Offener Brief an Bundeskanzlerin
Angela Merkel
März 2008
Sehr geehrte
Frau Merkel,
Schon seit
langem hat man in Israel keine Reden gehört, die solchen
zionisistischen Pathos hatten, wie die jene , die Sie bei Ihrem
Besuch in Israel vor einer Woche hielten. Sie haben während Ihres
dreitägigen Besuchs sehr klar gemacht, wie sehr Sie den Staat Israel
unterstützen und gegen seine Feinde an seiner Seite stehen. Acht
Minister, unzählige Regierungsangestellte und Sicherheitskräfte
haben Sie mitgenommen, um mit großem Aufwand bei Ihren Gastgebern
einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Trotz dem obengenannten muss ich Sie jedoch, mit
allem Respekt, darauf hinweisen, dass Sie uns keine gute Tat
erwiesen haben: Wenn Sie
nämlich wirklich nur Israels Wohl im Sinne gehabt hätten, dann
hätten Sie die Palästinenserfrage zumindest erwähnt. Stattdessen
taten Sie so, als ob es Sie überhaupt nicht gäbe. Sie hätten mit
klaren Worten erwähnen müssen, dass die israelische Besatzung der
Palästinensergebiete unmenschlich ist und enden muss, dass Israel
die besetzten Gebiete räumen, die Siedlungen auflösen und die
Belagerung des Gazastreifens beenden muss.
Wenn Sie nämlich wirklich nur Israels Wohl im Sinne
gehabt hätten, dann hätten Sie Abu Mazen zumindest einen Besuch
abgestattet, und sich mit dem palästinensischem Kampf um
Unabhängigkeit solidarisch gezeigt.
Wenn Sie wirklich an der Seite Israels gegen seine
Feinde stehen wollten, dann hätten Sie zuallererst den Staat Israel
selbst kritisiert. Die grösste Gefahr, die Israel zu fürchten hat,
ist nämlich ironischerweise nicht Iran, sondern Israel selbst. Seit
1967 betreibt der Staat Israel nämlich ein System der
Selbstvernichtung. Jeder, der sich um das Wohl des Staates Israel
bemüht, muss ihm helfen, dieses System zu beenden.
Ich bin mir sicher, dass Sie gebildet genug sind, das
zu wissen. Auch weiß ich, dass das Schuldbewußtein des deutschen
Volkes Ihnen nicht die Möglichkeit gibt, den jüdischen Staat offen
zu kritisieren. Zudem kann angenommen werden, dass in einem solchen
Fall israelische Politiker Ihnen vorwerfen, eine Antisemitin zu
sein. Trotzdem sollten Sie sich nicht davon abbringen lassen, denn
der wirkliche Antisemit ist der, der angesichts der
Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten schweigt, da es
jedem klar ist, dass die Fortsetzung der Besatzung das Ende des
Staates Israels nach sich ziehen wird. Und falls man Ihnen vorwirft,
ein Antisemit zu sein, können Sie ja Ehud Olmert selbst zitieren,
der vor drei Monaten sagte, dass, wenn die Besatzung nicht beendet
wird, der Staat Israel beendet wird.
Ich würde Sie gerne darauf hinweisen, Frau Merkel, dass die Mehrheit
der Israelis eingestehen, dass die Besatzung unertragbar ist und uns
nicht weniger Schaden zufügt als den Palästinensern. Jedoch fehlt
der israelischen Regierung die Kraft, die einzige Operation
durchzuführen, die unser Leben retten kann: Die Entfernung des
Tumors, der sich "[besetzte] Gebiete" nennt. Durch diesen Tumor
bluten wir ununterbrochen, und er macht uns von Tag zu Tag
schwächer.
Und daher brauchen wir keine Solidaritätsbekundung und auch keine
pro-zionistische Reden, sondern internationalen Druck, der die
Besatzung beenden kann. Alleine schaffen wir das nämlich nicht.
Jedoch mit Hilfe unserer europäischen Freunde gibt es eine Chance,
Ruhe und Frieden für beide Völker zu erreichen.
Zum Schluss würde ich Sie gerne darauf hinweisen, dass ich zwar kein
Moralist bin, aber dennoch denke, dass Sie eine der wichtigsten
moralischen Lektionen des Zweiten Weltkrieges vergessen haben:
Nämlich, dass man bei Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen
darf, und dass man gegen jedes Regime, dass ein fremdes Volk
unterdrückt, kämpfen muss. Heute sind wir leider die Unterdrücker.
Es ist daher Ihre Aufgabe, mit lauter Stimme zu sagen, dass das 21.
Jahrhundert keinen Platz für Besatzungsmächte und Unterdrücker hat.
Und es ist Ihre Aufgabe, zu sagen, dass jedes Volk ein Recht auf
Selbstbestimmung hat.
Israel braucht diesen Druck, um seiner selbst willen. Wer Israel
liebt, muss Druck auslösen, bis die Besatzung beendet ist.
Mit freundlichen Grüssen,
Dr. Meir Margalit
Meir Margalit ist Historiker und
Aktivist der israelischen Friedensbewegung. Er wurde in Argentinien
geboren und kam mit einer rechtgerichteten zionistischen
Jugendgruppe nach Israel. Während seines Armeedienstes in den 70er
Jahren gründete er eine Siedlung im Gazastreifen. Nachdem er im Jom
Kippur Krieg verwundet worden war, änderte er seinen Standpunkt und
wandte sich der israelischen Linken zu. Meir Margalit gehörte über
20 Jahre dem Stadtrat von Jerusalem an und ist heute aktiv für das "Israeli
Committee Against House Demolitions".
Übersetzt aus dem Hebräischen von Benjamin
Rosendahl |