf die gleiche Ebene wie Stauffenberg.
Antwort: Und wie
Dietrich Bonhoeffer. Das ist die reinste Mythenbildung. Nicht nur, daß
Lepsius nicht für Deutschland gestorben ist, er war auch kein
Widerstandskämpfer. Auch vergleicht Prof. Goltz damit die Kaiserzeit mit dem
Nationalsozialismus, wogegen Lepsius Sturm gelaufen wäre.
Frage: Lepsius hat
sich damals gegen den Staat gestellt, indem er offen über das Tabuthema
Völkermord gesprochen hat. Die deutsche Zensur hatte die Versendung seiner
berühmten Schrift über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei
verboten.
Antwort: Sie hat
sie aber nicht verhindert, worüber sich schon der Kirchenhistoriker Uwe
Feigl gewundert hat. Lepsius hatte 20000 Exemplare
drucken lassen und an die Pfarrstellen verschickt sowie an 500 Personen des
öffentlichen Lebens ebenso wie an Abgeordnete des Reichstags und des
württembergischen Landtags. Nur bei diesen 500 kam der Bericht nicht an, die
Pfarrämter erhielten sie, was bei einer rigorosen Zensur ja wohl unmöglich
ist.
Frage: Und warum
war die Zensur so uneffektiv?
Antwort: Da Lepsius
sofort nach der Aktion nach Holland ging, um dort für die deutsche
Auslandspropaganda zu arbeiten, bietet sich als Erklärung an, daß Lepsius
das Lager gewechselt hat und in der Umgebung von Ludendorff andere und
einflußreiche Beschützer und Förderer fand.
Frage: Sie haben
den angeblichen Antisemitismus von Lepsius mit Zitaten belegt, die nach
Professor Goltz aus dem Zusammenhang gerissen seien.
Antwort: Fast alle
Zitate sind logischerweise aus dem Zusammenhang gerissen, denn wer hält
schon einen Vortrag oder schreibt einen Artikel, der nur aus einem einzigen
Satz besteht. Wichtig ist, daß die Zitate in sich schlüssig sind und daß
nicht einschränkende Nebensätze fortgelassen werden. Das ist weder bei dem
von mir publizierte Zitat noch bei einem weiteren in der Kleinen Anfrage der
Fall.
Frage: Professor
Goltz argumentiert, Lepsius habe viele jüdische Verwandte und Freunde
gehabt, darunter den Amerikaner Henry Morgenthau senior.
Antwort: Morgenthau
hat Lepsius im damaligen Konstantinopel mit absoluter Sicherheit nicht als
Jude, sondern als amerikanischer Botschafter empfangen. Und daß er ihn
sympathisch fand ist doch klar, wo er sich andauernd über die vielen
armenierfeindlichen Deutschen dort unten ärgerte. Juden als Verwandte sind
doch kein Argument, das wäre ja Sippenhaft verkehrt.
Frage: Auch sei
Lepsius keineswegs ein Wilhemist gewesen, sagt Herr Goltz.
Antwort: Lepsius
hielt den Kaiser für einen der größten Pazifisten in Deutschland und
verehrte ihn über alles. Aber vielleicht muß man Herrn Goltz sehr wörtlich
nehmen. Lepsius wäre nämlich auch mit einem anderen Hohenzollern
einverstanden gewesen, also auch einem, der nicht Wilhelm hieß. Hauptsache
Deutschland bliebe eine Monarchie und würde keine Demokratie.
Frage: Lepsius habe
sich auch positiv über Marx erklärt, ohne daß jemand auf die Idee käme, er
sei ein Kommunist gewesen zu sein, argumentiert Herr Goltz. Lassen sich so
vielleicht auch die anderen Aussagen von Lepsius relativieren?
Antwort: Als auf
einmal überall die Räte auftraten, hat sich plötzlich manch einer an Marx
erinnert, vielleicht konnte es ja nützlich sein. Mit Sicherheit war Lepsius
kein Kommunist, aber mit der gleichen Sicherheit war er ein sehr
konservativer Zeitgenosse, das liest sich aus vielen Sätzen heraus, die er
geschrieben hat.
Frage: Es habe von
Lepsius keinen systematischen Versuch gegeben, die deutsche Mitschuld am
Völkermord an den Armeniern zu verschleiern, sagt Herr Goltz. Außerdem habe
Lepsius nur mit Kopien gearbeitet.
Antwort: Warum die
Einschränkung mit "systematisch"? Lepsius hat nachweisbar handschriftlich
Änderungen an noch vorhandenen Dokumentenkopien vorgenommen, die in die
gleiche Richtung gingen wie die des Auswärtigen Amts. Wenn ich als
Herausgeber offizieller Akten nur Kopien bekommen, dann muß ich sie doch mit
den Originalen abgleichen, zumindest Stichproben machen. Lepsius hatte
jederzeit Zugang zum Archiv des Auswärtigen Amts. Und dann wäre es eine
hervorragende Aufgabe einer wirklichen Lepsius-Forschung gewesen, diese
Prüfung nachzuholen, wenn der große Meister sie versäumt hat. Aber nicht
Herr Goltz hat sich dieser Aufgabe unterzogen, obgleich ihm alle Mittel zur
Verfügung standen, sondern meine Frau und ich. Wie ich es auch war, der die
Anschuldigungen eines Özgönül gegen Lepsius Punkt für Punkt zurückgewiesen
hat. Um die Verschleierung in den deutschen Dokumenten aufzuzeigen, mache
ich mir vielleicht noch mal die Arbeit, alle Stellen herauszusuchen, in
denen im Lepsiuswerk die deutsche Mitschuld vertuscht worden ist. Das sind
nicht wenige Passagen.
Frage: Die Londoner
"Times" soll seinerzeit die Dokumentation von 1919 rezensiert und
feststellte haben, "daß daraus eine Mitverantwortung Deutschlands am
Völkermord deutlich hervor geht". Daraufhin habe Deutschland auf eine
Publikation der Dokumentation in englischer und französischer Sprache
verzichtet.
Antwort: Die
"Times" war aufgrund der übriggebliebenen nicht veränderten Stellen
deutscher Mitverantwortung zu diesem Schluß gekommen, denn die
Manipulationen konnte sie logischerweise nicht kennen. Die bereits
übersetzten Ausgaben des Werks hatte das Auswärtige Amt zurückgezogen,
nachdem die Dokumentation seinen ursprünglichen Zweck, für die
Friedenskonferenz Deutschland in ein gutes Licht zu stellen, nicht erreicht
hatte.
Frage: In Potsdam
wird ein Lepsiusprojekt fortgeführt werden, dem Sie doch eigentlich
zustimmen müßten: eine umfangreiche Dokumentation des Völkermords an den
Armeniern.
Antwort: Das war
kein Lepsiusprojekt, sondern ein Lepsiusplan, von dem nichts umgesetzt
worden war. Nicht einmal die Kopien seines eigenen Werks hat Lepsius dort
aufbewahrt, sonst könnten wir heute genauer sagen, wer was gefälscht hat.
Lepsius hatte eine Bibliothek mit wichtigen Werken, wie jeder Buchautor, das
war alles. Es ist allerdings keine Frage, daß eine umfangreiche
Dokumentation über den Völkermord mit einem Nachweis- und Kopierdienst für
alle, die seriös am Thema arbeiten, sehr zu begrüßen wäre.
Frage: Genau diese
Arbeit könnte das Lepsiushaus doch leisten.
Antwort: Das
bezweifle ich sehr, denn die Lepsiusforschung erinnert mich mit ihrer
Einseitigkeit mehr an Propaganda. Vor allem aber: Wo bleibt die Erforschung
des Genozids? Die Leute des Lepsiushauses sind dafür nicht qualifiziert.
Frage: Haben Sie
etwas gegen das Lepsiushaus?
Antwort: Lepsius
hat es sehr wohl verdient, daß eine Straße in Potsdam nach ihm benannt
worden ist und auch das Lepsiushaus kann gute Zwecke erfüllten. Nur ist dort
leider nichts von dem geschehen, was dem Auftrag des Bundestags entspricht.
Es steht wirklich nur Lepsius auf der Agenda, wie ein Blick auf die
Internetseite des Hauses zeigt, und nicht der Völkermord, das zentrale
Trauma der Armenier. Der hohe finanzielle Beitrag des Bundestags - der
einzige, den es in Deutschland zu diesem Thema gibt -, wird schlicht
zweckentfremdet.
Frage: Lepsius wird
immerhin in der Bundestagsresolution sehr lobend erwähnt. Ist es dann nicht
logisch, daß über ihn gesprochen wird?
Antwort: Prof.
Goltz hat sich um diese Resolution sehr große Verdienste erworben. Nur als
ich den Wortlaut las, war mir sofort klar, daß mit der Erwähnung von Lepsius
die Tür geöffnet werden soll, ihn in den Vordergrund zu stellen, um
besonders die deutsche Rolle beim Genozid vergessen zu machen. Das ist
sicherlich auch einigen Bundestagsabgeordneten recht und wohl auch der
Bundesregierung, die an einer ernsthaften Forschung der deutschen
Mitverantwortung vielleicht nicht sonderlich interessiert ist.
Frage: Im
Lepsiushaus könnte doch auch kritisch gearbeitet werden, was Herr Goltz
schon angekündigt hat. Ihre Lepsius-kritischen Punkte könnten dann
einbezogen werden.
Antwort: Das sehe
ich schon deshalb nicht, weil es längst hätte geschehen können. Denn meine
kritischen Punkte habe ich schon vor vielen, vielen Jahren Herrn Goltz
mitgeteilt. Ich habe darauf nie eine Antwort von ihm bekommen und an seiner
Forschung hat sich nichts geändert. Und es wird sich auch in Zukunft nichts
ändern, wenn die Kritik der Linkspartei durch einige kosmetische Retuschen
als erledigt betrachtet wird.
Frage: Eines der
Ziele des Bundestags war die Förderung eines armenisch-türkischen Dialogs.
Im Lepsiushaus könnten Deutsch-Armenier mit Deutsch-Türken diskutieren.
Antwort: Als
Begegnungsstätte zwischen Armeniern und Türken ist das Lepsiushaus
ausgesprochen ungeeignet. Wenn ein Dialog zwischen Deutsch-Armeniern und
Deutsch-Türken in Gang kommen soll, was ich sehr begrüßen würde, dann müßten
die dialogbereiten Deutsch-Türken gleich zwei Hürden überspringen: Einmal
müßten sie bereit sein, konstruktiv über den Völkermord zu sprechen, was
ihnen in der Türkei schon übel genommen wird. Und dann auch noch im Haus
eines Mannes, der, um es ganz vorsichtig auszudrücken, den Türken nicht
gerade wohlgesonnen war.
Frage: In der
Anfrage der Linkspartei wird die Kompetenz einer theologischen Fakultät für
diese Fragen angezweifelt. Wie sehen Sie das?
Antwort: Ein
"mittelalterliches Verständnis von Theologie" wirft Prof. Goltz der
Linkspartei vor. Der promovierte Philosoph und Theologe Lepsius habe zu
seinem Verständnis von Theologie gesagt: "Die Philosophie ist für mich die
theoretische Kritik der Wirklichkeit, die Theologie die praktische Kritik
der Wirklichkeit". Wer hier wohl mittelalterlich argumentiert... Natürlich
gehört die Erforschung eines solch ungeheuerlich komplexen Themas wie das
des Völkermords an den Armeniern nicht in eine theologische Fakultät,
sondern in eine historische oder politische. An einer theologischen Fakultät
kann sicherlich der theologische Aspekt und auch die Hilfsarbeit der
christlichen Organisationen untersucht werden, die übrigens vom "Frankfurter
Hülfsbund" intensiver betrieben wurde als von Lepsius.
Frage: Für die
Armenier ist Lepsius fast eine Kultfigur. Zu Unrecht?
Antwort: Meine
Kritik bezieht sich ausschließlich auf den Politiker Lepsius mit seiner sehr
konservativen Haltung in politischen Fragen, von der die Armenier nebenbei
gesagt vermutlich überhaupt nichts wissen und die sie auch kaum
interessieren. Zum Ende seines Lebens hin beklagte sich Lepsius über die
mangelnde Hilfsbereitschaft der Armenier und auch eine gewisse Enttäuschung
über sie ist bei ihm spürbar. Aber das ist doch nicht verwunderlich.
Deutschland hatte schließlich den Krieg verloren und war für die Armenier
weniger wert.
Frage: Viele
Armenier sehen aber in Lepsius auch einen Garanten für eine engagierte
Darstellung des Völkermords und stehen deshalb zum Lepsiushaus. Irren sie
sich da?
Antwort: Was die
Vergangenheit anbelangt, irren sich die Armenier nicht, da hat Lepsius genau
diese Funktion erfüllt. Aber wir sind ein Jahrhundert weiter. Heute werden
die Armenier mit der Erforschung von Lepsius geradezu betrogen, weil dadurch
die Aufklärung des Völkermords in den Hintergrund rückt. Lepsius steht
immerhin für die Vertuschung deutscher Mitverantwortung, nicht für ihre
Aufklärung. Für die Armenier aber wären Erkenntnisse in dieser Frage von
sehr großer Bedeutung. Denn die Bundesrepublik würde als Staat mit einem
westlichen Wertesystem auf armenische Vorstellungen eingehen müssen, was die
Türkei bekanntlich nicht tut. Deshalb irritiert mich, daß viele Armenier
ihre eigenen Interessen nicht sehen und sich durch den Mythos "Lepsius"
verführen lassen.
Frage: Es gibt auch
eine Lepsius-Forschung in der Republik Armenien, wo ein Lepsius-Kongreß
geplant ist.
Antwort: Da ich
kein Armenisch beherrsche, kann ich nichts zur dortigen Forschung sagen. In
der letzten Armenisch-Deutschen Korrespondenz, die deutschsprachig ist, las
ich einen Artikel von einem dortigen Lepsius-Forscher über die Arisierung
der Armenier durch die Lepsius-Mission. Da zwischen dem Autor und der
deutschen Lepsiusforschung eine enge Verbindung besteht, wirft dieser
Artikel auch ein Licht auf die hiesige Forschung. Manchmal sind diese
Irrlichter wirklich besorgniserregend.
Frage: Also Schwamm
über die Lepsiusforschung?
Antwort: Überhaupt
nicht. Lepsius war eine sehr große Persönlichkeit und eine kritische
Lepsiusforschung ist durchaus angebracht. Sie könnte sehr wohl vom
Lepsiushaus betrieben werden, dafür ist dort auch die Kompetenz vorhanden.
Aber es geht nicht, daß das Lepsiushaus die so wichtige Genozidforschung für
sich in Anspruch nimmt, ohne dafür qualifiziert zu sein und die gesamte
staatliche deutsche Förderung des Völkermords an den Armeniern dort landet.
Im Vergleich zum Genozid ist die Person Lepsius dann doch von geringerer
Bedeutung.
Frage: Aber Sie
halten ja offensichtlich selbst die Lepsiusforschung für unzureichend, oder?
Antwort: Was den
Politiker Lepsius anbelangt, ja. Über diesen Politiker Lepsius hat Herr
Prof. Goltz übrigens mit einem Satz eigentlich alles gesagt: "Er war ein
Kind seiner Zeit". Genau so sehe ich es auch. Die politische Anschauung von
Lepsius war so konservativ wie die der meisten Deutschen der intellektuellen
Mitte, die den Gang der Dinge nach Versailles bestimmte. Darum nochmals:
Lepsius hat sich um die Armenier und die Aufklärung des Völkermords sehr
große Verdienste erworben, aber ein großer oder gar einmaliger Deutscher
sieht für mich anders aus.