60 Jahre Israel:
Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel
Vortrag von Gregor
Gysi auf einer Veranstaltung »60 Jahre Israel« der
Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Israel begeht in diesem Jahr den 60. Jahrestag
seiner Existenz. Wenn in Deutschland auf diesen Jahrestag Bezug
genommen wird, dann ist dieser Anlass nicht nur ein Grund für
Feierlichkeiten, sondern auch des Gedenkens.
Parallel zu den Feierlichkeiten Israels ist dieses Jahr zugleich der
75. Jahrstag der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der
damalige Beginn der Verfolgung und Diskriminierung der Jüdinnen und
Juden, angefangen mit den Nürnberger Rassegesetzen, die in Pogromen
und schließlich in die systematische, fabrikmäßige Ermordung von 6
Millionen europäischer Jüdinnen und Juden mündete.
Schon diese beiden Daten weisen auf die besonderen Beziehungen
Deutschlands und somit auch auf die besondere Haltung der deutschen
Linken zum Staat Israel hin.
Und um Letztere geht es in meinem Beitrag, denn die Haltung der
Linken zu Israel ist keineswegs so eindeutig, wie es auf den ersten
Blick erscheint. Es besteht also durchaus Klärungsbedarf in der
Linken, auch in der Partei DIE LINKE, zu dem ich an dieser Stelle
beitragen möchte.
1. Was wir von Clausewitz über Krieg und Frieden lernen können
Ich darf mich hier zu einem Thema äußern, dass wohl nicht nur mir am
Herzen liegt. Dieses Thema „Die Linke und der Staat Israel“ ist mehr
als nur facettenreich. Im Rahmen einer Rede – die natürlich keine
Studie ist – kann diesbezüglich kaum etwas anderes geleistet werden,
als Dinge zu unterschlagen, die andere für absolut relevant halten,
und wahrscheinlich tun sie das auch zu Recht.
Mich interessieren aber die politischen Diskussionen über Israel,
weil ich meine, dort Verhärtungen sehen zu können, die erstens
niemandem weiterhelfen und die zweitens von problemorientiertem
Handeln ablenken. Insbesondere letzteres ist für das Projekt DIE
LINKE nicht produktiv.
Die folgende Überlegung ist dem Begriff des Krieges gewidmet. Denn
immer, wenn Linke sich zum Staat Israel äußern, müssen sie auch
Stellung nehmen zu den Kriegen, an denen Israel beteiligt ist. Über
Israel sprechen und die stetige Präsenz seiner Vorgeschichte und
Geschichte, ist eben auch eine Gewaltgeschichte, die nicht
ausgeblendet werden darf.
Dazu möchte ich einige Anleihen bei Clausewitz machen, und zwar aus
zwei Gründen:
- Anstatt eine Konfliktpartei als einsamen
Akteur mit eindeutig festgelegten Präferenzen aufzufassen, muss
ein realistisches Bild des Krieges den hohen Grad an Komplexität
eines gewaltsamen Konflikts erfassen. Alles andere wäre naiv.
- Es erstaunt mich in diesem Kontext ein wenig,
dass Clausewitz’ Philosophie des Krieges, die ja durch Marx,
Engels, später auch durch Luxemburg und Lenin rezipiert und in
ihr jeweiliges Denken integriert worden ist, bei bestimmten
Konfliktbeurteilungen für die Linke keine Rolle zu spielen
scheint. Wie beim Nahostkonflikt. Gerade bei dem
israelisch-arabischen Konflikt habe ich den Eindruck, dass
unsere Konfliktbeurteilungen in einem Gut-Böse-Schema
implodieren. Auch die Marxistinnen und Marxisten, auf die wir
uns sonst immer noch gern beziehen, hätten dafür allenfalls ein
– überhaupt nur wenig mildes – Lächeln übrig gehabt.
Für diese Tendenz zur einseitigen Parteinahme, bevor
Konfliktbeschreibungen stattfinden, gibt es eine Reihe von Gründen.
Antiimperialistische Theorien, die die Politik Israels als die eines
aggressiven Imperialismus interpretieren und kritisieren. Dann ein
eher freundliches Bild vom demokratischen Israel, das den Kontrast
zu den wesentlich autoritär geprägten Nachbargesellschaften
plastisch darstellt. Schließlich die Einfühlung in das Leiden
insbesondere der palästinensischen Bevölkerung, und die Kritik an
den Demokratiedefiziten Israels, die durch den Krieg gewiss nicht
behoben werden, sich im Gegenteil durch ihn vertiefen. Dann muss
leidenschaftlich Einspruch erhoben werden gegen die Tendenz, die
Opfer des Terrors in der israelischen Gesellschaft aus dem
Bewusstsein zu drängen; aber auch das ideologische Pendant zur
antiimperialistischen Kritik, die so genannten „Antideutschen“,
deren Hauptfeind ein sich unkenntlich machender Antisemitismus ist.
Dieses bunte Durcheinander an Motiven bildet dann schon so etwas wie
den matten Abglanz der Kompliziertheit einer Konfliktbeschreibung.
Ich meine, gemessen an der marxistischen Tradition, die man sicher
auch kritisch sehen muss, offenbart das Verhalten einiger Mitglieder
der LINKEN zu Israel und seinen Konflikten eine theoretische
Regression.
Der moderne Begriff des Krieges, der bei Clausewitz seine volle
Ausformung erhielt, bestimmt den Krieg bekanntlich als Fortsetzung
der Politik mit anderen Mitteln. Der Krieg ist somit nicht der
Gegenbegriff zur Politik. Das Politische am Krieg ist tatsächlich
die Fortexistenz eines politischen Zwecks. Der Zweck des Krieges ist
ein scheinbar doppelter: erstens den Feind zu schwächen, um ihn so
einem Friedensabschluss geneigter zu stimmen (deswegen ist jeder
Krieg vermeintlich eine „Friedensmission“), zweitens die Bedingungen
zu verbessern, unter denen die in den Krieg führenden Zwecke
verwirklicht werden können.
Da an einem Krieg aber mindestens zwei Parteien beteiligt sind, ist
diese doppelte Zwecksetzung jeder Partei in irgendeiner Weise zu
unterstellen. Das trifft nicht nur auf den klassischen Krieg zu, wie
er zwischen Staaten geführt wird, sondern auch auf den
„asymmetrischen“ Krieg, wie er zwischen einem Staat und Formationen,
die keiner Staatlichkeit zugerechnet werden können, geführt wird.
Nahezu alle, die über Israel und den Nahostkonflikt sprechen,
bekennen sich zum eher utopischen Zustand des gerechten Friedens. Es
ist aber nicht immer so klar, worin der bestehen soll, unklar ist
häufig schon, was Frieden sein soll.
Es ist vielleicht hilfreich, einige Anforderungen an einen
Friedenszustand zu stellen.
- Ein Friedenszustand muss sich dadurch
auszeichnen, dass er kooperative Rationalität aufweist. Eine
Kosten-Nutzen-Rechnung muss zeigen können, dass jeder andere
Zustand für mindestens eine der Parteien zu einem schlechteren
Ergebnis führt als der Friedenszustand. Es muss also ein
kooperatives Optimum existieren.
- Falls eine Kosten-Nutzen-Rechnung zeigen
sollte, dass mindestens eine Konfliktpartei ein einseitiges
Maximum erzielen könnte, das für diese Partei „besser“ wäre als
das kooperative Optimum, letzteres also mit einem
„Kooperationsopfer“ belastet wäre, entstünde kein stabiler
Zustand.
Es gibt daher mindestens drei mögliche Zustände. Im
ersten Fall gibt es kein Optimum. Im zweiten Fall gibt es zwar das
Optimum, es ist aber nicht stabil, im dritten Fall gibt es das
Optimum und es kann stabilisiert werden. Im Rahmen dieser
Fallunterscheidung spricht manches dafür, dass der Konflikt im Nahen
Osten unter den ersten, gelegentlich den zweiten Fall eingeordnet
werden kann.
Nur der letztere Zustand sollte aber als echter Friedenszustand
angesehen werden.
Aber dieses Bild, das ich hier zeichnete, leidet unter, wenn ich
mich so paradox äußern darf, einem exzessiven Rationalismus. Auch
Clausewitz würde mich dessen belehren. Das instrumentalistische Bild
des Krieges, seine Deutung als politisches Werkzeug ist bei ihm das
eine.
Er fällt so, wie Clausewitz sagen würde, dem bloßen Verstand anheim.
Der Krieg hat aber auch ein Moment, das befremdlich feingeistige
Menschen bewogen hat, ihn zu den Künsten zu zählen – der Begriff der
Kriegskunst ist aus der Antike bis in die Frühmoderne überliefert.
Clausewitz geht hier auf das Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des
Zufalls ein, das den Krieg einer freien Seelentätigkeit ähnlich
macht. Aber dieses Moment ist deshalb von Bedeutung, weil aufgrund
dieser Wahrscheinlichkeiten sich die rationalen Kriegsziele ändern
können.
Schließlich ist da noch jenes Element, das das eben skizzierte Bild
so scheinbar weltfremd macht: Hass und Feindschaft, die Clausewitz
als blinden Naturtrieb zu kennzeichnen versucht.
Heute würden wir wohl von Ideologie sprechen. Um die Bevölkerung in
einen Krieg zu führen, müssen die Kriegsziele als etwas darstellbar
sein, was die ganze Bevölkerung angeht. Emotionen müssen
mobilisiert, euphorische Zustimmung ermöglicht werden. Der Ausbruch
aus dem zivilisierten Alltag in die praktisch nicht zu hemmende
Brutalität des Kriegs ist zwar immer möglich, wenn es das von Freud
so genannte Unbehagen an der Kultur geben sollte. Aber diese Hürden
müssen auch erst einmal genommen werden.
Obwohl diese drei Momente – die Rationalität des politischen Zwecks,
die Elastizität des Taktischen bei der Verfolgung der
Militärstrategie und die Irrationalität der ideologischen
Mobilmachung ineinander greifen, haben sie auch die Tendenz zur
Verselbständigung gegeneinander.
Die Entfesselung eines Hurra-Patriotismus vermag auch einmal
hinderlich dafür zu sein, rational gebotene Zurücknahme von
Kriegszielen durchzusetzen. Und der „spielerische“ Eigensinn
militärischer Strategieplanung und –umsetzung befindet sich auch im
latenten Dauerkonflikt mit Stimmungslagen und politischen
Zielsetzungen.
Das sind alles nur Andeutungen, die aber zeigen, wie kompliziert ein
realistisches Bild vom Konflikt sein kann. Vereinfachungen sind da
wirklich kein Beitrag.
Der größte Fehler wäre es wohl, hier allzu grob Schneisen schlagen
zu wollen. Die meine Überlegungen leitende Frage dabei ist die Frage
der politischen Handlungsfähigkeit der LINKEN. Hier wie sonst gilt
wohl ein Primat des Praktischen vor der Theorie. Entscheidend ist:
Wie lässt sich politische Konsistenz herstellen, ohne der Versuchung
zu erliegen, wieder zum groben Keil der unzulässigen Vereinfachung
zu greifen? Es ist daher sicher nahe liegend, wenn ich schon vor
Vereinfachungen warne, einige Orte der Vereinfachungen zu benennen.
2. Über die Tauglichkeit antiimperialistischer Theorien in
Bezug auf Israel
Die Versuchung zur Vereinfachung ist immer da, und sie ist auch
nicht unverständlich. Sobald wir politisch handeln, bedürfen wir
eines Orientierungsrahmens, der natürlich an bestimmten Punkten
immer vereinfacht, dessen begriffliche Artikulation dann aber auch
mit einem Wissensanspruch auftritt. Wenn dieser Wissensanspruch dann
aber in Konflikt gerät mit Normen wissenschaftlicher Rationalität,
ist auch die Versuchung da, den Wissensanspruch durch
Ideologisierung zu verteidigen.
Besonders hartnäckig sind dann solche Orientierungsrahmen, die durch
eine lange Tradition fast schon geheiligt sind. Ich möchte das nur
anhand einer solchen Tradition verdeutlichen: der Tradition des
Antiimperialismus. Die Einsprüche liegen natürlich auf der Hand,
nicht zuletzt der: Warum nicht noch eine andere Tradition, eine
konträre etwa. Die Antwort darauf ist: Die Gegenkonzepte zum
Antiimperialismus sind nicht ehrwürdig. Deswegen würdige ich sie
nicht, erwähne sie höchstens im Vorbeigehen.
Der Begriff des Imperialismus ist vor allem in marxistischen
Diskussionszusammenhängen erörtert worden. Gegen Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts haben marxistische Theoretiker den Versuch
unternommen, die sich verstärkenden Tendenzen einer aggressiven
Außenpolitik der führenden kapitalistischen Nationen vor dem
Hintergrund tief greifender ökonomischer Veränderungen innerhalb der
kapitalistischen Produktionsweise zu erklären.
Die ökonomische Basis des Imperialismus war aus Sicht des damaligen
marxistischen Denkens in der Rolle der Kolonien als Absatzmarkt und
Rohstoffquelle zu lokalisieren. Insbesondere die schon bei Marx
selbst angelegte Deutung der Monopolisierungstendenz des Kapitals
als „Reaktion“ auf den tendenziellen Fall der Profitrate sollte
plausibel machen, dass der moderne bürgerliche Staat auf die
Konzentration ökonomischer Macht in den Monopolen mit immer größerer
„Empfänglichkeit“ für die politischen Interessen nach Sicherung der
Absatzmärkte und Rohstoffquellen reagierte.
Es lag daher durchaus in der Logik der marxistischen
Revolutionstheorie, die ja zu einem guten Teil auf einer
ökonomischen Krisentheorie basierte, die politische Form der
Durchsetzung kapitalistischer Reproduktionsimperative, eben den
Imperialismus, zu bekämpfen.
Der Antiimperialismus sollte die ökonomische Dauerkrise des
Kapitalismus in eine politische Krise transformieren und den
Sozialismus auf die Tagesordnung setzen. Insofern ist der
Antiimperialismus die damals aktuelle Form des Kampfes um den
Sozialismus gewesen.
Spätestens aber mit dem Eintritt der kapitalistischen Entwicklung in
die „fordistische“ Phase hat die Bedeutung der Kolonie als
Absatzmarkt nachgelassen, da gerade der Binnenmarkt in seiner
Bedeutung für die kapitalistische Akkumulation zugenommen hatte. Das
hat dann auch die Dekolonialisierung enorm beschleunigt.
Die ehemaligen Kolonien behielten freilich eine wichtige ökonomische
Funktion bei: die des Lieferanten von Rohstoffen. Eine Zeit lang gab
es im Marxismus dafür auch den nicht ganz unzutreffenden Terminus
des „Neokolonialismus“. Die ehemaligen Kolonien wurden und werden –
aufgrund ungleicher terms of trade – in einer ökonomischen
Abhängigkeit von den entwickelten Nationen gehalten.
Der Unterschied zum Kolonialsystem ist allerdings der, dass die
politischen und ökonomischen Eliten dieser ehemaligen Kolonien,
obwohl als Staat konstituiert, häufig ein eigenes Interesse an
dieser neokolonialen Situation haben. Rückblickend kann man sagen,
dass die Hoffnungen auf soziale Emanzipation, die mit der
Dekolonialisierung verbunden waren, sich wohl kaum erfüllt haben
dürften.
Stellt man das in Rechnung, dann muss wohl eingeräumt werden, dass
die antikapitalistischen Motive, die die linken Sympathien für die
Nationalen Befreiungsbewegungen getragen haben, sich nicht selten
als bloße Ideologie, als ein falsches Bewusstsein, entpuppt haben.
Die praktische Wirklichkeit der erfolgreichen Nationalen
Befreiungsbewegungen belehrt häufig recht eindringlich, dass durch
die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus die innige
Verklammerung von Antiimperialismus und Sozialismus aufgelöst worden
ist.
Die Veränderungen jetzt in Lateinamerika bestehen kaum im nationalen
Befreiungskampf durch entsprechende Bewegungen. Das alles sagt
übrigens nichts gegen nationale Befreiungsbewegungen, sondern nur
etwas gegen die damit verbundenen Illusionen unserer Linken, die
glaubten, dass diese Bewegungen auch die soziale Frage lösten.
Nun würde ich aber eine zweite Komponente im Begriff des
Antiimperialismus nicht unterschätzen wollen. Mit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs und der Herausbildung des sowjetisch dominierten
Staatssozialismus überformte der Ost-West-Konflikt das gesamte
System internationaler Beziehungen. Dieser Konflikt erscheint zum
einen als „Kalter Krieg“, also stets als ein an der Grenze zur
kriegerischen Eskalation sich bewegender Nicht-Krieg, er erscheint
aber auch als blutiger Konflikt in Gestalt zahlloser
Stellvertreterkriege, „linker“ und „rechter“ Umstürze usw.
Insbesondere junge Staaten, die gerade erst in den Genuss der
politischen Unabhängigkeit kamen, wurden faktisch vor die
Entscheidung gestellt, welcher Weltmacht sie ihre Zukunft
anvertrauen sollten. Denn materielle Ressourcen zum Aufbau eigener
staatlicher Institutionen gab es nicht für umsonst. In dieser
Konstellation zeigten sich interessante Modifikationen im Begriff
der Nationalen Befreiungsbewegung und des Antiimperialismus:
Aus sowjetischer Sicht war „Nationale Befreiungsbewegung“ ein
Gütesiegel. Nur diejenigen antikolonialen Bewegungen bekamen
allerdings dieses Gütesiegel zugestanden, die ein Bündnis mit der
Sowjetunion eingingen. Der Antiimperialismus (und
„antiimperialistisch“ sollen die „Nationalen Befreiungsbewegungen“
ja auf jeden Fall sein) wird so des einstigen politökonomischen
Kontextes enthoben und machtpolitisch auf die Ausrichtung innerhalb
des Ost-West-Konflikts bezogen.
Gerade aufgrund des Zusammenspiels der Veränderungen in der
ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus einerseits und der
Betonung der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen den
Blöcken andererseits tritt im Begriff des Antiimperialismus die
Komponente des Sozialismus allmählich hinter die machtpolitische
Komponente – Kampf gegen die USA und ihre Verbündeten – zurück.
Heute, nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus, fehlt dem
Begriff des Antiimperialismus die machttheoretische Komponente –
nachdem der politökonomischen Ursprungskomponente vorher schon die
sachliche Substanz entzogen wurde.
Zusammenfassend würde ich also behaupten wollen, dass der einstige
Antiimperialismus in linken Diskursen, falls er es je konnte, nicht
mehr sinnvoll platziert werden kann, obwohl die Kriege gegen Irak,
Afghanistan und andere imperiale Ziele verfolgen.
Vereinfachend kann man sie imperialistisch nennen, muss aber wissen,
dass zwar Abhängigkeiten, aber keine neuen Kolonien angestrebt
werden und auch nicht entstehen.
Der Begriff des Imperialismus trifft aber auf Israel auf jeden Fall
nicht zu.
3. Antiimperialismus und Antizionismus
Antiimperialismus und Antizionismus treten nun nicht zufällig in
Mischverhältnisse. Als „Antiimperialismus“ noch den
sozialistisch-revolutionär motivierten Kern aufwies, konnte da nicht
viel vermischt werden. In dem Augenblick aber, in dem die
machtpolitische Komponente des Antiimperialismusbegriffs in den
Vordergrund trat und der Staat Israel sich im Rahmen der
Ost-West-Konfrontation an der Seite der USA einfand, war scheinbar
folgerichtig, dass auch Israel als imperialistischer Staat
interpretiert wurde.
Da die Sowjetunion ihrerseits sich im Nahen Osten andere Verbündete
suchte, kam es natürlich auch zum Ideologie-Export dorthin. Die
sowjetische Parteinahme im Konflikt der palästinensisch-arabischen
Bevölkerung und diverser arabischer Staaten mit Israel konnte so als
Parteinahme im antiimperialistischen Kampf interpretiert werden.
Dadurch wurde der Antizionismus, das heißt der Kampf gegen den
jüdischen Staat, aus der Perspektive der Sowjetunion immer auch
schon vom Verdacht des Antisemitismus befreit.
Das sagt aber nichts darüber aus, ob bzw. wie weit antisemitische
Einstellungen den arabischen Antizionismus prägen. Wenn die Linke
heute die einstige Apriori-Sympathieverteilung beibehalten wollte,
etwa aus einer Idee des alle verbindenden antiimperialistischen
Kampfes heraus, dann wäre einiges klärungsbedürftig:
- Was heißt heute „Antiimperialismus“?
- Wenn Bewegungen wie die Hisbollah oder die
Hamas als „antiimperialistisch“ gelten sollen und die
antiimperialistische Apriori-Sympathieverteilung als gültig
unterstellt wird: Verfolgen die genannten Bewegungen irgendein
Ziel, das wir aus unseren politischen Überzeugungen heraus nicht
teilen können? Falls ja, sollte das nicht ein Grund sein, die
Apriori-Sympathieverteilung aufzugeben und stattdessen eine
konkrete Konfliktbeurteilung vorzunehmen?
- Sind konkrete Konfliktbeurteilungen ohnehin
nicht hilfreicher für politische Stellungnahmen zu Konflikten
als abstrakte Vorentscheidungen?
Um es kurz zu machen: Ich sehe keine Möglichkeit,
konkrete Konfliktbeurteilungen mit abstrakten Vorentscheidungen auf
irgendeine rational akzeptable Weise verträglich zu gestalten.
Ich würde stattdessen ganz dezidiert darauf bestehen wollen, dass
alte linke Vorlieben, immer schon im Voraus genau zu wissen, wer
prinzipiell der Gute und wer ebenso prinzipiell der Böse ist,
endlich hinter uns gelassen werden müssen. Vielmehr sollte uns
ausschließlich interessieren, wie Konfliktsituationen so bearbeitet
und in stabilere Zustände geführt werden können, dass der Weg der
militärischen Auseinandersetzung nicht bzw. nicht wieder beschritten
wird.
4. Über die deutsche Staatsräson
Die gesicherte Existenz Israels wurde von Bundeskanzlerin Angela
Merkel in ihrer – recht einseitigen - Rede in der Knesset als
„Staatsräson“ bezeichnet. Einige Jahre zuvor stellte der ehemalige
deutsche Botschafter in Israel, Rudolph Dressler, klar – ich
zitiere:
„Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse
Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson“ (1).
Die Linke neigt zur Unterschätzung dessen, was man „Staatsräson“
nennt. Schon allein der Umstand, dass dieser Begriff von vielen dem
Spektrum konservativen Staatsdenkens zugeordnet wird, deutet darauf
hin, dass hier etwas unterschätzt wird, das eben nicht einfach eine
konservative Marotte ist.
Sicher wird bei der bloßen Nennung des Ausdrucks „Staatsräson“
sofort die zynische Sentenz assoziiert, die Friedrich dem Zweiten
zugeschrieben wird: Räsonieren könnt ihr so viel ihr wollt, aber
gehorchen müsst ihr.
Ich sollte hier explizit machen, wie ich den Ausdruck „Staatsräson“
verstehe. Danach möchte ich mich dazu äußern, inwiefern sich auch
DIE LINKE darum kümmern muss, was in Deutschland Staatsräson ist und
wie sie damit umgehen sollte. Darüber hinaus möchte ich mich der
Frage widmen, ob es denn überhaupt der Fall ist, dass die
Solidarität mit Israel deutsche Staatsräson ist. Schließlich möchte
ich dann etwas dazu sagen, was es denn aus meiner Sicht für DIE
LINKE bedeutete, wenn die Solidarität mit Israel den Status einer
Staatsräson innehätte.
Ich halte den Gebrauch des Ausdrucks Staatsräson schon für statthaft
– einfach als Anerkennung dessen, dass es Vorrangregelungen in der
Abwägung von Rechtsgütern gibt, die beeindruckt sind von den
tatsächlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen in einer
Gesellschaft.
Aber da es immer auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind, die
innerhalb von Rechts- und Staatsordnungen institutionell geronnen
sind, ist ein kritischer Gebrauch des Begriffs der Staatsräson
angebracht. An den Stellen, wo „Gemeinwohl“ nicht hinreichend
überzeugen kann, müssen Moral oder andere praktische Einsichten die
legitimierende Rolle spielen.
Um es an zwei instruktiven Beispielen zu verdeutlichen: Das
Grundrecht auf Schutz des Eigentums kann eingeschränkt werden und
wird auch eingeschränkt. Das fängt schon mit der Besteuerung von
Einkommen an, reicht über die Möglichkeit der Enteignung (mit
Entschädigungsleistung) und gipfelt in der möglichen
Nationalisierung. Dagegen kann die grundgesetzliche Einschränkung
des Demokratieprinzips nicht mehr so einfach durch materielle
Reproduktionsinteressen des Gemeinwesens gerechtfertigt werden;
vielmehr wählen die Verfassungsinterpretinnen und -interpreten hier
gern den Weg der narratio: die Lehren aus dem Untergang der Weimarer
Republik hätten gezeigt, dass das Demokratieprinzip um der Erhaltung
der Demokratie wegen eingeschränkt werden müsse. Ich will das jetzt
nicht inhaltlich kommentieren. Es zeigt nur, dass die Begrenzung
selbst fundamentaler Verfassungsprinzipien nicht unbedingt den
Rekurs auf das „Gemeinwohl“ erforderlich macht, sondern sich anderer
Ressourcen, wie etwa einem historischen Lernprozess, bedienen kann.
Manchmal dienen auch stabile Rahmenbedingungen internationaler
Beziehungen dazu, etwas in den Stand der Staatsräson zu erhöhen.
Dazu hat einmal die vermeintliche Unverbrüchlichkeit der
transatlantischen Beziehungen gehört. Das galt unter den Bedingungen
von Kaltem Krieg und eingeschränkter außenpolitischer Souveränität
der Bundesrepublik. Beide Bedingungen sind weggefallen. Seither wird
die Unverbrüchlichkeit der transatlantischen Beziehungen zwar immer
wieder aufs Neue beschworen, aber das skeptische Bewusstsein sickert
ein, dass „unverbrüchlich“ ja doch eben kein exaktes Synonym zu
„unzerbrechlich“ ist.
Unter genau diesem Gesichtspunkt muss sich DIE LINKE damit befassen,
was Staatsräson in unserer Demokratie im Einzelnen bedeutet. Wo sich
die Staatsräson als vernünftig und akzeptabel darstellt, wo sich
etwas verschieben oder aufgeben lässt, wo sie einfach hingenommen
werden muss. Und all dies muss ernsthaft diskutiert werden, damit
wirklich klar wird, was es für uns tatsächlich bedeutete, etwa in
einer Bundesregierung mitzuwirken. Steht das, wo sich ein Akzent
verschieben ließe, in einem akzeptablen Verhältnis zu dem, was wir
nicht verändern können, was wir schlucken müssten?
Hier ist der Grat zwischen politischem Realismus und prinzipienlosem
Opportunismus ganz besonders schmal. Aber völlig falsch wäre es,
diesem Problem einfach auszuweichen.
Was hat das nun alles mit dem Staat Israel zu tun? Ich gebe zu, Sie
mit einer so genannten „rhetorischen Frage“ zu überfallen, wirkt
gerade unter Gesichtspunkten des schönen Stils eher hemdsärmlig; ich
muss weiterhin zugeben, mit dem Staat Israel selbst hat das bisher
gesagte offenbar auch nichts zu tun.
Aber das Verhältnis Deutschlands zum Staat Israel kann mit dem
Stichwort „Solidarität mit Israel“ gekennzeichnet werden und hat
auch den Status einer Staatsräson. In diesem Zusammenhang stellen
sich sofort drei Fragen: Warum ist das so? Welche
Legitimationsstrategie wird dabei verfolgt? Wie sollte sich DIE
LINKE dazu verhalten?
Die Fragen nach dem Warum und nach der Legitimationsstrategie lassen
sich an dieser Stelle natürlich nicht umfassend beantworten. Es
müssen ein paar Stichworte genügen. Mit der Antwort auf das Warum
möchte ich mich – wenn schon fragmentarisch, dann auch einseitig –
auf die Machtinteressen in der internationalen Politik beschränken.
Der Staat Israel hätte den Akt seiner Ausrufung nicht lange
überlebt, wenn er nicht durch die Supermächte USA und Sowjetunion
umgehend anerkannt worden wäre und – anfangs insbesondere aufgrund
der von vielen vergessenen sowjetischen und tschechoslowakischen
Militärhilfe – sofortige militärische Unterstützung erfahren hätte.
Schon weil Israel unmittelbar nach seiner Gründung von sechs Staaten
– Ägypten, Syrien, Irak, Libanon, Saudi-Arabien und Jordanien –
angegriffen wurde, wurde dieser neue Staat für die USA und für die
Sowjetunion interessant.
Egal, auf welche Seite man sich stellt, dabei sein ist alles. Das
ist unter Machterweiterungsgesichtspunkten für eine Supermacht
leider nun einmal sinnvoll. Das können Sie bei jedem großen Konflikt
während der Ära der Blockkonfrontation sehen: Wenigstens auf einer
Seite war immer wenigstens eine der Supermächte mit von der Partie.
Deswegen erscheint mir übrigens die heute auch in der LINKEN
gelegentlich anklingende Nostalgie bezüglich der scheinbar so
übersichtlichen Weltlage während der Blockkonfrontation auf
deplatzierte Art romantisch. Das war auch die Zeit der
Stellvertreterkriege, der unerklärten schmutzigen Kriege, des
Wettrüstens, des irrsinnigen Taumelns am Rande einer atomaren
Katastrophe.
Aber zurück zu Israel. Für Israel war es überlebenswichtig, dass es
Unterstützung fand. Die Sowjetunion ging aber bald auf Distanz
(anscheinend war Stalin die Sympathie für Israel seitens der
sowjetischen Juden etwas unheimlich) und orientierte sich einige
Jahre später insbesondere auf Ägypten. Das wiederum hat mit
Sicherheit dazu beigetragen, das amerikanische Interesse an Israel
zu stärken. Die sich verfestigende Orientierung der USA auf Israel
als einen der wichtigsten Bündnispartner in der Region konnte
natürlich an der Bundesrepublik Deutschland nicht spurlos vorüber
gehen.
Wie stark auch die damaligen politischen Eliten in der jungen
Bundesrepublik noch durch die faschistische Vergangenheit
Deutschlands geprägt gewesen sein mögen, das eine wird ihnen klar
gewesen sein: dass die Bundesrepublik (wie ja auch die DDR) ein
Staat mit höchst begrenzter außenpolitischer Souveränität war. Die
politischen Eliten mussten die aus Amerika vorgegeben Linie
akzeptieren.
Hinzu kommt, dass eine ethisch-moralische Reputation Deutschlands
eine glaubwürdige Abkehr von nationalsozialistischem Gedankengut
erforderte, um wieder erfolgreich in die staatliche
Weltgemeinschaft, die für die BRD damals in der Westintegration
bestand, aufgenommen und akzeptiert zu werden.
Es war Adenauer klar, dass „die Art, wie die Deutschen sich den
Juden gegenüber verhalten werden, die Feuerprobe der deutschen
Demokratie sein wird“ (2).
Aber bereits seine Begründung dieser „Feuerprobe“ war durchaus noch
antisemitisch geprägt.
„Die Macht der Juden, auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll
man nicht unterschätzen. Und daher habe ich…meine ganze Kraft
drangesetzt, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem jüdischen
Volk und dem deutschen Volk“ (2).
Nach dem Wiedergutmachungsabkommen von 1953, dem so genannten
Luxemburg-Vertrag, dem im Übrigen die SPD-Opposition im Bundestag
geschlossen zustimmte, während nicht einmal die Hälfte der
konservativ-liberalen Koalition für ihn votierte, dauerte es
immerhin noch 12 weitere Jahre, bis die Bundesrepublik und Israel
diplomatische Beziehungen zueinander aufnahmen – und das nicht aus
inneren Einsichten und historischer Verantwortung heraus, sondern
eher notgedrungen.
Denn es galt die Hallstein-Doktrin und die Bundesregierung
befürchtete, dass im Falle einer Anerkennung Israels die arabischen
Staaten ihre diplomatischen Beziehungen zu Westdeutschland abbrechen
und zur DDR aufnehmen würden. Erst nachdem heimliche
Waffenlieferungen Westdeutschlands an Israel publik wurden, trat die
damalige Erhard-Regierung die Flucht nach vorn an. Daraufhin brachen
10 der 13 Staaten der Arabischen Liga die diplomatischen Beziehungen
zur Bundesrepublik Deutschland ab, um sie bis spätestens 1974 wieder
aufzunehmen.
Damit dürfte deutlich geworden sein, dass die Staatsräson einer
gesicherten Existenz Israels nicht zum Gründungskonsens der
Bundesrepublik Deutschland zählte, sondern vom Kalten Krieg
überlagert wurde.
Es wäre geboten gewesen, dass sich die Haltung der DDR zum Staat
Israel durch eine besondere Sensibilität ausgezeichnet hätte. Denn
viele Überlebende des Holocausts verbanden mit der DDR eine neue
Hoffnung. Aber die DDR-Führung brachte nur ein mangelndes
Verständnis für die Sicherheitsinteressen Israels auf und
betrachtete ebenso mangelhaft die aus der ewigen Mahnung der Shoa
erwachsende spezifische deutsche Verantwortung gegenüber den
Jüdinnen und Juden als singuläres Ereignis.
Indem sich die DDR als genuin antifaschistisch und als
Nicht-Nachfolgestatt des „Dritten Reiches“ definierte, leitete sie
daraus in fatalem Automatismus für sich ab, weder Schuld, noch
Verantwortung für die durch Deutschland begangenen Verbrechen der
NS-Herrschaft gegenüber den Jüdinnen und Juden und dem Staat Israel
übernehmen zu müssen.
Wenngleich es anfänglich Annäherungen zwischen der jungen DDR und
Israel gab, kam es zu keiner Aufnahme diplomatischer Beziehungen.
Zudem war die DDR in die Außenpolitik der Sowjetunion eingebunden,
die nach 1948, als sie noch wesentlich zur Existenz Israels beitrug,
ihre Haltung zu Israel veränderte.
Außerdem waren arabische Staaten die Ersten, die nach den
staatssozialistischen Ländern bereit waren, die für die DDR so
wichtigen diplomatischen Beziehungen herzustellen.
Erst unter der Regierung Hans Modrow begannen 1990 Verhandlungen
über Wiedergutmachungsleistungen und die Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen der DDR und Israel, die infolge des raschen
Beitrittsprozesses hinfällig wurden. Die PDS hat in selbstkritischer
Reflexion das diesbezügliche Versagen der DDR-Politik anerkannt, der
eine ausgewogenere Haltung zum Staat Israel und zur Komplexität des
Nahost-Konflikts fehlte.
Zurück zur Bundesrepublik Deutschland. Hier kommt die nächste Frage:
Wenn das alles auch nur halbwegs stimmte, warum bröckelt mit dem
bröckelnden Konsens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den
USA nicht auch die Haltung Deutschlands zur Doktrin der Solidarität
mit dem Staat Israel?
Meine Antwort ist: Weil die eben vorgetragene Sicht eben nur
halbwegs stimmt, das heißt weil es nur die halbe Wahrheit ist. Die
andere Seite ist doch die, dass machtpolitische Begründungen nie in
reiner Form wirken. Man hat früher doch nie gesagt: Weil die USA nun
einmal etwas gegen die Sowjetunion haben und die Staatlichkeit der
Bundesrepublik Deutschland durch die Westanbindung leichter zu
stabilisieren war als ohne Westanbindung, muss die Bundesrepublik
alles mitmachen oder wenigstens politisch bejubeln, was die USA tun.
Vielmehr ist die Verinnerlichung solcher politischen
Grundsatzentscheidungen immer auf eine Dimension der Legitimation
angewiesen, die sich eines Vokabulars bedient, das die Existenz der
politischen Kräftekonstellation und der aus ihr resultierenden
Handlungszwänge nicht mitreflektiert und daher den Schein erzeugen
hilft, es hätten ausschließlich Entscheidungen aus Freiheit sein
können, die eine bestimmte politische Entwicklung eingeleitet
hätten. Dieser Schein ist insoweit objektiv, als er in der eben
erläuterten Weise notwendig ist.
Ein normatives Vokabular, das sich auf Vernunft und Freiheit meint
gründen zu können, wird üblicherweise als Moral bezeichnet. Der
Antikommunismus etwa, immerhin eine Leitideologie in der
Bundesrepublik, kann nicht erfolgreich wirksam sein, wenn er nur als
machtpolitischer Wille auftritt. Er ist auf moralische
Diskreditierung sozialistischer Politik angewiesen – und hatte es
zugegebenermaßen damit auch nicht so schwer gehabt.
Die moralischen Legitimationsmuster können nun durchaus ein gewisses
Eigenleben führen; das ist eine Folge ihrer semantischen
Abschließung gegenüber Machtverhältnissen. Elemente der Staatsräson
können daher unterschiedliche Grade an Unempfindlichkeit gegenüber
politischen Entwicklungen aufweisen. Betrachtet man die drei
zentralen Säulen deutscher Außenpolitik – die Orientierung am
transatlantischen Bündnis, die Alternativlosigkeit zur Europäischen
Integration und die Solidarität mit dem Staat Israel – so ist es
absolut kein Zufall, dass die Solidarität mit Israel den stabilsten
Eindruck macht.
An die Wertegemeinschaft mit den USA glaubt keiner mehr so innig,
die Europäische Integration erfolgt ohnehin nach einer Logik, die
durch ein Primat nationalstaatlicher Interessenverfolgung
charakterisierbar ist; aber wo es nichts zu rütteln geben soll, ist
die Solidarität mit Israel.
Hier ist die moralische Komponente, die aus der deutschen Geschichte
erwächst, so stark, dass sich absehbar nichts ändern wird. Hier
lohnt, zur Illustration, ein vergleichender Blick nach Frankreich.
Frankreich kann es sich eben leisten, bei Stellungnahmen zum
Nahost-Konflikt etwas elastischer zu reagieren. Wenn in Frankreich
eine Moral reklamiert wird, die mit der französischen Geschichte
etwas zu tun hat, dann spielt die Kolonialgeschichte eine wesentlich
größere Rolle als der Zweite Weltkrieg und erst Recht als die
Nazidiktatur.
DIE LINKE in Deutschland sieht sich natürlich hier einem sehr
vielschichtigen Problem gegenüber, das wirklich nicht so einfach zu
lösen ist:
- Die ideologiekritische Rückbindung der Moral
an Machtinteressen geht mit der Gefahr einher, das Kind mit dem
Bade auszuschütten, d.h. die Gültigkeit moralischer Einsichten
zu unterminieren. Als mögliche Erklärung, warum die zu
aufrechten Demokraten gewandelten ehemals aufrechten Nazis, die
nun einmal einen Großteil der politischen Eliten der jungen
Bundesrepublik stellten, einer Idee der Solidarität mit Israel
überhaupt zugänglich gewesen sind, bleiben ideologiekritische
Aufklärungen hilfreich. Aber das hebelt die moralische Tatsache
einer Verantwortung, die aus historischen Erfahrungen gespeist
ist, nicht aus. Die gilt auch für uns.
- Damit entschärft sich das Problem Staatsräson
in gewisser Hinsicht. Dass eine politische Position den Rang
einer Staatsräson innehat, macht sie für linke Diskurse immer
ein wenig verdächtig. Aber in dem Fall der Solidarität mit
Israel dominiert eine moralische Rechtfertigung einer
politischen Prämisse gegenüber einer rein machtpolitischen. Ich
denke wirklich, dass Adornos kategorischer Imperativ, alles zu
tun, damit Auschwitz sich nicht wiederhole, das politische
Selbstbewusstsein der deutschen Demokratie nachhaltig geprägt
hat. Gegen das linke Misstrauen gegenüber der Interessenbasis
der Staatsräson sollte mit Nachdruck an den universellen Gehalt
unserer Moralbegriffe erinnert werden.
- Falls DIE LINKE diese Situation, dass die
Solidarität mit Israel ein moralisch gut begründbares Element
deutscher Staatsräson ist, anerkennen sollte, bleiben ihr für
den Fall, dass sie ein Interesse an politischer Mitgestaltung
hat, nur eine konsistente Option, die Anerkennung eines
möglichen Vernunftgehalts moralischer Rechtfertigung politischer
Prämissen, die dann mit der Entscheidung einhergehen müsste,
diejenigen Wirklichkeitselemente, die sich tatsächlich auch
vernünftig rechtfertigen lassen, nicht ändern zu wollen.
Die Solidarität mit Israel sollte zugleich immer auch
eine kritische sein. Israel hat in seiner Geschichte des öfteren das
Völkerrecht verletzt, am vielleicht Einschneidensten im
Sechs-Tage-Krieg mit der Annexion Westjordanlands und den
Golan-Höhen und durch die Siedlungspolitik.
Es hat Unrecht begangen und begeht es noch heute. Darunter leiden
besonders die Palästinenserinnen und Palästinenser, die glauben
dürfen, einen Teil jener Schuld auszugleichen, die Deutsche
ausgleichen müssten. Daran zu erinnern, dass das Völkerrecht auch
von Israel respektiert werden sollte und muss, das sollte und muss
die Linke schon leisten.
Wenn man wie Israel Jahrzehnte lang fremde Territorien besetzt,
verwaltet, nicht nur militärisch kontrolliert, trägt man auch die
Verantwortung dafür, wenn es dort keine ausreichende Anzahl von
Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern, Kultureinrichtungen und
Arbeitsplätzen gibt. Auch das können und müssen wir sagen.
5. Zum Existenzrecht des Staates Israel
Neben der moralischen Rechtfertigung der Solidarität Deutschlands
mit Israel als der stärksten Basis dieses Aspekts deutscher
Staatsräson existiert noch eine weitere, ebenfalls vernünftige und
weniger moralische, Begründung eines ausgesprochen aufgeschlossenen
Verhältnisses zum Staat Israel. Sie scheint dort auf, wo der Versuch
unternommen wird, das Existenzrecht Israels in verteidigender
Perspektive zu thematisieren.
Hier schon, allein bei der Frage nach dem Existenzrecht Israels,
scheiden sich häufig genug die Geister. Das ist ausgesprochen
merkwürdig. Immerhin ist Israel ein von vielen anderen Staaten
anerkannter Staat und Mitglied der Vereinten Nationen. Unter den
Staaten, die als Erste Israel anerkannten, waren die USA und die
Sowjetunion.
Was soll dann die Aufregung um das Existenzrecht Israels? Kein
normaler Mensch diskutiert ernsthaft über das Existenzrecht der
Schweiz. Das deutet darauf hin, dass es bei diesem Begriff
„Existenzrecht“ überhaupt nicht um im engeren Sinne völkerrechtliche
Aspekte geht, sondern um wesentlich unmittelbarere politische
Fragen.
Schließlich sitzen die arabischen Staaten mit Israel in den
Vereinten Nationen, andererseits haben die meisten arabischen
Staaten mit Ausnahme Ägyptens und Jordaniens Israel nicht anerkannt
und pflegen keine diplomatischen Beziehungen.
Die Anerkennung des Existenzrechts Israels weist eine weitere
Dimension auf, die mit der europäischen Nationalstaatsentwicklung zu
tun hat.
Bis in das 19. Jahrhundert hinein dominierte ein Konflikt
innerjüdische Debatten, der sich zwischen den polaren Momenten
„Aufklärung“ und „Tradition“ aufspannte. Die Partei der Aufklärung
sah im modernen bürgerlichen Nationalstaat die Möglichkeiten einer
gesellschaftlichen Integration als Staatsbürger; die Partei der
Tradition sah hierin auch die Gefahr einer säkularen Entwertung der
jüdischen Religion und Traditionen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts mussten die Jüdinnen und Juden in
Europa allerdings die Erfahrung der damals völlig neuen Ideologie
des Antisemitismus machen, die ja mit dem christlichen Antijudaismus
nicht gerade viel zu tun hat, sondern eher als Zurücknahme des
Emanzipationsversprechens der bürgerlichen Rechtsstaatsidee
interpretierbar ist. So jedenfalls wurde er von einigen jüdischen
Intellektuellen wahrgenommen, die natürlich dem durch die
Aufklärungsideologie vorgezeichneten Weg gern gefolgt wären, jedoch
glaubten, diesen als Sackgasse ansehen zu müssen. Gleichzeitig waren
sie immer noch Aufklärer genug, um ein Nationalstaatsprojekt zu
entwerfen, also den Rückweg in die religiöse Orthodoxie nicht
anzutreten. Genau das ist die geistige Situation, in der der
Zionismus zwischen dem ausgehenden 19. und dem beginnenden 20.
Jahrhundert sich herausbildete.
Daher hatte der Zionismus von Anfang an zwei innerjüdische Gegner:
die aufklärerischen Integrationisten und die religiösen
Traditionalisten. Letztere sahen die Jüdinnen und Juden – wenn schon
als Volk – so doch nur im religiösen Sinn als das Volk Gottes, nicht
jedoch als Nation in modernem Sinn, der nur eben gerade ein Staat
fehlte. Die Aufklärungspartei sah im Zionismus eine Gefahr der
staatsbürgerlichen Emanzipation der Jüdinnen und Juden,
gewissermaßen als eine Art Einladung an die
antisemitisch-reaktionären Kräfte, die staatsbürgerlichen
Emanzipationsgewinne zurückzunehmen. Aus diesen beiden Quellen
speist sich der jüdische Antizionismus.
Damals führte man also im Judentum eine Debatte über Sinn und Unsinn
eines jüdischen Nationalstaatsprojekts. Es war die Zunahme des
Antisemitismus, schließlich gipfelnd im Holocaust, die den
aufklärerischen Hoffnungen jegliche Grundlage entzog.
Die gescheiterte politische Emanzipation der Jüdinnen und Juden in
den europäischen Nationalstaaten und insbesondere der Holocaust
haben das Projekt der Gründung eines jüdischen Nationalstaats
zwingend erforderlich gemacht. Erforderlich in dem Sinne, dass die
bürgerlichen Nationalstaatsentwicklungen unter Beweis gestellt
hatten, dass die Zionisten mit ihrer Skepsis Recht hatten. Nach
tausenden Jahren Ausgrenzung, Pogromen und dann der
nationalsozialistischen Barbarei, das heißt der Ermordung von
Millionen Jüdinnen und Juden, den Überlebenden des Holocaust zu
empfehlen, nun doch auf die Emanzipation in anderen Nationalstaaten
zu setzen, wäre wohl deutlich zu viel verlangt gewesen. Und so
stellte sich das jüdische Nationalstaatsprojekt als alternativlos
dar.
Daraus resultiert auch die stabile Verantwortung für Israel. Alle
modernen Nationen haben irgendwo einen antisemitischen Schandfleck
in ihrer Geschichte. Aber der von den Deutschen durchgeführte
Holocaust ist singulär. Die Grundannahme des Zionismus, wenn die
Jüdinnen und Juden eine Staatsmacht haben wollen, die sie auch
wirklich schützen soll, dann nur in ihrem eigenen Staat, ist nach
dieser historischen Entwicklung kaum noch ernsthaft bestreitbar.
Freilich, als der Zionismus sich bildete, galt Kolonialisierung noch
als akzeptabler Weg. Als sich innerhalb der zionistischen Bewegung
die Orientierung auf Palästina verfestigte, begann man den Plan
einer Kolonialisierung dieses Gebiets schrittweise zu verwirklichen.
Die jüdischen Einwanderinnen und Einwanderer der ersten Generation
in Palästina hatten damals noch überwiegend ein Interesse am
Ausgleich mit der arabischen Bevölkerung. Wahrscheinlich haben die
jüdischen Einwanderinnen und Einwanderer dabei so etwas wie
antikoloniale Reflexe unterschätzt. Spätestens mit dem Ersten
Massaker von Hebron (1929) wurde jedoch deutlich, dass die
Realisierung eines jüdischen Staates nicht auf Gegenliebe stoßen
würde.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es seitens der USA und Westeuropa -
außer in Großbritannien, das Gewaltexzesse im Mandatsgebiet
Palästina befürchtete - keinen allzu großen Widerstand mehr gegen
die Gründung eines jüdischen Staates. Die arabischen Staaten hatten
ein viel zu geringes Gewicht, um dagegen effektiv etwas unternehmen
zu können - außer den Weg des Krieges zu beschreiten.
Zusammenfassend heißt das: Erforderlich war das jüdische
Nationalstaatsprojekt aus amerikanischer und westeuropäischer Sicht,
denn es konnte gerade angesichts des Scheiterns des bürgerlichen
Emanzipationsversprechens im Antisemitismus und Nationalsozialismus
nicht mehr ignoriert werden; belastet war es durch die
Kolonialisierung Palästinas. Damit lassen sich unterschiedliche
Bewertungen vornehmen. Diese haben die Frage nach dem Existenzrecht
ausgelöst, und diese Frage, als Frage nach der Legitimität der
Entstehung des Staates Israel, bestimmt den Konflikt um das
Existenzrecht bis heute.
Gerade die demokratische Linke ist von dieser widersprüchlichen Lage
betroffen. Ihr ist der Gedanke doch vertraut, dass die Zeit, in der
das Bürgertum an seine Ideale noch euphorisch selber glaubte, längst
einer vergangenen Ära angehört. Die zionistische Skepsis in den
Aufklärungsoptimismus sollte die Linke ergo nachvollziehen können.
Aber die Linke sieht natürlich auch, dass die Gründung von
Nationalstaaten häufig mit Unterdrückung einher ging. Man muss sich
aber deswegen nicht immer auf eine Seite schlagen. Wichtig ist vor
allem, dass es zur Anerkennung der Legitimität des Staatswesens
kommt, aber auch zur Anerkennung von Schuld an Opfern der
Unterdrückung. Nur dann kann überhaupt eine Verständigung über
praktikable Problemlösungen stattfinden.
Das Existenzrecht Israels, seine Anerkennung, gehört hier hin. Es
ist in der Tat eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen
einer stabilen Friedenslösung. Aber auch das Flüchtlingsproblem,
obwohl nicht von gleichem Rang, hat den Status einer notwendigen
Bedingung für eine Friedenslösung.
Israel muss sich dazu durchringen, erst einmal anzuerkennen, dass es
eine wesentliche Mitverantwortung am palästinensischen
Flüchtlingsproblem trägt. Diese Anerkennung würde die Situation nur
scheinbar komplizieren. Natürlich wäre ein klärungsbedürftiges
Problem mehr auf dem Tisch, aber es wäre einer Klärung auch erst
zugänglich, wenn es als Problem anerkannt wird. Und dieses Problem
ist ja auch nicht dadurch vom Tisch, dass es von einer Seite nicht
zur Kenntnis genommen wird.
Der Antizionismus kann, soviel folgt meiner Meinung nach aus dem
bisher Gesagten schon, für die Linke insgesamt, für die Partei DIE
LINKE im Besonderen, keine vertretbare Position sein, zumindest
nicht mehr sein. Denn selbst wenn wir uns auf die Seite des
aufklärerisch motivierten jüdischen Antizionismus schlügen, und
anderes bliebe uns dann gar nicht übrig, wären wir doch mit dem
Problem konfrontiert, eine der schrecklichsten Erfahrungen des 20.
Jahrhunderts, die den aufklärerischen jüdischen Antizionismus so
gründlich als Illusion vorgeführt hat, ignorieren zu müssen.
Es gibt durchaus verständliche Gründe, den Zionismus nicht
sympathisch zu finden. Er ist eine staatstragende Ideologie und er
ist auch nationalistisch. Er führt manchmal auch zu massiven
Einschränkungen in der faktischen Gleichbehandlung jüdischer und
arabischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Israels. Schließlich
bildete er gelegentlich Extreme aus, die terroristisch genannt
werden müssen. Diese Entwicklungen werden ganz gewiss gefördert
durch die permanente Bedrohungssituation, der die israelische
Gesellschaft sich ausgesetzt sieht. Und damit hängt auch zusammen,
dass das Militär und der Geheimdienst in Israel eine für moderne
Demokratien doch außergewöhnlich dominante Rolle spielen. All dies
muss gerade die Linke nicht sympathisch finden.
Ich möchte mir aber einen provokanten Vergleich gestatten, der zudem
auch etwas kontrafaktisch ist. Deutschland ist einer allenfalls
abstrakten terroristischen Gefahr ausgesetzt, die für Schäuble, Jung
und andere Sicherheitsfanatiker schon Grund genug ist, beängstigende
Angriffe auf liberale Bestände unserer Verfassung zu unternehmen.
Wäre bei dieser Hysterie eine rechtsstaatliche Demokratie in
Deutschland überhaupt noch denkbar, wenn Deutschland sich in einer
mit der israelischen Gesellschaft vergleichbaren Bedrohungslage
befände? Ich habe da große Zweifel. Daher anerkenne ich die
Bewahrung demokratischer Verhältnisse – einschließlich einer
demokratischen Öffentlichkeit – während der vergangenen 60 Jahre
seit der Gründung Israels dort als eine wirklich große Leistung, die
Bewunderung und Anerkennung verdient.
Freilich muss es Israel gelingen, aus der eskalierenden
Gewaltspirale auszusteigen. Gerade weil Israel militärisch stärker
ist, kann und muss es diesen Weg beschreiten. Aber vielleicht
konfligieren hier auch politisch mögliche Zielsetzungen mit
militärisch-strategischen Interessen.
6. Die Linke, Israel und Palästina
Wenn auch nur die Hälfte dessen stimmen sollte, was ich bisher
insbesondere zu den Verpflichtungen, die aus der deutschen
Geschichte resultieren, gesagt habe, dann ist auch der
Handlungsspielraum der deutschen Linken äußerst begrenzt. Generell
gilt, dass wir uns primär auf die Politik der Bundesregierung
beziehen. Die können wir für richtig oder falsch, für ausreichend
oder nicht ausreichend halten. Entsprechend müssen unsere
Aktivitäten ausfallen.
Diese speisen sich natürlich nicht nur aus den „Vorgaben“ der
Bundesregierung. Kenntnisse erwerben wir nicht nur aus
Unterrichtungen durch die Bundesregierung. Wir haben ja auch die
Möglichkeiten, die sich aus einer Rezeption wissenschaftlicher
Arbeiten und publizistischer Aufklärung ergeben, aber auch aus
Informationsgesprächen mit verschiedenen politischen Repräsentanten.
Das ist auch ein, aber wem sage ich das, wichtiges Arbeitsfeld für
die Stiftung.
Gerade in parlamentarischen Aktivitäten sollten wir nur Forderungen
formulieren, von denen wir überzeugt sind, dass wir sie, wenn wir in
einer Bundesregierung wären, auch tatsächlich umsetzten. Da spielt
eine zentrale Rolle, was ich zur Staatsräson sagte. Da gibt es
Grenzen, die auch für uns gelten würden. Insbesondere trifft das auf
die außenpolitische Handlungsfähigkeit einer jeden denkbaren
Bundesregierung zu. Solange sie die deutsche Vergangenheit als
verpflichtend ansieht, wird sie im Nahostkonflikt nicht als neutral
wahrgenommen werden. Ich habe das schon einmal hervorgehoben, in
meiner Bundestagsrede vom 19.09.2006 zur Entsendung deutscher
Truppen für die UN-Mission UNIFIL. Ich verwies darauf, dass bei
einem Konflikt zwischen Israel und einem anderen Staat deutsche
Soldaten die Letzten seien, die dazwischenstehen sollten. Jede Seite
wird bei jeder Schwierigkeit einen historischen Bezug herstellen.
Wenn man Blauhelme im Auftrag der UNO stellt, muss man hinsichtlich
des Konfliktes neutral sein. Man muss gegenüber beiden Seiten die
gleiche Glaubwürdigkeit besitzen. Die Bundesregierung ist nicht
neutral und will es auch nicht sein. Ich wies darauf hin, dass auch
niemand im Saal neutral ist, ich selbst auch nicht.
Aber es geht ja nicht nur um Wahrnehmungen und persönliche
Einstellungen, es geht um reale Politik. Wieder auf den UN-Einsatz
im Libanon bezogen, erklärte ich, dass gegen die Neutralität
zweifellos spricht, dass die deutschen Soldaten Waffenlieferungen an
die Hisbollah verhindern sollen, die Bundesregierung ihre
Waffenlieferungen an Israel aber fortsetzt, bis hin zu U-Booten, die
sogar mit Atomwaffen bestückt werden können.
Bereits an einem so überschaubaren Ereignis wie dem Libanonkrieg
kann gezeigt werden, dass Deutschland immer als Sympathisant Israels
wahrgenommen wird.
Politische Forderungen unsererseits, die das nicht berücksichtigen,
bleiben abstrakt und scheitern von vornherein als Beitrag zu einer
Problemlösung.
Wer nur einen Staat für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und
Palästinenser mit demokratischer Struktur will, akzeptierte damit
heute, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser die Mehrheit
stellten, alles besetzten und die Verfolgungen, Unterdrückungen und
Pogrome gegen Jüdinnen und Juden wie seit Tausenden von Jahren
wieder begännen, nicht zu verhindern wären.
Wer dagegen einen Staat für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen
und Palästinensern ohne demokratische Strukturen unter bestehenden
Herrschaftsverhältnissen will, akzeptierte damit, dass
Palästinenserinnen und Palästinenser unterdrückt werden und ein
Apardheitsregime entstünde.
Beides ist inakzeptabel.
Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten erfordert sicher
und neben dem bisher Gesagten vor allem:
- Es muss ein in jeder Hinsicht lebensfähiger
Staat Palästina neben dem Staat Israel geschaffen werden. Beide
Staaten müssen in sicheren und klar vereinbarten Grenzen
existieren. Das geht nicht ohne die Auflösung der meisten
Siedlungen von Israelis.
- Das Problem der palästinensischen Flüchtlinge
muss durch Israel anerkannt und mit Palästina gelöst werden.
- Israel darf nicht weiter versuchen, kulturell
Europa im Nahen Osten zu sein, sondern muss eine kulturelle
Macht d e s Nahen Ostens werden.
- Politische, wirtschaftliche, kulturelle,
wissenschaftliche und damit vor allem zivilgesellschaftliche
Beziehungen müssen zwischen Israel und Palästina sowie den
anderen Ländern des Nahen Ostens schrittweise aufgebaut werden,
damit die Akzeptanz für Israel im Nahen Osten wächst, das
Existenzrecht Israels nicht länger politisch angezweifelt und in
Perspektive aus Feindschaft Freundschaft wird.
In diesem Sinne herzliche Glückwünsche an Israel zum
60. Jahrestag seiner Gründung.Anmerkungen:
(1) Dreßler, Rudolf, „Gesicherte Existenz Israels – Teil der
deutschen Staatsräson, Essay“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,
15/2005;
http://www.bpb.de/publikationen/595V1M.html
(2) Weingardt, Markus, „Deutsche Israelpolitik: Etappen und
Kontinuitäten“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 15/2005;
http://www.bpb.de/publikationen/M9WU9T.html |