Islamophobie und
Antisemitismus:
Zwei sehr verschiedene Begriffe und
Problembeschreibungen
Beitrag zur
Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung: "Islamischer Antisemitismus" und "Islamophobie"
am 17. 09. 2008
Von
Staatssekretär a. D. Klaus Faber, Rechtsanwalt
Potsdam, 17. 9. 2008
Zur Entstehung und
Konzeption des Islamophobiebegriffs
Der Begriff "Islamophobie",
weitgehend, aber nicht vollständig inhaltsgleich mit Islamhass,
Islamfeindlichkeit oder Antiislamismus, ist in Situationen entstanden und
definiert worden, in denen häufig ein Vergleich mit dem Aussagehalt des
Antisemitismusbegriffs nahe lag oder ausdrücklich gesehen und gezogen wurde
(vgl. etwa Bunzl, Matti 2008 zu der vom EUMC - European Monitoring Center on
Racism and Xenophobia - behaupteten Analogie von Antisemitismus und
Islamophobie und zu ihrer Abgrenzung; zur besonderen Lage in Frankreich
siehe etwa Silverstein, Paul. A. 2008). Nach der Intention einer nicht
unbeträchtlichen Zahl derjenigen, die diesen Begriff verwenden, soll er
mittelbar oder unmittelbar die Assoziation auslösen, Muslime seien in
Minderheitssituationen z. B. in Europa vergleichbaren oder zumindest
ähnlichen Diskriminierungen oder Verfolgungen wie Juden ausgesetzt (vgl.
Benn 2002, Faber 2006b).
Der Begriff "Islamophobie" will über die älteren Bezeichnungen "Islamhass"
oder "Islamfeindlichkeit" hinaus einen eindeutig negativen Sachverhalt durch
eine abwertende Wortbildung mit einem Pathologie-Beiklang erfassen, die der
wissenschaftlichen Sprache zugeordnet sein soll und tendenziell ähnliche
Bewertungs- und Zuordnungsautorität beansprucht wie der Begriff
"Antisemitismus". Wann und von wem der Begriff zuerst - vermutlich im
englischen oder französischen Sprachraum - eingeführt wurde, lässt sich wohl
nicht mehr feststellen.
Eine Flut von internationalen Konferenzen und Initiativen, u. a. im UN-,
OSZE- oder EU-Rahmen, thematisiert seit einiger Zeit die "Islamophobie"-Frage
(vgl. Bunzl, Matti 2008 zu den EUMC-Initiativen; siehe auch Wahab 2007 zur
Beschlussfassung der Organisation der Islamischen Konferenz - Organization
of the Islamic Conference (OIC) - vom 16. Mai 2007, Bayefsky 2008). Sie wird
neuerdings, offenbar christlichen Anregungen folgend, um diejenige der "Christianophobie"
ergänzt. Eine regionale afrikanische Vorbereitungskonferenz zur "Durban
Review Conference", die im April 2009 in Genf stattfinden soll, hat vor
kurzem (August 2008) die drei Kategorien Antisemitismus, Islamophobie und
Christianophobie in einen Problemzusammenhang gesetzt und dabei die
Notwendigkeit betont, vor allem die Islamophobie zu bekämpfen ("incitement
to religious hatred such as anti-semitism, Christianophobia and more
particularly, Islamophobia", vgl. Bayefsky 2008).
Auch in der deutschen wissenschaftlichen Debatte hat der Begriff "Islamophobie"
Eingang gefunden (siehe etwa Heitmeyer 2005, S. 15, Heitmeyer 2006, S. 21,
S. 135 bis 155; Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
- IKG, Universität Bielefeld 2008). Als Untergruppe der "gruppenbezogenen
Menschenfeindlichkeit", der u. a. Rassismus, Xenophobie und Antisemitismus
zugeordnet werden, soll, so ein Vorschlag, "Islamophobie" eine "generelle
ablehnende Einstellung gegenüber muslimischen Personen und allen
Glaubensrichtungen, Symbolen und religiösen Praktiken des Islams" ausdrücken
(vgl. Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung - IKG,
Universität Bielefeld 2008). Eine andere Formulierung hebt darauf ab, in der
"Islamophobie" die Bezeichnung für "Bedrohungsgefühle und die ablehnenden
Einstellungen gegenüber der Gruppe der Muslime, ihrer Kultur und ihren
öffentlich-politischen wie religiösen Aktivitäten" zu sehen (Heitmeyer 2005,
S. 15, Heitmeyer 2006, S. 21).
Gegen die Begriffskonstruktion "Islamophobie" und ihre Verwendung ist ebenso
deutliche Kritik geäußert worden, sowohl im englischen wie im französischen
und deutschen Sprachraum (vgl. zum englischen und französischen Sprachraum
etwa Benn 2002, Cassen 2005). Häufig, so ein Argument, bezeichneten
konservative oder radikale Muslime ihre Kritiker als "islamophob", um sich
selbst als Opfer darzustellen und die Kritik an ihren religiösen und
politischen Thesen zu delegitimieren (vgl. Burchfield 2007). Die Verwender
des Begriffs hätten oft Angst vor der kritischen Analyse islamischer
Ansprüche und islamischer Praxis, weil ihnen die Ergebnisse nicht zusagten
(Benn 2002).
Man könnte von einer noch allgemeiner ansetzenden Prüfposition aus zudem
fragen, ob die neue Begriffsschöpfung "Christianophobie" in Parallelbildung
zu den für die "Islamophobie" in der deutschen Debatte entwickelten und
bereits geschilderten Kriterien dann vorliegt, wenn eine "generelle
ablehnende Einstellung gegenüber" christlichen "Personen und allen
Glaubensrichtungen, Symbolen und religiösen Praktiken" des Christentums zu
erkennen ist (vgl. zur entsprechenden Formulierung für die "Islamophobie"
Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung - IKG,
Universität Bielefeld 2008). Wer eine derartige Begriffskonstruktion und
-definition für eine (quasi-pathologische) "Christianophobie", etwa im
Interesse der Meinungs- und der negativen Glaubensfreiheit, ablehnt, muss
sich fragen lassen, weshalb im umgekehrten Fall der "Islamophobie" andere
Maßstäbe angelegt und Privilegien eingeräumt werden sollen.
Als Motiv für die geschilderte Ungleichbehandlung von "Islamophobie" und "Christianophobie"
dürfte, wenn man einmal von muslimischen Radikalen absieht, bei denen die
Interessenlage auf der Hand liegt, bei manchen wiederum der Vergleich mit
dem Antisemitismus, vielleicht verbunden mit einer allgemeineren Empathie
für Minderheiten, eine Rolle spielen. Darauf deutet auch die erwähnte
Gruppenbildung für die "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" hin (siehe
etwa Heitmeyer 2005, S. 15, Heitmeyer 2006, S. 21 ff.); bei den dort
erfassten Gruppen mit Religionsbezug tauchen bezeichnenderweise nur das
Judentum und der Islam in den Negationsformen "Antisemitismus" und "Islamophobie"
auf, aber (etwa in der Negationsform "Christianophobie") nicht das
Christentum; man sollte dabei berücksichtigen, dass das Christentum in
manchen islamischen Regionen durchaus als "verfolgt" angesehen werden muss,
wie nicht nur die nach Europa geflohenen Assyrer belegen, und auch bei den
muslimischen Minderheiten in Europa zum Teil auf Vorbehalte treffen kann.
Ebenso wenig werden andere Religionsgruppen einbezogen, etwa die Baha'i, die
wahrscheinlich bei einem Teil der muslimischen Gruppen z. B. aus dem Iran
oder dem Libanon nicht immer beliebt sein dürften.
Diese Erwägungen sollen nicht als Plädoyer für die Einführung und
Verbreitung des "Christianophobie"-Begriffs missverstanden werden. Sie
dienen nur dazu, die (einseitig-parteiliche) Verwendung des alarmistischen "Islamophobie"-Begriffs
zu problematisieren. Beide Begriffe - "Christianophobie" und "Islamophobie"
- assoziieren eine negative, pathologische Qualität; von ihrer Verwendung im
wissenschaftlichen und politischen Sprachgebrauch ist daher eher abzuraten,
soweit nicht entsprechend eindeutig zu qualifizierende Tatbestände
nachzuweisen sind.
Auch zu den für die erwähnte Erhebung entwickelten Einzelkriterien, mit
denen gemessen werden soll, ob und inwieweit "Islamophobie" vorliegt, sind
Fragen zu stellen (vgl. Heitmeyer 2005, S. 23, Heitmeyer 2006, S. 142 bis
144). Ist z. B. die Aussage "Für mich sind die verschiedenen islamischen
Glaubensrichtungen kaum zu unterscheiden." (vgl. vgl. Heitmeyer 2006, S.
143) überhaupt ein Kriterium für die Feststellung von Islamhass oder
quasi-pathologischer "Islamophobie"? Zieht man durch diese und vergleichbare
Fragen die Grenzen für einen Tatbestand, der zur staatlichen und
gesellschaftlichen Intervention führen kann, nicht viel zu weit? Kann man
nicht umgekehrt in gewissem Umfang für entsprechende muslimische
Feststellungen im Verhältnis zu christlichen Konfessionen Verständnis
aufbringen? Könnte und sollte in diesen Fällen etwa umgekehrt von "Christianophobie"
gesprochen werden?
Sind vergleichbare Fragen nicht zumindest für einen Teil der folgenden, für
die Erhebung entwickelten Einzelkriterien ebenso zu stellen: "Die Mehrheit
der Muslime hält große Distanz zur restlichen Bevölkerung." - "Viele Muslime
in Deutschland wollen lieber unter sich bleiben." - "Die islamischen
Terroristen finden starken Rückhalt bei den Muslimen." - "Ich hätte
Probleme, in eine Gegend zu ziehen, in der viele Moslems wohnen." (vgl. zu
diesen Kriterien Heitmeyer 2006, S. 143 f.) ? Gilt Entsprechendes nicht auch
für die Negation zu den folgenden Umfragesätzen, die Islamhass und
Islamophobie belegen soll: "Der Islam hat eine bewundernswerte Kultur
hervorgebracht." oder "Die muslimische Kultur passt durchaus in unsere
westliche Welt." (vgl. Heitmeyer 2006, S. 142) ?
Es geht, um auch hier Missverständnisse auszuschließen, nicht darum, die
entsprechenden Feststellungen aus Befragungen auszuschließen oder etwa den
zitierten Sätzen, soweit sie negativ angelegt sind, zuzustimmen. Klar ist
ebenso, dass durch die hier geschilderte Umfrageweise, wie bei anderen
Erhebungen, eine Annäherung an den festen Kern eines Vorurteilssyndroms
erreicht werden soll. Allerdings ist durchaus die Frage zu stellen, ob und
inwieweit mit den erwähnten Kriterien etwas belegt werden kann, das am Ende
den problematischen Begriff "Islamophobie" rechtfertigt. Man kann für die in
derartigen Umfragen erhobenen Tatbestände auch andere, differenzierende
Bezeichnungen verwenden, die weniger dramatisch, pauschal und
missverständlich angelegt sind.
Entwicklung des
Antisemitismusbegriffs
Wegen des
politischen und historischen Zusammenhangs der Begriffskonstruktion "Islamophobie"
mit dem Begriff des Antisemitismus ist es, wie auch einige der erwähnten
Beispiele und Konstellationen zeigen, zunächst erforderlich, einen kurzen
Blick auf die Entwicklung und Konzeption von "Antisemitismus" zu werfen.
Der von Wilhelm Marr, einem deutschen "linken" "Demokraten" und Judenfeind
(der wegen "communistischer" Umtriebe aus Zürich ausgewiesen worden war), im
19. Jahrhundert eingeführte Antisemitismus-Begriff (Benz 2004, S. 90)
bezieht sich in der sprachpolitischen Praxis bekanntlich nicht auf alle
"Semiten" oder alle semitische Sprachen sprechenden Völker, wie etwa Araber,
Malteser, Äthiopier, Aramäer, Phönizier, Babylonier oder Assyrer. Er meint
nur die Juden und ersetzt damit ältere Bezeichnungen wie "Judenhass", die
für den "aufgeklärten" Diskurs des 19. Jahrhunderts zu sehr mit
christlich-religiösen Vorurteilen verbunden waren und deshalb als
Argumentationsinstrument weniger geeignet erschienen (Faber 2006b).
Der im 19. Jahrhundert zunächst häufig eher mit zustimmenden Reaktionen
assoziierte Antisemitismusbegriff wies aus der Sicht des Erfinders und der
Begriffsnutzer gegenüber älteren religiös gefärbten Bezeichnungen eine Reihe
von Vorteilen auf. Wenn von Semiten die Rede war, konnte die antisemitische
Ablehnung der Juden vom Ansatz her nicht einfach als religiös motiviert
gesehen und damit disqualifiziert werden. Die dem eigenen Anspruch nach
"objektive" Sicht des Antisemiten hob vielmehr auf die Europa und damit
Deutschland angeblich fremde Herkunft und Art des Semitischen ab, die auch
durch Konversion zum areligiösen Freigeist oder selbst zum Christen nicht
ohne weiteres abgelegt werden konnten (Faber 2006b).
Diese Fremdheitsthese soll hier nicht im Einzelnen kritisch gewürdigt oder
widerlegt werden. Einige Bemerkungen mögen genügen, um die grundsätzliche
Fragwürdigkeit der in diesem Zusammenhang verwandten Argumentation mit
Fremdheits-, Bodenständigkeits- oder ähnlichen Zuordnungen anzudeuten. Es
handelt sich dabei um Konstruktionen, die nicht nur mit Blick auf die lange
jüdische, arabische oder auch phönizische Präsenz in Europa historisch
gesehen merkwürdig erscheinen (um einmal die Bedeutung des "Semitischen" im
Sinne der antisemitischen Herkunfts-"Beweisführung" ernst zu nehmen). Das
Wort "Europa" geht auf die gleiche semitische Wurzel wie "Erev", "Maariv"
oder "Maghreb" zurück - Worte mit dem Bedeutungsgehalt "Abend"/"Westen". Die
Europäer bezeichnen sich also selbst, dank der frühen phönizischen
Siedlungspräsenz, mit einem Begriff semitischer Herkunft. Man könnte
derartige Überlegungen weiterführen. In diesen Zusammenhang gehört z. B. ein
Hinweis auf die mögliche Sprachverwandtschaft zwischen den indogermanischen
(oder: indoeuropäischen) und den semito-hamitischen (neuerdings:
afro-asiatischen) Großgruppen sowie darauf, dass die Herkunft der
indogermanischen Sprachen in Europa ursprünglich vielleicht auf eine
außereuropäische Einwanderung zurückzuführen ist (Faber 2006b).
Wie dem Juden im Bild von Luthers Judenhass (Pangritz 2001) haftete auch dem
Bild vom "Semiten" nach der Antisemitismus-Konzeption des 19. Jahrhunderts
etwas Unabänderliches an, das mit seiner Herkunft und Natur verbunden sein
sollte. Dadurch ergab sich, auch bei Luther, eine gewisse Nähe zum späteren
rassistischen Antisemitismus - ohne dass der heutige Rasse-Begriff
eingeführt sein und verwandt werden musste (Faber 2006b).
Antisemitismus ist als eine Ideologie zu definieren, die Parallelen zum
"Rassismus" aufweist und zugleich in ihren historischen Funktionen und
Wirkungsweisen von anderen Rassismusformen – etwa dem Kolonialrassismus – zu
unterscheiden ist. Einerseits lässt sich Antisemitismus analog zu anderen
Diskriminierungshaltungen gegenüber Minderheiten und ‘Anderen' als
Vorurteilskomplex oder als antijüdischer Rassismus verstehen. Damit wird
eine Dimension des Begriffs angesprochen, die in gewissem Umfang
verallgemeinert werden und auch bei anderen Vorurteilspositionen vorliegen
kann, z. B. gegenüber Muslimen, Alewiten (soweit sie nicht dem Islam
zugeordnet werden), Assyrern oder Baha'is. Als Antisemitismus wird in diesem
Sinne seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die kollektive Abwertung von Juden
bezeichnet; sie basiert auf Vorurteilen und Freund-Feind-Bildern bzw.
Fremdzuschreibungen (Marr 1879, Berger Waldenegg 2000; Benz 2004).
Andererseits beruht Antisemitismus auch auf einer spezifischen, Jahrtausende
alten Geschichte einer Diskriminierungspraxis. Sie reicht bis in die
vorrömische und frühchristliche Zeit zurück und ist von über lange Zeit
übermittelten antijüdischen Bildern geprägt; dazu gehören die Vorurteile vom
Christusmörder, vom Ritualmörder, von personifizierter Faulheit, Dekadenz
und Normabweichung, von Hinterlist und Betrug oder von verschworener
Gemeinschaftlichkeit. Diese Diskriminierungspraxis liegt auch dem
beispiellosen Menschheitsverbrechen des Holocaust zugrunde (vgl. Schlör/Schoeps
1996).
Gerade der moderne Antisemitismus, der sich als politische und kulturelle
Ideologie im europäisch-amerikanischen Kulturkreis zusammen mit dem Aufstieg
der bürgerlichen Gesellschaft und der zunehmenden Rechtsgleichstellung von
Juden entwickelte, stellt aber nicht nur einen Vorurteilskomplex dar. Seine
spezifische Qualität ist vielmehr, darüber hinaus eine umfassende Erklärung
der modernen Welt und ihrer komplexen Prozesse zu geben. Er stellt eine
Verschwörungstheorie zur Verfügung, die die unterschiedlichsten
gesellschaftlichen, politischen und sozialen Phänomene mit dem Handeln von
Juden in der modernen Gesellschaft 'erklärt' und in Juden personifiziert.
Dieser Welterklärungsaspekt, wie er ganz aktuell zum Beispiel in der
Hamas-Charta - aber nicht nur dort - breit ausgeführt wird (vgl. Faber/Schoeps/Stawski
2006, S. 399 bis 424), lässt die spezifische, "singuläre" Dimension von
Antisemitismus erkennen. Juden werden danach im Antisemitismus als
spezifische Andere konstruiert, deren bloße Existenz als kleine Minderheit
eine anti-moderne Welterklärung begründet. Diese Minderheit verkörpert nach
der antisemitischen Welterklärung die vermeintlich 'negativen' Seiten der
modernen Gesellschaft (so bereits Marr 1879). Dabei werden Juden häufig als
Gegenbild zu einer nationalen Gemeinschaft, als Gegenbild zur
ethnisch-nationalen Identität gesehen, z. B. historisch in Frankreich und
Deutschland oder, ganz aktuell, im Nahen Osten (Rensmann 1998, 2004 und
2005). In diesen Kontext gehören etwa die dem scheidenden ägyptischen
Botschafter in Tel Aviv zugeschriebene Qualifizierung Israels als
Nicht-Nation (vgl. dazu Yakobson 2008) oder das bereits erwähnte Judenbild
in der Hamas-Charta (vgl. Faber/Schoeps/Stawski 2006, S. 399 bis 424).
Wie unter anderem Bernard Lewis nachweist (Lewis 1999, insbesondere S. 117
bis 139), können, anders als dies etwa der populistische FDP-Politiker
Jürgen Möllemann meinte (vgl. Broder 2002), christliche oder muslimische
Araber durchaus Antisemiten sein (vgl. etwa Faber 2002 und 2006a; zum Fall
Möllemann siehe im Übrigen Funke/Rensmann 2002 sowie die Beiträge in
MöllemannKaufmann/Orlowski 2002). Denn es handelt sich eben um Feindschaft
gegen Juden (nicht gegen andere "semitische" Gemeinschaften), auf welche die
Begriffskonstruktion des Antisemitismus verweist. Antisemitismus als
ideologische Weltdeutung und als Vorurteilsensemble macht nicht vor
bestimmten Ländergrenzen oder Gruppen halt (Faber 2003, 2004; Heitmeyer/Zick
2008; Rensmann/Schoeps 2008). Dies gilt auch für Menschen jüdischer Herkunft
oder für israelische Juden. Antisemitismus ist eine Ideologie und stereotype
soziale Zuschreibungspraxis, vor der Juden nicht 'qua Herkunft' gefeit sind.
Kollektive Fremdzuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft finden vielmehr oft
Entsprechungen in Praktiken der Selbstzuschreibung und gehen in diese über.
Gruppenbezogener Selbsthass ist insofern ein Phänomen, das auch unter Juden
existiert, selbstverständlich aber nicht auf die jüdische Gemeinschaft
beschränkt ist.
Antisemitismus ist, so das Zwischenfazit, aufgrund seiner Jahrtausende
alten, tief verwurzelten kulturellen Verankerung in den Mentalitäten, mit
einem negativen Judenbild, das nicht nur in Grenzfeldern christlicher oder
ursprünglich christlicher Gesellschaften präsent ist, etwas anderes als ein
Unterfall von "Rassismus" oder eine beliebige Art von Religionshass, und
schon gar nicht ein Unterfall von Rechtsradikalismus. Antisemitismus ist bis
weit in die Mitte der Gesellschaft und auch auf Seiten der "Linken" zu
finden, z. B. in der Form des antisemitischen Israelhasses (vgl. dazu
Wistrich 1984, 2004b, Faber 2002 und 2003, Lustiger 2007, Kloke 2007 sowie
die entsprechenden Beiträge in Faber/Schoeps/Stawski 2006; zur neueren
deutschen Debatte siehe auch Ruf 2007 und Gisy 2008; zu den möglichen
negativen Auswirkungen des verbreiteten israelfeindlichen Antisemitismus auf
die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel vgl. Pallade 2005).
Die beschriebene spezifische Dimension von Antisemitismus lässt eine
allgemeine, vorbehaltlose Zuordnung zu der Begriffsbildung der
"gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" fraglich erscheinen (Heitmeyer
2005, S. 15, Heitmeyer 2006, S. 21, S. 135 bis 155) und begründet ebenso
Zweifel gegenüber anderen Gleichstellungen oder Analogiebildungen.
"Islamischer"
Antisemitismus
Auch ein Blick
auf den Antisemitismus in islamischen Gesellschaften ist wegen des
Zusammenhangs mit der Entwicklung des Islamophobie-Begriffs erforderlich.
Vor noch nicht allzu langer Zeit war das Problem "Antisemitismus im Islam"
kein Thema in der deutschen politischen Debatte, weder bezogen auf die
islamischen Staaten noch auf die muslimischen Minderheiten in Europa oder
Deutschland.
Noch immer gibt es, glücklicherweise in abnehmendem Umfang, die alte,
verbreitete Position, muslimischer Antisemitismus in Nahost und Europa sei,
soweit überhaupt vorhanden, im wesentlichen auf den arabisch-israelischen
Konflikt zurückzuführen; er werde daher nach dessen "Lösung", für die vor
allem Israel verantwortlich gemacht werden müsse, bald wieder verschwinden
(vgl. Faber 2005, 2006a). Sind das vor dem Hintergrund der antisemitischen
Agitation in arabischen und iranischen Medien oder Schulbüchern und nach den
Erfahrungen mit dem Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel wirklich
realistische Analysen? Ist es nicht vielmehr umgekehrt so, dass es ohne die
Überwindung des antisemitischen Israelhasses keinen dauerhaften Frieden
zwischen Israel und den arabischen Ländern geben kann?
Die bequeme These von dem Verschwinden der Antisemitismusströmungen nach
einer Lösung des arabisch-israelischen Konflikts ist falsch. Sie blendet
große Teile der Wirklichkeit aus. Die Antisemitismusvarianten im islamischen
und jener im christlich-jüdisch-westlichen Kulturkreis sind nicht erst seit
der islamischen Einwanderung nach Europa – und nicht nur dort –
problematische Verbindungen eingegangen. Hitlerdeutschland hat im Bündnis
mit größeren Teilen der damaligen arabischen Nationalbewegung zur
Verbreitung seines antisemitischen Weltverständnisses im Islam einen
wesentlichen Beitrag geleistet. Der deutsche Schuldabwehr-Antisemitismus,
der etwa in der deutschen Mehrheitsmeinung sichtbar wird, Israels Verhalten
gegenüber den Palästinensern sei mit den nationalsozialistischen Verbrechen
an den Juden vergleichbar, erhält viele Stichworte aus dem
islamisch-arabischen Diskurs (Faber 2006a und 2006b).
Einige Abgrenzungsfragen sind beim Thema "Islam und Antisemitismus" zu
klären (vgl. dazu auch Beck 2006). Die Begriffe "arabischer Antisemitismus"
und "islamischer Antisemitismus" sehen einige als deckungsgleiche Größen –
zu Unrecht. Denn zum arabischen Begriffsbereich gehören auch die arabisch
sprechenden Christen. Deren Antisemitismus unterscheidet sich, trotz aller
unten zu schildernder Angleichungsprozesse, immer noch von demjenigen der
arabischen Muslime, was, umgekehrt, für den Antisemitismus von
nicht-arabischen iranischen oder türkischen Muslimen nicht in gleicher Weise
zutrifft. Islamischer Antisemitismus kommt zudem nicht nur, wie die
genannten Beispiele zeigen, im arabischen Sprachgebiet vor.
Manche behaupten, um einen weiteren Streitpunkt aufzugreifen, "islamischen"
Antisemitismus gebe es deshalb nicht, weil der Islam "als solcher" nicht
antisemitisch sei. Auch diese, von manchen Muslimen und anderen vertretene
Auffassung hält einer näheren Prüfung ebenso wenig stand wie etwa eine
entsprechende These zum "christlichen" Antisemitismus.
Den dem Ursprung nach christlichen, dann säkularisierten Antisemitismus gab
es, selbstverständlich, zunächst im Islam nicht. Einige judenfeindliche
Aussagen im Koran, die auch etwas mit den Vernichtungskämpfen Mohammeds
gegen die jüdischen Stämme in Arabien zu tun haben und nach denen z. B.
Juden wegen religiösen Fehlverhaltens von Gott in Affen und Schweine
verwandelt worden sind (vgl. dazu Carmon 2006), haben einen anderen
Charakter als antisemitische Positionen des 19. Jahrhunderts im christlichen
Kulturkreis.
Am Transfer wichtiger Elemente des europäischen, in der Wurzel christlichen
Antisemitismus in den Islam waren zunächst die orientalischen christlichen
Minderheiten beteiligt (Lewis 1999, S. 132 ff.). In der Folge wurde das
Thema, zum Teil in Anknüpfung an ältere judenfeindliche Tendenzen im Islam,
jedoch ebenso von Muslimen aufgenommen (Lewis 1999, S. 117 ff., 140 ff.). In
den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts spielte, wie das etwa
Bernard Lewis, aber auch andere schildern, die erfolgreiche antisemitische
Propaganda Hitlerdeutschlands eine wichtige Rolle (Lewis 1999, S. 140 ff.).
Im 2. Weltkrieg festigte sich das in diesem Zusammenhang zu erwähnende
Bündnis zwischen dem Jerusalemer Mufti Amin al-Husseini und Deutschland.
Dieser Führer der Araber in Palästina unterstützte das 3. Reich z. B. bei
dem Versuch, dem antibritischen und prodeutschen Aufstand im Irak zum
Durchbruch zu verhelfen. Seine Propagandaaktionen führten zu einer
pogromähnlichen Verfolgung der jüdischen Gemeinde in Bagdad. Mit dem
Territorialkonflikt in Palästina hatten dabei seine Hasstiraden kaum noch
etwas zu tun. Die verbindende Klammer im Verhältnis zu Hitlerdeutschland war
in dieser Hinsicht die gemeinsame antisemitische Überzeugung. Die
Kooperation umfasste auch Pläne für den Völkermord an den Juden Palästinas,
bei dem die palästinensischen Araber eine Rolle spielen sollten (vgl. dazu
Beck 2006, Cüppers/Mallmann 2006, Faber 2006b).
Seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten auch die
stalinistische Führung der Sowjetunion und ebenso die sowjetische Agitation
nach 1967 einen Beitrag zur Verbreitung problematischer, zum Teil offen
antisemitischer Positionen geleistet. Diese im Westen und in der Dritten
Welt in beträchtlichem Umfang erfolgreiche Propaganda hatte einen
bedeutenden Anteil an der Verwischung der Grenzen zwischen Antisemitismus
und Antizionismus sowie an der Delegitimierung des einzigen jüdischen
Staates (dessen Gründung von der Sowjetunion, nicht ohne "antimperialistische"
Nebenabsichten, ursprünglich unterstützt worden war).
Spätestens seit den achtziger Jahren ist zu erkennen, dass – in einer
eigenartigen Wirkungsverbindung von hitlerdeutscher und sowjetischer
antisemitischer Propaganda mit älteren islamischen und national-arabischen
judenfeindlichen Traditionen – der arabisch-jüdische Konflikt auf der Seite
der arabischen oder auch anderer islamischer Länder wie Iran, antisemitisch
grundiert worden ist. Zahlreiche antisemitische Äußerungen, Publikationen
und Positionen – von Buchproduktionen (etwa der auch von Adolf Hitler
geschätzten, klassisch antisemitischen "Protokolle der Weisen von Zion") bis
hin zu Fernsehsendungen – belegen dies (vgl. insbesondere zur frühen
Entwicklung Lewis 1999, S. 117 ff., S. 140 ff., Tibi, Bassam 2003; ansonsten
Faber 2002, 2003 und 2006a, Beck 2006, Carmon 2006). Zu vergleichbaren
Ergebnissen führt auch ein gesonderter Blick etwa auf die ägyptische Debatte
und Medienlandschaft (siehe dazu u. a. Yakobson 2008).
Viele muslimische Immigranten in Europa bringen derartige Auffassungen in
ihre neue Heimat mit. Zum Teil werden die entsprechenden antisemitischen
Vorurteile auch erst in Europa vermittelt, etwa durch Fernsehsender wie die
von Hisbollah mit iranischer Unterstützung betriebene Station Al-Manar, die
über ägyptische und saudiarabische Satelliten auch bei uns empfangen werden
kann. Zwischen den Herkunftsländern der muslimischen Emigration und den
Ausgewanderten gibt es in dieser und in anderen Fragen einen
Kommunikationsprozess. Die Existenz von antisemitischen Auffassungen in der
Einwanderergruppe und in der Mehrheitsgesellschaft bleibt weder der einen
noch der anderen Seite verborgen. Medien der Mehrheitsgesellschaft spielen
bei der Vermittlung von israelfeindlichen bis antisemitischen Meinungen eine
gewisse Rolle (Faber 2003 und 2006a; zur Rolle der Medien vgl. auch Behrens
2003, Jäger, Siegfried/ Jäger, Margarete 2003, Wistrich 2004a sowie die
entsprechenden Beiträge in Faber/Schoeps/Stawski 2006).
"Neuer"
Antisemitismus
In diesem
Zusammenhang ist es für die Debatte wichtig, eine Grenze zwischen der Kritik
an Israels jeweiligen Regierungen (für die Israel selbst z. B. nach dem
letzten Libanonkrieg ein markantes Beispiel gab) und antisemitischen
Positionen zu ziehen. Eine internationale Konferenz jüdischer Gemeinschaften
in Jerusalem 2004, ein darauf beruhender israelischer Diskussionsbeitrag auf
einer OSZE-Konferenz in Berlin (ebenfalls 2004) und andere ähnliche
Erklärungen aus dem Folgejahr, vor allem die EUMC-Begriffsdefinition zum
neuen Antisemitismus (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC)
2005), haben sich mit dieser Frage befasst (Faber 2006a; zum neuen und alten
Antisemitismus vgl. allgemein die Beiträge in Faber/Schoeps/Stawski 2006, in
Rensmann/Schoeps 2008 sowie in Bunzl, John 2008; zur Debatte in
Großbritannien siehe All-Party Parlamentary Group against Antisemitism
(2006), S. 17 f.; zur in diesem Zusammenhang wichtigen Entwicklung im Islam,
siehe Faber 2001a, 2001b, 2005 und 2007). Abgesehen von unbedeutenden
Unterschieden in den Feinheiten besteht dadurch im Grundsatz bei denjenigen,
die auf diesem Gebiet überhaupt konsensfähig sind, weitgehend
Übereinstimmung.
Die Grenze zum ("neuen") Antisemitismus ist danach jedenfalls dann
überschritten, wenn man Israel mit ungleichen Maßstäben kritisiert, die nur
bei ihm und sonst bei keinem anderen Land angelegt werden; wenn man Israel
und den Zionismus dämonisiert, etwa im Sinne von Verschwörungstheorien, die
Israel und die "Zionisten" für die Terroranschläge vom 11. September 2001
(vgl. dazu Jaecker 2004) oder für alle Missstände in der arabischen und
islamischen Welt verantwortlich machen; oder wenn man die Vernichtung
Israels (auch durch die aufgezwungene Bildung eines "binationalen"
Einheitsstaates, vgl. dazu Gisy 2008) fordert (Faber 2006a).
Alle diese Negativkriterien sondern Israel gewissermaßen als – rechtlosen –
Juden unter den Staaten aus (vgl. dazu Klug 2003); man kann sie deshalb auch
insgesamt als Unterfälle des Prinzips der ungerechtfertigten
Ungleichbehandlung ansehen.
Damit sollen nicht etwa die Besonderheiten des Jahrtausende alten, kulturell
tief verankerten Verfolgungsphänomens "Antisemitismus" in Frage gestellt
werden, die, wie dargelegt, seine allgemeine Einordnung in die angeblich
übergreifenden Erscheinungen von Rassismus, Xenophobie oder
Religionsfeindschaft ausschließen. Bei derartigen "Einordnungen" handelt es
sich zumeist um den durchsichtigen Versuch, die historisch nur allzu
deutlich belegte Singularität und Gefährlichkeit von Antisemitismus sowie
dessen damit zusammenhängende negative Bedeutung, auch in der Form des
antisemitischen Israelhasses, zu relativieren (Faber 2006a sowie Bayevsky
2008).
Islamophobie und
Antisemitismus
In diesen
Kontext ist, wie bereits in der Einleitung geschildert, auch die
verhältnismäßig neue Wortschöpfung "Islamophobie" zu stellen, die inzwischen
nicht nur von konservativen islamischen Formationen gerne verwandt wird.
Diese ist, anders als dies politische Erklärungen oder manche Studien nahe
legen, wie ausgeführt, nicht der gleichen Bewertungsstufe wie
"Antisemitismus" zuzuordnen (Faber 2006b, vgl. dazu auch Shavit 2007).
Schon ein erster, oberflächlicher Vergleich zeigt die Unterschiede. Keines
der zahlreichen Herkunftsländer der islamischen Immigration ist von
Vernichtung bedroht. Niemand will Muslime in aller Welt bekämpfen und töten.
Niemand wirft Muslimen vor, sie würden Christen- oder Judenkinder
schlachten, um mit ihrem Blut für religiöse Feiertage Brot zu backen – wie
dies etwa eine Fernsehserie in staatlich kontrollierten Sendern mehrerer
islamischer Länder umgekehrt über Juden behauptet (vgl. Faber 2006b).
Man kann den Islamophobie-Antisemitismus-Vergleich noch weiter zu ziehen:
Welche Verbrechen ein Nationalstaat - ein von einer Mehrheitsnationalität
geprägter Staat - auch immer begangen hat oder begangen haben soll, keinem,
auch keinem muslimischen, wird wegen derartiger tatsächlicher oder nur
behaupteter Verbrechen die Vernichtung angedroht, außer einem Staat, dem
jüdischen Nationalstaat, Israel - nicht aber z. B. einem Land, bei dem es,
was die Vergangenheit anbelangt, gewiss nicht nur um fiktive Verbrechen
geht, wie Deutschland, selbst von Polen, Juden, Tschechen oder Russen nicht,
nicht dem arabischen Nordsudan, nicht der Volksrepublik China, etwa von
Tibetern oder Uiguren, nicht Russland, auch von den Tschetschenen nicht,
nicht Großbritannien, etwa von den Iren, nicht dem arabischen Irak, etwa von
den irakischen Kurden, nur einem Staat: Israel.
Es gibt keinen Islamhass, keine Islamophobie, die dahin geht, Muslime in
aller Welt zu verfolgen, in allen ihren Heimatländern von Bosnien über
Ägypten oder Indonesien bis Deutschland, sie allgemein unter den Verdacht
einer Weltverschwörung zu setzen und schließlich alle, überall, anzugreifen
und auszurotten. Einen derartigen Hass gibt es nur gegenüber einer
Gemeinschaft: der jüdischen und dem jüdischen Staat Israel, und zwar
wiederum verbreitet auch in der islamischen Welt (Faber 2003 und 2005). Es
geht dabei auch nicht um eine Gefahr, die sich ausschließlich oder
überwiegend im Ideologischen bewegt. Amin al-Husseini, der Führer der
arabischen Palästinenser zur Zeit Hitlers, seine Mordanschläge und seine
Völkermordpläne (vgl. dazu Cüppers/Mallmann 2006, Faber 2006b), der
Terroranschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires durch den
Geheimdienst der Islamischen Republik Iran und schließlich der alltägliche
Polizeischutz für jüdische Kindergärten, Schulen, Gemeindezentren und für
Synagogen zeigen für die Vergangenheit und für die Gegenwart eine
anhaltende, reale Gefährdung. Gibt es für Muslime in aller Welt eine auch
nur entfernt vergleichbare Gefahr?
In allen hier genannten Länder-Vergleichsbeispielen, zu erwähnen ist
wiederum die Volksrepublik China oder der arabisch beherrschte Sudan, wird
übrigens das betroffene Land kaum einmal mit Hitlerdeutschland verglichen.
Nur bei einem Land geht dieser Vergleich, auch und gerade in Deutschland,
offenbar, um sich selbst zu entlasten, manchen leicht von der Zunge: bei
Israel (Faber 2002 und 2006a). Leider gilt dies ebenso für beachtliche Teile
der islamischen Welt (Faber 2003 und 2005).
Wer diese Art von "Sonderbehandlung", die Israel im antisemitischen Sinne
sozusagen zum "Juden" unter den Staaten macht (Klug 2003; vgl. Faber 2003
und 2006a), nicht als Unrecht erkennt, insbesondere als Deutscher nicht als
Unrecht erkennt, dafür aber in der Islamophobie eine Hauptgefahr wahrnehmen
will, die in ihrer abstrakten Dimension dem Antisemitismus gleich zu stellen
sei, der bedient, um es zurückhaltend zu formulieren, Vorurteile in der
Problemwahrnehmung. Wer - natürlich zu Recht - Estland, Lettland und Litauen
einen eigenen Nationalstaat zubilligt, auch den Slowaken, Slowenen,
Armeniern, Aserbeidschanern, Georgiern und vielleicht sogar den albanischen
Kosovaren - und wiederum: Deutschland, aber die Legitimation Israels
grundsätzlich in Frage stellt, der misst mit doppelten Maßstäben, der folgt
dem Prinzip der Ungleichbehandlung und Diskriminierung, der ist tendenziell
ein Antisemit (so auch die EUMC-Definition, siehe European Monitoring Centre
on Racism and Xenophobia (EUMC) 2005).
Auch auf einem anderen Feld sollte in diesem Zusammenhang über aktuelle
Bezüge und Antisemitismusfälle gesprochen werden. Hamas ist, u. a. weil in
der Hamas-Charta (Faber/Schoeps/Stawski 2006, S. 399 bis 424) die Juden
einer Weltverschwörung bezichtigt werden, die sie nach Hamas sowohl für die
französische wie die Oktober-Revolution verantwortlich macht, und weil dort
mit religiöser Begründung zur Vernichtung Israels aufgerufen wird, eine
antisemitische und antidemokratische Bewegung. Man darf sich wünschen, dass
das künftig von vielen wahrgenommen und gesagt wird, die sich zu
Nahostfragen äußern und dort handeln. Es gibt keine demokratischen
Antisemiten und keine antisemitischen Demokraten. Eine ähnliche Bewertung
wie für Hamas gilt, was hier wohl nicht auszuführen ist, auch für Hisbollah.
Der Iran ist in gleicher Weise ein antisemitischer und antidemokratischer
Staat.
Für Antisemitismus gibt es ebenso wenig eine Rechtfertigung wie für
Sklaverei oder Terrorismus; auch angenommene oder tatsächliche
"Demütigungen" oder begründete Beschwerden z. B. gegen die israelische
Regierung rechtfertigen keinen Antisemitismus. Für Antisemitismus darf es in
gleicher Weise kein – wie auch immer formuliertes – Verständnis geben, auch
nicht in der häufiger zu hörenden, bereits erwähnten Version, islamischer
Antisemitismus sei im Kontext der Nahostkonflikte zu sehen und zu
"erklären". Wer, wie Möllemann, behauptet, die Juden seien am Antisemitismus
selbst schuld, der verwendet, bewusst oder unbewusst, eine antisemitische
Argumentation (Faber 2006b).
Kritik an islamischen Positionen – etwa gegenüber traditionellen islamischen
Auffassungen zum Geschlechterverhältnis, zu den Menschenrechten, vor allem
zur Glaubensfreiheit, zur Nicht-Trennung von "Religion" und "Politik" oder
insgesamt zur Demokratie – muss demgegenüber, um auch hier die Abgrenzung
vorzunehmen, nicht nur erlaubt sein, sondern ist in mancher Hinsicht
geradezu dringend notwendig. Dies zeigen etwa Kemal Atatürks Reformen seit
den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. Faber 2007), aber auch viele
anderen muslimischen Reformansätze. Die Furcht der nicht-muslimischen
Flüchtlinge aus dem Südsudan vor den sie verfolgenden muslimischen
Regierungsstreitkräften mag in Teilsektoren in eine allgemeine Abneigung
gegenüber Muslimen münden (vergleichbar mit manchen antideutschen
Meinungsströmungen nach dem Zweiten Weltkrieg) – als unverständlich und
gänzlich unerlaubt (oder mit antisemitischen Positionen vergleichbar) wird
man derartige Reaktionen aber kaum bezeichnen können.
Eine dem antisemitischen Verfolgungswahn zum Teil ähnliche
Diskriminierungsposition gegenüber allem Muslimischen und gegenüber dem
Islam wäre – und ist – selbstverständlich ebenso abzulehnen wie
antisemitische Auffassungen. Das gilt auch für bestimmte Varianten von
antimuslimischer Fremdenfeindlichkeit, die zwar nicht im Ganzen, aber in
bestimmten Diskriminierungsaspekten mit dem Antisemitismus vergleichbar sind
(Faber 2006b). Derartige Auffassungen sind aber, um es zu wiederholen, nicht
dem Jahrtausende alten Vorurteilskonstrukt des Antisemitismus gleich zu
stellen und vor allem deutlich von anderen Formen der Islamkritik
abzugrenzen, die ihrer Art nach nichts mit dem
Antisemitismus-Verfolgungsmuster oder, allgemeiner, mit Diskriminierung zu
tun haben.
Leider zeigt, wie dargestellt, der Umgang mit dem Begriff "Islamophobie"
häufig, dass auch notwendige, zulässige oder zumindest verständliche
islamkritische Positionen in den Verbotsbereich der "Islamophobie"
einbezogen werden sollen – was einen derartigen Begriff politisch
unbrauchbar und zum Manipulationswerkzeug für fragwürdige Interessen machen
müsste (vgl. Benn 2002, Faber 2006b, Bayefsky 2008).
Ein besonders drastisches Beispiel für den politischen Missbrauch der dem
Islamophobie-Begriff zugrunde liegenden Parteilichkeit und der dahinter zu
erkennenden allgemeinen Vorurteilsposition gibt die Beschlusspraxis des
UN-Menschenrechtsrats. Dass in diesem Gremium häufig nach politischer
Opportunität über Menschenrechtsfragen entschieden wird, ist bekannt.
Mitglieder der Organisation der Islamischen Konferenz - Organization of the
Islamic Conference (OIC) - werden von dem Rat regelmäßig nicht kritisiert,
was auch für den Sudan gilt, der keine Verurteilung wegen Darfur befürchten
muss.
Im Rat gibt es zudem vor allem von der Organisation der Islamischen
Konferenz - Organization of the Islamic Conference (OIC) (vgl. zu den
Aktivitäten dieser Organisation Wahab 2007) - geförderte Bestrebungen,
Kritik am muslimischen Rechtssystem, insbesondere am Scharia-Recht, und
andere auf den Islam bezogene Kritik als unzulässige Meinungsäußerung mit
religionsfeindlicher Tendenz anzusehen (vgl. dazu Broder 2008). Diese
Vorgehensweise nimmt den Parteilichkeitsgedanken auf, auf dem auch der
Islamophobie-Begriff in weiten Teilen des politischen Sprachgebrauchs
beruht.
Die Gegenüberstellung mit dem Antisemitismus-Begriff zeigt, dass mit der
Islamophobie-Wortschöpfung und mit vergleichbaren Positionen häufig
Realitätsinterpretationen verbunden werden, die nicht zutreffen. Es gab und
gibt integrationspolitische Defizite, auch in Deutschland, in einem gewissen
Umfang ebenso eine Abneigung gegenüber dem islamischen Fremden, auch
problematische Initiativen am rechten Rand, die nicht, wie die NPD,
strategisch für den Islam als "Verbündeten der freien europäischen Völker"
(dann, nach der "Entamerikanisierung", aber eventuell für die "gezielte
Ausländerrückführung") und zugleich antisemitisch agitieren, sondern, wie
etwa die rechtsextreme Bürgerinitiative Pro Köln, sich pointiert
antiislamisch äußern (vgl. zur ambivalenten Islamhaltung der NPD Weiß 2008;
siehe dazu auch Tibi, Bassam 2003; zur rechtsradikalen antiislamischen
Bürgerinitiative Pro Köln vgl. Beucker 2008). Die Vorstellung von einer
allgemeinen Diskriminierung oder gar Verfolgung muslimischer Minderheiten in
europäischen Ländern, von allen im weitesten Sinne islamischen Formationen -
von den Alewiten bis hin zu konservativen türkischen Verbänden - oder von
allen Musliminnen und Muslimen, die mit dem Antisemitismussyndrom
vergleichbar sein sollen, entspricht aber nicht den tatsächlichen
Verhältnissen.
Auf den ersten Plätzen der deutschen Defizit-Rangliste stehen vielleicht
weniger Mängel in der "Anerkennung" "des" Islam, wie einige meinen. Hier
stellen sich nebenbei auch Fragen: Was soll eine "Anerkennung" im Einzelnen
umfassen? Welche islamischen Varianten sind anzuerkennen - und welche nicht?
Und wie steht es z. B. mit der Kritik an bestimmten Teilen der Scharia?
Bezieht sich die Anerkennung auch auf die Alewiten - und zwar unabhängig
davon, ob sie sich selbst als Teil des Islam verstehen oder nicht? Sollte
man - als analoge Forderung - von Staaten mit islamischer
Bevölkerungsmehrheit oder mit islamischer Staatsreligion etwa auch die
"Anerkennung" des Christentums, des Judentums oder der Baha'i-Religion
verlangen?
Wichtiger als eine derartige Anerkennungsfrage sind in jedem Fall
Versäumnisse und daraus abzuleitende Handlungsforderungen etwa im
Bildungswesen, u. a. bei der sprachlichen Integration, bei der gezielten,
exemplarischen Integrationspolitik, z. B. bei der Einstellung in den
Polizei- und den übrigen Verwaltungsdienst, bei der Einbürgerungspolitik,
bei der rechtzeitigen Einführung von Schulangeboten zur religiösen
islamischen Unterrichtung, die verfassungskonform sind und der Integration
zumindest nicht entgegenstehen - und auch in der Förderung sowie beim Schutz
derjenigen Bürgerinnen und Bürger mit islamischem Hintergrund, die sich
gegen Widerstände in den traditionellen Milieus stärker und schneller
integrieren wollen und damit eben nicht der Erdoganschen Position folgen,
der "Assimilation" für ein Menschheitsverbrechen hält (vgl. zur Beurteilung
von Erdogans Position Faber 2007). Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an
das Versagen deutscher Politik beim Umgang mit den Koranschulen, die im
früheren Westdeutschland zu einem beachtlichen Umfang von Organisationen
geführt wurden, die damals in der Türkei verboten waren (Faber 2007).
Der Islamophobie-Begriff ist eine problematische politische Wortschöpfung,
die - gegen alle Realitätsbezüge - in der Tendenz eine mit dem
Antisemitismus vergleichbare globale Diskriminierung von Muslimen behaupten
will. Sie unterstützt oft (zumindest mittelbar), wie auch der politische
Sprachgebrauch islamischer Staaten in den Vereinten Nationen zeigt,
konservative bis reaktionäre, gegen die Modernisierung und Integration
gerichtete Strömungen im Islam (vgl. Benn 2002, Faber 2006b, Bayefsky 2008).
Diese Strömungen werden dabei - unsinnigerweise - häufig undifferenziert
unter denjenigen Schutz gestellt, der mit einem Kampf gegen die "Islamophobie"
erreicht werden soll.
In der OSZE gibt es inzwischen nicht nur einen Beauftragten für die
Antisemitismusbekämpfung (Gert Weiskirchen; vgl. zur OSZE-Arbeit in der
Antisemitismusbekämpfung Weisskirchen 2006), sondern in der Folge u. a. auf
Wunsch islamischer Staaten auch einen Beauftragten für den Kampf gegen
Intoleranz und Diskriminierung von Muslimen. Letzterer - Ömür Orhun - hat
2007 seine Sorge über die nach seiner Auffassung wachsende "Islamophobie" in
der Schweiz ausgedrückt; Muslime hätten verstärkt das Gefühl, in der Schweiz
nicht willkommen zu sein (vgl. swissinfo.ch 2007). Die Ausrichtung zugleich
gegenüber Antisemitismus und "Islamophobie" (die zwar im Titel der
OSZE-Beauftragung nicht auftaucht, aber, wie die Praxis zeigt, dort gemeint
ist und in anderen Organisationen auch ausdrücklich angesprochen wird)
belegt eine unangemessene Äquidistanz zu zwei Aspekten, die nicht auf die
gleiche Ebene gestellt werden dürfen. Die Äquidistanzhaltung beruht
bestenfalls auf der Gutgläubigkeit mancher Debattenteilnehmer und Akteure,
häufig aber auch auf der Neigung, Grundsatzpositionen fahrlässig zugunsten
von Formaleinigungen aufzugeben. Auf dieser Linie wird es am Ende
"konsequent" sein, auch andere Formen von angeblichem oder tatsächlichem
"Religionshass", etwa die "Christianophobie", in die internationale
Beobachtung aufzunehmen. In den Vereinten Nationen, werden dafür zur Zeit in
der Tendenz die Weichen gestellt (Bayefsky 2008). Derartige Entwicklungen
können verschiedene negative Auswirkungen haben; sie relativieren in jedem
Fall die Bedeutung von Antisemitismusströmungen, was von einem beachtlichen
Teil der UN-Akteure auch beabsichtigt sein dürfte.
Demokratische Staaten sollten, so die Schlussfolgerung aus der
Problemschilderung, den problematischen, dem Missbrauch und dem
Missverständnis zugänglichen Begriff "Islamophobie" nicht mehr selbst
unkritisch verwenden und sich gegen eine derartige Verwendung im
internationalen Rahmen durch klarstellende Beiträge wehren. Das gilt auch
für die Akteure in der zivilgesellschaftlichen nationalen und
internationalen Debatte.
Klaus
Faber, Staatssekretär a. D. (Jurastudium, Studium der Volkswirtschaft
und orientalischer Sprachen), Rechtsanwalt und Publizist in Potsdam,
Mitgründer und Kuratoriumsmitglied des Moses Mendelssohn Zentrums für
europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam, Geschäftsführender
Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin,
Brandenburg und Mecklenburg-,Vorpommern e. V., Mitglied im Koordinierungsrat
deutscher Nicht-Regierungsorganisationen gegen Antisemitismus; Mitglied der
Redaktionen der Zeitschriften perspektive 21, Brandenburgische Hefte für
Wissenschaft und Politik, Potsdam, sowie perspektivends, Marburg;
Publikationen zu juristischen, wissenschafts- und bildungspolitischen
Fragen, zur Föderalismus- und EU-Politik, zu Nahost-, Islam- und
Antisemitismusfragen; u.a.:
"Neu-alter
Judenhass - Antisemitismus, arabisch-israelischer Konflikt und europäische
Politik" (Berlin: Verlag Berlin-Brandenburg, 2006, 2. Aufl. 2007,
hg. mit Julius H. Schoeps und Sacha Stawski).
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