Überall in Europas Gemeinden:
Ohne jüdische Denker
Jüdische Intellektuelle in Europa engagieren sich lieber in der
allgemeinen Gesellschaft als innerhalb der jüdischen Gemeinde. Schuld daran
seien unter anderem die Engstirnigkeit und Kulturlosigkeit ihrer jeweiligen
Gemeinden.
Von Nick Lambert
Ich führe ein Gespräch mit einem Oberrabbiner in seinem Studierzimmer in
einer der grössten europäischen Hauptstädte. Der Rabbiner schweigt einen
Moment und streicht sich über seinen Bart. Dann beginnt er eine Tirade
darüber, dass seine jüdische Gemeinde zu einem unerfreulichen Ort geworden
sei – wegen der internen politischen Kampagnen, die geführt würden, einige
von rechts, einige von links. «Diese manipulativen Komplotte haben die
Gemeinde während der letzten Jahre geprägt», schreit er. «Wir haben eine
aggressive, verärgerte und verunsicherte jüdische Gemeinde, die jüdischer
Führerschaft keinen Platz lässt! Wir sind kribbelig, störrisch, schnell im
Nehmen und schnell im Austeilen von Beleidigungen. In meinem Land ist die
typische Art, sich auszudrücken, die Untertreibung. Die charakteristische
jüdische Art hingegen ist die Übertreibung.»Bei meinen Untersuchungen in
westeuropäischen Ländern bekam ich den Eindruck, dass die organisierten
jüdischen Gemeinden von jüdischen Denkern oft als «intrigenreicher» oder
«schrecklicher» Ort beschrieben werden. Kleinliche Vornehmtuerei, vulgärer
Materialismus und kulturelles Analphabetentum seien typische Merkmale. Viele
jüdische Denker sagten mir, dass sie sich nicht mehr einer breiten
Gemeinschaft der Juden zugehörig fühlen. Einige gehen sogar noch weiter und
erklären, dass sie sich, weil in der jüdischen Gemeinde so viel Klatsch
verbreitet und Gerüchte in Umlauf gebracht werden, mittlerweile soziale
Positionen in der «Aussenwelt» aufbauen, um den jüdischen Kreisen
auszuweichen.
Für einige geht die Abneigung gegen die organisierte jüdische Gemeinschaft
jedoch weiter zurück. Sie ist durch Erinnerungen an Erniedrigungen und
Ausgrenzung geprägt. Denker, die aus ärmlichen Verhältnissen stammen,
erinnern sich an die mangelnde Solidarität seitens der vermögenderen, in der
Gemeinde aktiven Mitglieder, und sogar einige der von mir befragten Rabbiner
beklagen sich darüber, dass Materialismus und ein Mangel an intellektuellem
Mut das heutige Gemeindeleben kennzeichnen. Sie besuchen, wie sie mir
sagten, Konferenzen nichtjüdischer geistlicher und kultureller
Gruppierungen, die mehr Spiritualität und innere Freiheit anzubieten hätten
als ihre eigenen.
Besondere Kritik hörte ich über die weltlichen – ehrenamtlichen – jüdischen
Gemeindeführer. Sie sind typischerweise männlich, mittleren Alters,
konservativ und finanziell gut gestellt und betrachten die Gemeinde als
«Schulhof-Spielplatz», auf dem sie sich einen sozialen Status erwerben
können. Denn trotz geschäftlichem Erfolg haben sie lange Zeit einen Mangel
an sozialer Anerkennung und an Prestige empfunden, den sie nun durch die
Ausübung höherer kommunaler Ehrenämter wettmachen wollen. Und wo Arroganz
nicht das Thema ist, ist es die Ambition. Die Visionen der weltlichen
Gemeindeführer für die nächsten 20 Jahre werden oft als engstirnig und
ängstlich kritisiert, gezeichnet vom Wunsch zu «überleben» und «jüdische
Enkel zu haben». Und dabei erkennen sie nicht, dass «wenn man keinen Traum
und keine Vision hat, kein grösseres Bild», wie es ein Leiter einer Bewegung
formulierte – dass man dann möglicherweise diese jüdischen Enkel gerade
nicht wird haben können.
Inkompetente Gemeindefunktionäre
Jüdische Gemeindefunktionäre werden im Übrigen auch nicht positiver
beurteilt. Sie werden als nach innen gerichtet, streitsüchtig, intellektuell
beschränkt, theatralisch, arrogant, autoritär und zur Vetternwirtschaft
tendierend charakterisiert. In den westeuropäischen Ländern wird niemand als
dazu fähig angesehen, die unvereinbaren Lager innerhalb des Judentums
zusammenzuführen. Ein bekannter holländischer Ökonom erklärte: «Es ist
grundsätzlich sehr schwierig, ein Team aus Leuten zu bilden, von denen so
viele nur auf ihre eigenen persönlichen Vorteile und Positionen schauen und
nicht an die Gemeinschaft denken, die sie eigentlich vertreten sollten.
Sie monopolisieren so gerne die Stimme der jüdischen Gemeinschaft. Die
Mentalität des altmodischen Führungsstils ‹Du bist der Boss, du befiehlst
allen und die anderen müssen auf dich hören› ist typisch für das Verhalten
der jüdischen kommunalen Führerschaft.» Der Leiter einer jüdischen
Wohltätigkeitsorganisation in London meinte dazu: «Das System für die
Rekrutierung jüdischer Führer ist falsch. Allzu lange hatten sie weder eine
Karrierestruktur noch professionelle Führungsqualitäten, also Dinge, die in
der Geschäftswelt jeder Angestellte haben sollte.» Überdies erklärten
jüdische Gemeindehistoriker, mit denen ich sprach, dass die jüdischen
Führungspersonen von der kollektiven Vorstellung besessen seien, der
aufmerksamen nichtjüdischen Welt ja keine Inkompetenz zu zeigen. Diese
Vorstellung würden sie auch beibehalten.
Viele jüdische Meinungsmacher, so wurde mir gesagt, fühlten sich unterdessen
von den jüdischen Gemeinden derart abgestossen, dass sie lieber
Führungspositionen in der allgemeinen Gesellschaft wahrnehmen würden. Diese
bietet ihnen auch bessere Gelegenheiten, Einfluss zu nehmen und einen
gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. «Wenn du Mitglied eines
Regierungskabinetts sein könntest, willst du deine Zeit ja nicht damit
vergeuden, Leiter eines jüdischen Zentralrates zu werden», sagte mir ein
jüdischer Journalist. «Und wenn jemand beides tut», fügte er hinzu, «würde
dies höchstwahrscheinlich als Interessenskonflikt gesehen, denn die meisten
Leute in hohen Regierungspositionen möchten nicht als Teil einer Gruppe mit
partikulären Interessen betrachtet werden.» Aber warum, fragte ich mich,
reagieren westlich orientierte jüdische Denker, statt sich über zunehmende
Marginalisierung zu beklagen, nicht konstruktiver auf die mittelmässige
Gemeindeführerschaft in ihren jeweiligen Ländern?
Heterogene jüdische Gemeinschaft
Bei vielen, deren Ausrichtung mehr wissenschaftlich als kommunalpolitisch
ist, entdeckte ich persönliche Hinderungsgründe dafür, dass sie nicht als
uninstitutionalisierte jüdische Kommentatoren auftreten wollen. Die meisten
von ihnen fühlen sich von «gewieften« Gemeindeführern und Rabbinern, die
ihnen «jüdische Geschichte» vorhalten, eingeschüchtert. Dies trifft vor
allem auf jene Denker zu, die nicht traditionell jüdisch erzogen wurden. Sie
fühlen sich zwei Welten zugehörig, nirgendwo zu Hause und als Aussenseiter
sowohl in der jüdischen wie in der nichtjüdischen Welt. Sie glauben, dass
viele intellektuelle Juden tief in ihren Herzen ihre Position so sehen –
nämlich, dass es ihnen nicht genügt, Juden um sich zu haben, weil sich damit
ihr tatsächliches Netzwerk – also jene Leute, mit denen sie eine gemeinsame
Sache verbindet – in den meisten kleineren europäischen Ländern auf
vielleicht 15 Leute beschränken würde. In New York, zum Beispiel, könnten
sie sich ihre Freunde und Diskussionspartner unter Tausenden aussuchen und
mit ihnen einen Kern ähnlich ausgerichteter jüdischer Denker bilden. «Das
Problem liegt darin, dass jüdische Gemeinden in Westeuropa oftmals zu klein
sind», sagte mir ein Universitätsprofessor. «Juden wie wir teilen uns einen
Mangel an Gemeinschaft, weil Religion kein wesentlicher Teil unserer
Identität ist. An ihrer Stelle sind es die gesellschaftlichen und
angeborenen Aspekte, welche die wichtigsten Fixpunkte unserer jüdischen
Interessen sind. Meine Frau zum Beispiel liest fast ausschliesslich Bücher
jüdischer, vorwiegend weiblicher amerikanischer Autoren. Sie sprechen
gefühlsmässig die gleiche Sprache, und genau diese Sprache fehlt einem
eigentlich immer bei den herkömmlichen nichtjüdischen Autoren. ‹Jüdische
Gemeinschaft› bedeutet für mich nicht einfach, dass Leute jüdisch sind,
sondern dass sie auf ähnliche Werte ansprechen, die von familiären
Erfahrungen, einer besonderen Sozialisierung und erzieherischen Ausrichtung
geformt werden. Hier liegt das Problem – man steht zwischen zwei Welten. Man
fühlt sich mit einem spezifischen Segment der nichtjüdischen Bevölkerung
mehr oder weniger vertraut, aber nicht mit den restlichen 90 Prozent. Das
gleiche gilt aber auch für 90 Prozent der Mitjuden. Meine Frau und ich sind
nicht gerne bei grossen jüdischen Zusammenkünften, wo oft eine Menge Geld
vorgeführt wird. Ich glaube, dass es auf viele jüdische Gemeinden zutrifft,
dass die nicht-intellektuellen Juden, jene, die im Handel oder ähnlichen
Berufen arbeiten, sich von den unglücklichen jüdischen Intellektuellen
unterscheiden. Letztere fühlen sich auf solchen grossen Zusammenkünften
überhaupt nicht wohl. Dieser springende Punkt wird in den jüdischen
Gemeinden nicht wahrgenommen, weil viele Juden die Lebensumstände dieser
unglücklichen jüdischen Intellektuellen schlicht nicht kennen.»
Für viele jüdische Denker hat ihr Jüdischsein sowohl soziale wie auch
kulturelle Aspekte. Sie haben jüdische Freunde, und auch wenn eine Familie
über Generationen ihr Judentum nicht religiös gelebt hat, haben ihre Kinder
und Enkel immer noch jüdische Freunde und leben in einem jüdischen Umfeld,
lesen «jüdische» Bücher, sind an jüdischer Geschichte interessiert und
verfolgen die Nachrichten über Israel. Viele dieser Denker sind davon
überzeugt, dass Judentum ohne Religion an die nächste Generation
weitergegeben werden kann. Im Gegensatz dazu haben sie zu beklagen, dass
innerhalb der Gemeinde nur eng abgesteckte Projekte zum Thema «jüdische
Erziehung» Unterstützung erhalten, weil jüdische Organisationen nicht
verstehen, wie wichtig die Förderung neuer jüdischer kultureller
Unternehmungen ist. Statt jüdische Denker anzuerkennen und zu unterstützen,
lassen die Gemeinden die Denker noch weiter entgleiten, indem sie wenig
Interesse an ihren beruflichen Sachgebieten zeigen. Umso mehr setzt man sie
dem Gefühl aus, am Rande der Gemeinde zu stehen.
Nur wenig hat sich verändert
In der Nacht nach meinem Gespräch mit dem Rabbiner und seinen
Plastikpflanzen träumte ich, ich sei an einer jüdischen Konferenz, an der
verkündet wurde, alle theologischen Konflikte zur Gemeindemitgliedschaft
seien gelöst und es werde eine einzige, umfassende jüdische Gemeinde
gegründet. Plötzlich hörte man Geschrei aus dem Publikum, da jetzt ja viele
jüdische Gemeindeeliten ihre Einkommens- und Machtquellen verlieren würden.
Wer von ihnen würde also diese sehr moderne Praxis der Fusion unterstützen?
Und wie würden die Führer einer solchen Gemeinde gewählt werden? Es gebe nur
wenig Demokratisches in Gemeindewahlen, wurde festgestellt, nur wenige, die
aufgrund breiter Zustimmung aufgrund ihrer Verdienste gewählt würden.
Ironischerweise könnte man fragen: Wahlen aufgrund von Nicht-Verdiensten?
Als ich erwachte, erinnerte ich mich daran, dass die jüdischen
Gemeindeführungen während langer Zeit durch innere, innerkonfessionelle
Kämpfe geprägt waren. Es herrschte ein tiefes intellektuelles Niveau, dafür
ein hohes Niveau an gemeindeinternen Streitigkeiten, gepaart mit unlösbaren
Zankereien über Theologie und einer Tendenz, das eigene Nest zu beschmutzen.
Eigentlich sollten wir dafür dankbar sein. Ein kurzer Blick auf die
Misswirtschaft, den Hang zur Korruption und die weltliche Ignoranz
vergangener jüdischer Behörden in Europa sollte genügen, um uns zu
überzeugen, dass Dystopie manchmal besser ist als ihre Alternativen. Es ist
nicht weiter erstaunlich, dass jüdische Intellektuelle «angesichts der
Belanglosigkeit und Leere der jüdischen geistlichen und weltlichen Führer
kein Interesse am jüdischen Volk haben». So brachte es der berühmte
Historiker David Cesarani 1989 zum Ausdruck. Er wollte damit zu verstehen
geben, dass die organisierte jüdische Gemeinde in Grossbritannien
mittelalterlich, reaktionär und intellektuell unfruchtbar sei. Wie ich
erkennen musste, scheint sich daran, quer durch die Länder Europas, in der
ersten Dekade des 21. Jahrhunderts nur wenig geändert zu haben.
Nick Lamberts Buch «Jews
and Europe in the Twenty-First Century» ist soeben erschienen (auf
Englisch). Es ist in allen grösseren Buchhandlungen oder unter
www.vmbooks.com erhältlich.
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28. Dezember 2007 / 7. Jahrgang / Ausgabe 52 |