Kriegserlebnis einer Kinderkrankenschwester:
Eine Eindrucksschilderung nach mehr als 60
Jahren Von Hildegard
Kramer, Hannover
Quedlinburg. Am Schlossberg.
Bleistiftzeichnung von
©Heide Kramer. August 2000
Nun habe ich mich doch dazu entschlossen, ein mehr als 60 Jahre
zurückliegendes und seither vergrabenes gravierendes Kriegserlebnis
zu Papier zu bringen. Ich beabsichtige damit mein erlebtes Unglück
während meines Aufenthaltes als kriegsverpflichtete
Kinderkrankenschwester in der Harzstadt Quedlinburg zu
dokumentieren.
Ich wurde 1913 in Hannover geboren.
Bevor ich nach Quedlinburg kam, arbeitete ich in Wien. Als die
ersten Bomben auf Hannover fielen, hatte ich Angst um meine in
Hannover ansässigen alten Eltern (mein Vater war schon über 70
Jahre), hinzu kam viel Heimweh. So bat ich Frau Oberin Alba Alberti
im Wiener Rudolfiner-Krankenhaus (es wurde während der NS-Zeit
umbenannt) um eine Versetzung, nicht allzu weit von Hannover
entfernt. So landete ich in Quedlinburg, und man setzte mich in dem
unmittelbar an dem Flüsschen Bode gelegenen Kreiskrankenhaus als
Inhaberin einer Planstelle auf der Säuglingsstation ein. Seinerzeit
nichts Ungewöhnliches, bildete auch dieses Haus in erster Linie
nationalsozialistisch gesinnte ("braune") Elite-Anwärterinnen zu
Krankenschwestern aus. Man trug mir schnell zu, dass meine
Vorgängerin unbedacht ein Zitat ihres Vaters geäußert hatte: "Wir
werden den Endsieg nicht erreichen". Jene junge Schwester, die kurz
vorher noch ihr Examen absolvierte, wurde denunziert und
unverzüglich durch die Oberin (eine ebenfalls äußerst linientreue
Person) nach Masuren an die Ostpreußenfront strafversetzt. Die junge
Frau beging dort Selbstmord.
Wien, Im Rudolfinerkrankenhaus.
Rechts: Hildegard Kramer mit
einer Kollegin. Foto: ©Privat, unbestimmtes Datum, evtl. 1938
oder auch Anfang der vierziger Jahre. Eines Abends, ich war gerade noch im
Spätdienst, brachte mir unvermittelt ein unbekannter Autofahrer eine
russische Zwangsarbeiterin aus einem nahe gelegenen Lager. Die Frau
stand kurz vor der Niederkunft. Ich telefonierte nach Hilfe, doch es
war niemand mehr erreichbar. Während meiner Ausbildung hatte ich
auch theoretische Kenntnisse im Bereich Geburtshilfe erworben, das
bedeutete, dass ich im äußersten Notfall als Hebamme erste Hilfe
leisten durfte. Dieses galt für mich als Notfall, also handelte ich.
Ich entband die Frau von einem gesunden Jungen, er war ihr neuntes
Kind, und alles verlief komplikationslos. Als ich dem Kleinen gerade
mit Streicheleinheiten den ersten Schrei entlockte, betrat unsere
Stationsärztin, eine Chirurgin, den Saal. Sie gratulierte mir zum
ersten Gelingen und sagte leise: "Sie ist eine Jüdin". Die Ärztin
übernahm den Rest der medizinischen Versorgung für die Frau.
Anschließend gelang es uns, Mutter und Kind für drei Tage zu
verstecken. Die Stationsärztin kümmerte sich später noch um die
Entlassung beider.
Der Stations-Hebamme war es jedoch
nicht entgangen, dass ich eine Jüdin entbunden hatte. Sie drohte
fortan mit Verrat bei der Oberin. Die mit aktiv gewesene Ärztin
verfügte in dem Hause über Rang und Namen. Die Hebamme indes war
ohne Zeugen und zudem arbeitsmäßig von der Ärztin sehr abhängig. Ich
bekam fortan jegliche Repressalien der Stations-Hebamme zu spüren.
Sie versteckte jetzt Kinderwäsche und Seife, sodass ich die
Säuglinge nicht baden konnte und verspätet zur Arbeit kam. Wenn ich
aus Zeitmangel mein Mittagessen nicht einnahm (die Schülerinnen
brachten mir in solchen Situationen das Essen auf die Station),
schüttete die diverse Person mein Essen in den Abfalleimer. Es
folgten noch andere Bösartigkeiten.
Der psychische Druck nahm zu, und ich
bekam schweres Nervenfieber. Ich litt nachts höllische
Nervenfieberträume. Aus Sorge, dass ich im Fieber reden könnte,
verabreichte mir die mit mir verbündete Stationsärztin Schlaf- und
Beruhigungsmittel. Vom Fieber endlich genesen, vermittelte mich die
Ärztin auf meinen Wunsch erneut auf meinen Wunsch nach Wien, wo ich
mit der alten Zuneigung empfangen wurde und völlig gesunden konnte.
Dieser Bericht wurde anlässlich eines Projektes
der "Geschichtswerkstatt Hannover" von ©Frau Hildegard Kramer,
Hannover, zur Verfügung gestellt und in der Zeitschrift "Widerstand"
(Heft Nr. 4, 10/2000) publiziert.
Frau Hildegard
Kramer, geb. am 24. April 1913,
gest. am 8. August 2016. Weitere Veröffentlichungen:
© LeMO Kollektives Gedächtnis, Deutsches Historisches Museum Berlin,
Mai 2002.
© Dr. Stefan Wolter "Für die Kranken ist das Beste gerade gut
genug". Klinikum Dorothea Christiane Erxleben Quedlinburg gGmbH. 100
Jahre Standort Ditfurter Weg. Letterado Verlag Quedlinburg, 2007.
© antifa.sfa – Soltau-Fallingbostel-Walsrode. Zeitung gegen Rechts.
Herausgeber: DGB und andere, Mai 2008.
© Heide Kramer, Hannover, Mai 2008. |