Die Armee frisst ihre Kinder:
Israels Streitkräfte
Noch immer ist das Militär das Rückgrat Israels. Fast jeder
Einwohner des Staates hat gedient, doch das Bild der ewig
siegreichen Truppe hat Risse bekommen.
Von Thorsten Schmitz, Tel Aviv
Der junge Soldat in der Altstadt von Hebron hat nichts zu tun. Er
sitzt auf einem Mauervorsprung, kaut Sonnenblumenkerne und spuckt
die Schalen vor sich auf den Boden. Gelangweilt schaut er auf eine
Gruppe religiöser amerikanischer Juden, die lautstark zum Grab
Abrahams gehen, und zwei palästinensische Frauen, die schweigend
Strohkörbe auf ihren Köpfen balancieren.
Als die Stimmen verhallen, hört man Tauben gurren. Das Zentrum von
Hebron ist leblos. Etwa 700 jüdische Siedler leben hier in sechs
Enklaven. Die meisten Palästinenser haben ihre Wohnungen und ihre
Geschäfte in der Altstadt verlassen und sind in den Westteil Hebrons
umgezogen, wo 130.000 Palästinenser leben.
Die jüdischen Siedler werden rund um die Uhr von Soldaten der
israelischen Armee geschützt. Der Junge mit den Sonnenblumenkernen
ist einer von ihnen. Er heißt Doron und will wissen, von wo man
kommt. Er fragt das in einem Ton, der in Verhören verwendet wird.
Plötzlich weicht seine finstere Miene einer kindlichen Neugier und
er redet von Bayern München und von Berlin. Wenn er seinen
Armeedienst in einem Jahr beendet, will er nach Berlin. Dort soll es
die besten Discos geben, hat er gehört.
Soldaten überall
Hinter Doron verschwinden Menschen in Abrahams Familiengrab, vor ihm
überquert ein älterer Palästinenser den Vorplatz. Doron befiehlt ihn
zu sich. Als der alte Mann vor ihm steht, veranlasst der 20 Jahre
alte Doron mit einem Kopfnicken, ohne Worte, dass er sich ausweist.
Mit einer Handbewegung schickt Doron ihn wieder fort. Er müsse alle
palästinensischen Männer kontrollieren, die an Abrahams Grab
vorbeilaufen, sagt er. Es klingt wie eine Entschuldigung. Ob man
Tipps für Berlin habe? Er verlangt die E-Mail-Adresse.
Soldaten sind in den Palästinensergebieten und in Israel
allgegenwärtig. Palästinenser sehen Soldaten in ihren Städten und
Dörfern, an Kontrollpunkten, im Schlafzimmer. Auch in Israel sieht
man sie überall. In Vorortzügen, beim Bäcker, in der Synagoge, am
Strand, in Parks, auf Vespas, vor Einkaufszentren, Restaurants,
Kinos, am Flughafen, auf Familienfesten. Höchstens Touristen wundern
sich, dass man überall Soldaten begegnet.
Fast alle Menschen in Israel absolvieren den Armeedienst, Männer
drei, Frauen zwei Jahre. Bis zur Vollendung des 45.Lebensjahres
müssen Männer außerdem jedes Jahr einmal Reservedienst schieben. Wer
in diesem Land aufwächst, hat keine Scheu vor Waffen.
Itay Lahat weiß bis heute, wie man Maschinengewehre auseinandernimmt
und wieder zusammenfügt. Der 37-jährige Journalist sitzt im
Schneidersitz auf einer Matratze in seiner Wohnung in Tel Aviv,
nippt an einem Salbei-Tee und redet kopfschüttelnd von seiner
Jugend. Schon mit zehn Jahren habe er Waffen in den Händen gehalten
und die Sommermonate in Ferienlagern der Armee verbracht.
Unterordnung mit weichen Knien
Der Vater war 20 Jahre im militärischen Geheimdienst. Die Armee,
sagt Lahat, "war mein zweites Zuhause". Es sei "nur logisch"
gewesen, dass er auch in die Armee gehe. Dennoch sei die Einberufung
ein Schock gewesen: "Du schlitterst von einem System, das du kennst,
in ein völlig kafkaeskes." Das Anbrüllen und das ständige
Heraufbeschwören von Gefahren habe ihn irritiert.
Lahat sagt heute, das Fundament der Armee sei die Erkenntnis, dass
es nie wieder zu einem Holocaust kommen dürfe. "Aber mit 18", sagt
er, "bist du zu naiv, um das zu verstehen. Du ordnest dich unter,
stehst mit weichen Knien im Westjordanland und musst Palästinenser
kontrollieren."
Einmal nahmen er und seine Kameraden Palästinenser fest, die Steine
geworfen hatten. "Schlagt sie!", habe der Kommandeur verlangt. Doch
Itay Lahat weigerte sich und verließ die Armee. Sie sei wichtig,
sagt er heute. Israel müsse sich wehren können, etwa wenn Iran
angreift. "Aber wir brauchen keine Armee, um jüdische Siedler zu
schützen."
Israels Armee wurde vor 60 Jahren, am 31. Mai 1948, gegründet. Ihr
hebräischer Name lautet "Tzahal", was "Armee zum Schutze Israels"
bedeutet. Sie ging aus den jüdischen Untergrundbewegungen Palmach
und Hagana hervor, die gegen die britische Mandatsmacht im damaligen
Palästina gekämpft hatten.
Bis heute ist die Armee das Rückgrat Israels. In Schulen werden alle
Kriege durchgenommen, Offiziere werben für eine Berufslaufbahn,
einmal im Jahr, am Erinnerungstag, steht das öffentliche Leben für
zwei Minuten still, und bei landesweitem Sirenenalarm wird der etwa
20.000 bisher getöteten israelischen Soldaten gedacht.
Selbst in Mathematik-Büchern tauchen Fragen aus der Welt der Armee
auf. Sie ist ein Hochzeitsmarkt, in der Ehen angebahnt werden, und
Karriereleiter für das Leben als Zivilist. Je höher die Position in
der Armee, desto besser die späteren Berufsaussichten im Alltag.
Der am höchsten dekorierte Soldat Israels ist heute
Verteidigungsminister: Ehud Barak. Mit markigen Worten beschwört er
die Kraft seiner Truppen: "Wir leben in einer gnadenlosen
Nachbarschaft, die kein Mitleid für Schwache kennt und keine zweite
Chance für die, die sich nicht verteidigen."
Zu Baraks kämpferischen Worten gesellen sich in jüngster Zeit immer
öfter leisere Töne. Seit ein paar Jahren wird man in Israel nicht
mehr nur mit starken und siegenden Soldaten konfrontiert, sondern
mit wütenden und weinenden. Das sei kein Wunder, sagt Tal Segev,
denn die Armee "besteht ja hauptsächlich aus unreifen
Halbwüchsigen".
Scharfschützen und Kinderblicke
Segev hat sich mit seiner Wut über die Armee an die Organisation
"Das Schweigen brechen" gewandt. Die Gruppe ehemaliger Soldaten
besteht seit vier Jahren. Sie macht Führungen durch das besetzte
Hebron und organisiert Ausstellungen mit Fotos und Interviews von
Soldaten, die über den Alltag als Besatzer erzählen.
Tal Segev ist 27 Jahre alt und arbeitet als Manager in einem
Restaurant in Jerusalem. Er sitzt auf der Terrasse, weil man hier
rauchen darf. Sein Handy klingelt ständig, bis er es ausstellt.
Segev spricht so schnell von seinem Alltag als Soldat in der
Palästinenserstadt Dschenin, als fiele mit jedem Atemzug eine Last
von ihm. Wochenlang patrouillierte er in einem Jeep im Frühjahr 2003
durch die engen Gassen des Flüchtlingslagers.
"Ein Albtraum", sagt er. Er habe sich vor Scharfschützen gefürchtet,
aber auch "vor den Blicken der Kinder, wenn wir in Wohnungen
eingedrungen sind und Terroristen gesucht haben". Bis heute kann er
die Bilder eines getöteten Jungen nicht loswerden.
Der Junge habe sich dem Jeep genähert, sein Vorgesetzter habe ihn
"mit einem Schuss" getötet. Das Kind sei unbewaffnet gewesen. Seit
dem Armeedienst ist Segev in therapeutischer Behandlung. Nachts
wacht er manchmal schweißgebadet auf, träumt von Flüchtlingslagern
und palästinensischen Kindern.
"Die Armee raubt uns unsere Unschuld", sagt Segev. Er hat es sich
zur Mission gemacht, die Kehrseite der Besatzung zu zeigen: "Wir
sagen der Gesellschaft: Wenn ihr Besatzung wollt, dann sollt ihr
auch wissen, wie sie ausschaut." Und was sie verursacht: "Gewalt und
Intoleranz bleiben nicht in den besetzten Gebieten. Wir tragen sie
mit uns an den Strand und ins Büro."
Dienstbereitschaft schwindet
Die Armee ist das Lebenselixier, aus dem das offizielle Israel bis
heute seinen Stolz schöpft. In sieben Kriegen hat sie den jüdischen
Staat verteidigt. Ohne die Armee gäbe es Israel nicht. 170.000
Soldaten gehören ihr an und 450.000 Reservisten. Pro Kopf gerechnet
verfügt sie über einen der größten Wehretats der Welt, vor zwei
Jahren betrug ihr Budget fast zehn Milliarden US-Dollar.
Seit dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 hat die Armee jedoch außer
dem Schutz Israels eine weitere Aufgabe übernommen: die Kontrolle
der palästinensischen Zivilbevölkerung. Die Besatzung. 60 Jahre nach
der Staatsgründung kontrolliert Israel mit seinen sieben Millionen
Einwohnern mehr als vier Millionen Palästinenser.
Jahrzehntelang haben die 18-jährigen Jungen und Mädchen ohne Murren
ihren Armeedienst in den Palästinensergebieten absolviert. Seit ein
paar Jahren jedoch bröckelt die Einheitsfront. Nicht mehr alle
Soldaten von heute sind wie ihre Eltern bereit, für ihr Land zu
sterben.
Aus dem Libanon kamen vor zwei Jahren Tausende Soldaten zurück, die
im zivilen Leben als Zahnärzte, Anwälte oder Computerfachexperten
arbeiten und keinen Krieg mehr wollen. Die Lust auf die Armee hat
nachgelassen. 1990 ließen sich noch 90 Prozent aller 18-Jährigen
einziehen, inzwischen nur noch 55 Prozent, die anderen lassen sich
krankschreiben. Die Armee frisst ihre Kinder.
Die Soldaten, die das Schweigen brechen, finden auch Gehör in den
etablierten Medien. Jonathan Geffen ist einer der bekanntesten
Kolumnisten, er schreibt für das Massenblatt Jediot Achronot, das im
Zweifelsfall zur Armee hält. Eines Tages begann er seine Kolumne mit
dem schlichten Satz: "Manchmal landet in der E-Mailbox eine
Nachricht, die man nicht ignorieren darf." Er meinte damit eine
Nachricht der Gruppe "Das Schweigen brechen".
Geffen erzählt, er konnte sich an diesem Tag auf nichts mehr
konzentrieren. Gebannt las er die Zeugenaussagen von Soldaten, "die
üblicherweise nicht über das reden, was sie in den
Palästinensergebieten erlebt haben". Spontan entschied er, die
O-Töne unkommentiert zu drucken.
Haarsträubende Berichte
Haarsträubende Berichte von überforderten jungen Soldaten,
Interpretationen von desillusionierten Soldaten ("Was mich am
meisten verwirrt, ist, wie wenig das Leben eines Menschen wert ist
in den Palästinensergebieten"), Einblicke in seltsame Befehle
("Unser Schießbefehl lautete 2 bis 4, das heißt, auf jeden, der sich
zwischen zwei und vier Uhr morgens in Nablus auf der Straße
aufhielt, sollte geschossen werden").
Nach der Veröffentlichung lief Geffens E-Mailbox über. Hunderte
Soldaten schrieben von ihren Erfahrungen. Es waren Berichte, wie sie
die Pressesprecher aus dem Verteidigungsministerium und der Armee
nie verbreiten. Es war "die dunkle Seite" der Armee, sagt Geffen.
Diese Seite hat auch die Filmemacherin Tamar Jarom beleuchtet.
Vier Jahre hat sie an ihrem bestürzenden Dokumentarfilm "Um zu
sehen, ob ich lächele" gearbeitet. Jarom, 34, lässt in ihrem Film
sechs ehemalige israelische Soldatinnen sprechen. Sie sagt, die
Geschichten der Soldatinnen seien nicht neu: "Wir alle wissen, was
in den besetzten Gebieten passiert." Neu sei allerdings, dass in
Israel öffentlich am Mythos der Armee gekratzt werde.
Von Meital etwa. Im Film spricht sie leise und schaut sich mit
Widerwillen Fotos aus ihrer Armeezeit an. Zu Beginn sei sie
enthusiastisch gewesen und in die Luft gesprungen, als sie hörte,
dass sie in Hebron als Sanitäterin stationiert sein würde.
Traumatisierte Soldatinnen
Sie erinnert sich an den ersten Einsatz, Verletzte retten inmitten
eines Feuergefechts: "Über unseren Köpfen flogen die Kugeln, und wir
mussten verletzte Soldaten bergen. Ich war im Schock. Als wir in
unsere Ambulanz zurückkehrten, beglückwünschte mich mein
Vorgesetzter und bestellte für uns alle Pizza."
Meital studiert heute Psychologie in Köln. Als sie entlassen wurde,
trank sie monatelang und schlief tagsüber bis mittags. Nachts
träumte sie vom absurden Alltag in der Sanitätsstation. Wenn ein
Palästinenser getötet wurde, musste der Körper vor der Rückgabe an
die Autonomiebehörde gewaschen werden.
Auch das war Meitals Job. Eines
Tages ließ sie sich von einer Kollegin neben der Leiche eines
Palästinensers fotografieren, der, obwohl tot, eine Erektion hatte.
Sie habe zwar gewusst, dass das Posieren neben einem Toten nicht
normal ist: "Aber die ganze Besatzung ist ja nicht normal."
Vor kurzem wurde Tamar Jarom zu einem Gespräch mit
Parlamentsabgeordneten in die Knesset nach Jerusalem eingeladen. Sie
hatte Angst, dass man ihren Film falsch versteht. Tatsächlich
berieten die Abgeordneten darüber, wie man den traumatisierten
Soldatinnen helfen könne. Dann unterbrach Tamar Jarom die
Abgeordneten und widersprach: "Man muss die Armee für Soldatinnen
nicht angenehmer gestalten, sondern die Besatzung beenden!"
Die Kinder rebellieren gegen ihre armeegläubigen Eltern, in gewisser
Weise auch Michal Zamir. In ihrem jüngsten Roman beschreibt die
43-jährige Schriftstellerin die Armee als Hurenhaus. "Mädchenschiff"
heißt das Buch. Protagonistin ist eine junge Rekrutin, die sich
jedem sexhungrigen Mann an den Hals wirft und während ihrer
Armeezeit fünfmal abtreiben lässt.
Der wütende Vater
"Früher war die Armee heilig. Man durfte kein böses Wort über sie
verlieren oder man wurde sofort als Vaterlandsverräter gegeißelt",
sagt Zamir an einem Vormittag in ihrer Dachgeschosswohnung in Tel
Aviv. "Dass in der Armee viel gevögelt wird, ist aber allen bekannt.
Doch zum ersten Mal erzählt eine Frau davon, das ist neu."
So neu, dass sie sich vor der Reaktion ihres eigenen Vaters Zvi
Zamir gefürchtet hatte, der Armee-General und Mossad-Chef während
des Anschlags auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen
Spielen in München gewesen war.
Der Vater tobte und brach den Kontakt ab. Er sah die Armee
beschmutzt, seine Tochter habe sich ein Bild zurechtphantasiert.
Inzwischen habe er sich "beruhigt", sagt sie. Er habe eingesehen,
"dass der Mythos von der perfekten Armee bröckelt".
Ein paar Tage nach der Begegnung in Hebron schreibt Doron, der
Soldat mit den Sonnenblumenkernen, eine E-Mail. Er sei gerade zu
Hause bei den Eltern, er habe frei übers Wochenende. Er fragt nach
Tipps, wo man in Berlin im Sommer eine Wohnung mieten könne für ein
paar Monate. Man könne sich ja mal auf einen Kaffee treffen: "Ohne
die Uniform bin ich ein ganz anderer Mensch."
(SZ vom 24.04.2008/gal/odg)
Ressort: Ausland,
URL:
http://www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/502/171001 |