[Unterwegs
zum 14. Mai 1948]
In unsere Reihe mit Berichten deutsch-sprachiger Zeitzeugen zur
Entstehung des Staates Israel, gehören selbstverständlich auch
Auszüge aus dem damals in Israel berühmtesten und gerühmtesten
Buch zum Unabhängigkeitskrieg. Das
hebräische Original
liegt seit einer Weile auch
auf deutsch vor.
Unterwegs zu Israels Unabhängigkeit:
In den Feldern der Philister
Schon als
Jugendlicher kämpfte der 1923 in
Westfalen geborene und schon 1933 mit seinen Eltern ins damalige britische
Mandatsgebiet Palästina eingewanderte
Uri Avnery
gegen die Mandatsmacht.
Im Unabhängigkeitskrieg von 1948 war
er Mitglied der Einheit »Samsons Füchse«. Der bewaffnete Kampf für den neuen
Staat Israel war für ihn eine Ehre. In seinen Frontberichten
beschwört er den heldenhaften Geist der Truppe und der
israelischen Bevölkerung. Als er seine Texte in dem Buch "In
den Feldern der Philister" veröffentlicht, wird es in
Israel sofort zum Bestseller.
Hier ein Auszug aus der Zeit noch vor dem 14. Mai 1948, an dem
der Staat Israel ausgerufen wurde.
Vor dem Kampf:
22. März 1948, im Camp »Jonah«
Ein dramatischer Tag: Wir liegen auf dem Rasen vor den
Zelten und genießen die Mittagspause. Die Intelligenten unter
uns halten eine Zeitung, tun, als ob sie lesen, und starren in
Wahrheit in den leeren Himmel. Die anderen schimpfen über die
Vorgesetzten und beratschlagen, wie man sich vor den Übungen des
Nachmittags drücken könnte. Im Zelt sitzen zwei, die lautstark
beraten, was man in einem inoffiziellen Urlaub tun könnte.
Dann plötzlich -Appell. Wir stehen auf dem großen Platz. Die
üblichen Befehle: Achtung - aufstellen! Abzählen! Rührt euch!
Wir folgen den Befehlen mechanisch und fragen uns in Gedanken:
Was soll denn dieser Quatsch jetzt?
Arijeh, der Kompaniechef, steht vor uns. Sein Kopf ist wie immer
etwas nach vorn gebeugt. Auch seine Kleidung ist wie üblich: der
spezielle, braune battle dress. Und dennoch sieht er anders aus.
Ernsthafter, fast feierlich.
Er verliest einen Befehl des Bataillonskommandeurs. Die Kompanie
soll 50 Männer als Reserve für eine Operation bereitstellen. Die
Namen stehen noch nicht fest. Sie werden abends bekannt gegeben.
Die, die rausgehen, werden die Ehre der Kompanie hochhalten und
so weiter und so fort.
Der Appell ist zu Ende. Wir klettern auf die Fahrzeuge, um
wieder zu unseren Feldübungen zu fahren. Normalerweise toben,
schreien, lachen wir. Diesmal sind wir still. Sehr still. Wir
singen nicht. Nur einige wenige summen ein melancholisches
Soldatenlied, das unsere Stimmung wiedergibt.
Jeder von uns fragt sich: Steht mein Name auf der Liste? Oder
muss ich mich von meinen Freunden trennen? Ich konnte mich weder
von Eltern noch Freundinnen verabschieden. Der Chef hat alle
Urlaube für gestrichen erklärt. Wir müssen - sobald der Befehl
kommt - innerhalb von 20 Minuten zum Ausrücken fertig sein.
Gegen Abend kehren wir in unser Lager zurück. Gerade haben wir
uns umgezogen, da ist schon wieder Appell. Wir stehen schweigend
in den Reihen. Wir warten auf die Liste.
Der Chef betrachtet uns prüfend. In der Hand hat er einen weißen
Zettel. Wir wissen: die Liste. »Ich lese die Namen der Reserve
Nummer eins. Die Männer stellen sich in Dreierreihen vor mir
auf...«
Ein Name nach dem anderen. Nach jedem Namen macht dein Herz
einen Satz. Ein guter Freund: Gustav, der Clown der Kompanie.
Wir werden seine Vorstellungen vor dem Schlafengehen vermissen.
Mein Schach-Partner.
Wir stehen völlig ruhig da. Jeder wartet auf seinen Namen. Einer
nach dem anderen gehen sie und bilden eine neue Einheit.
Die Liste ist vollständig verlesen. Über die Hälfte der
Kompanie. Der Rest steht da in zerrupften Reihen, und die Lücken
stehen für die, die aufgerufen worden sind. Wir sehen uns an —
wie verwaiste Kinder. Keiner freut sich, dass er bleiben darf.
Wir denken an die Kameraden, die rausgehen.
Die Verbliebenen richten sich neu aus. Man schickt sie in den
Kulturraum, um einen Vortrag zu hören. Aber keiner hört zu. Von
Mal zu Mal werfen wir einen Blick aus dem Fenster. Sehen die
Kameraden beim Packen, wie sie sich bei den Fahrzeugen sammeln.
Der Chef spürt die Unruhe. Er gibt uns
einige Minuten, um uns zu verabschieden. Wir bemühen uns zu
lächeln, Witze auszutauschen, bieten Orangen an. Jeder weiß, was
der andere fühlt. Ein stummer Händedruck. Die Abziehenden
beneiden uns nicht. Sie wissen, in wenigen Tagen werden wir
ihnen folgen.
Die Fahrzeuge bewegen sich. Ein letztes Winken. Ein Fremder
würde nicht merken, dass sich etwas verändert hat. Aber an
diesem halben Tag ist etwas mit uns geschehen. Die Rekruten sind
zu Soldaten geworden.
[BESTELLEN?]
|