Der Streit um die richtige Solidarität mit Israel:
Universalismus, Selbsthass oder jüdischer Antisemitismus
Von Micha Brumlik
Mehr als einhundert Jahre nach den ersten jüdischen Siedlungsversuchen im
osmanischen Millyet Falestin, bald sechzig Jahre nach der Gründung des
Staates Israel und nun bald vierzig Jahre nach der Eroberung der Westbank
durch Israel scheint der Palästinakonflikt einer Lösung ferner zu sein denn
je.
Beides, die aussichtslose aktuelle Lage wie der im symbolischen Gedächtnis
auffallend präsente Konflikt, führen nicht nur in der Weltöffentlichkeit,
sondern auch innerhalb des Judentums zu heftigen, in letzter Zeit zunehmend
gereizteren Debatten. Um sich über die Bedeutung dieser vor allem in den USA
und Großbritannien, kaum in Frankreich und noch weniger in Deutschland
geführten Diskussionen klar zu werden, ist es unerlässlich, eine
Verständigung über das, was der Begriff „Judentum" bezeichnen soll,
herbeizuführen.
Die auf der Hebräischen Bibel beruhende, in der späten Antike kodifizierte
jüdische, die rabbinische Religion unterscheidet sich als Religion von
Christentum und Islam dadurch, dass man ihr auf jeden Fall durch Geburt
angehört oder aber durch Übertritt angehören kann. Dabei geht es tatsächlich
um die Geburt: als Jüdin oder Jude gilt nach rabbinischem, nach halachischem
Recht, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Da weder in der Antike
noch im Mittelalter oder gar in der Moderne alle Jüdinnen oder Juden gläubig
waren, hat das Judentum als Kultur – im Unterschied zu den anderen
monotheistischen Religionen – der geburtlichen Zugehörigkeit wegen immer
auch einen mehr oder minder ethnischen Charakter. Das hatte und hat bis
heute auch politische Konsequenzen. Dass die historisch identifizierbare,
häufig schwerst verfolgte (später im Holocaust beinahe ausgerottete) Ethnie
ihr Selbstverständnis jenseits der Religion als moderne Nation finden
sollte, war etwa die Grundüberzeugung des politischen Zionismus. Allerdings
ist auch die ethnische Zugehörigkeit für den einzelnen Juden oder die
einzelne Jüdin in komplexen, ausdifferenzierten Gesellschaften weder
zwingend noch bindend; die Rede von „jüdischer Herkunft" einzelner Personen
oder – ebenso vage – von einer „Schicksalsgemeinschaft" aller Juden belegt
dies. Andererseits weist auch diese Religion, weist auch dieser ethnische
Verband mehr oder minder große, konfessionelle Institutionen, ethnisch
organisierte Allianzen sowie vielfältige, kulturelle Ausdrucksformen auf.
Die gewichtigste Institution dieser Art dürfte neben Synagogengemeinden,
jüdischen Wohlfahrtsverbänden und jüdischen NGOs der Staat Israel sein, der
über seine Institutionen und auch über verwandtschaftliche Bindungen in mehr
oder weniger intensivem Kontakt mit Institutionen und Personen der jüdischen
Diaspora steht. Mit dem Staat Israel hat sich ein Teil der jüdischen Ethnie
die Form eines eigenen Nationalstaats gegeben – eines Nationalstaats, der
nach dem Völkermord der Nationalsozialisten und angesichts seiner tragischen
Lage in einer feindlichen geographisch-politischen Umwelt zunächst Hoffnung
bündelte, um zuletzt immer mehr Sorge auf sich zu ziehen.
Heute identifizieren sich weltweit etwa 14 Millionen Menschen in welcher
Weise auch immer mit dem Judentum, von denen etwa fünf Millionen im Staat
Israel leben, während sich die anderen in der Diaspora, mit einem
Schwerpunkt in den USA, auf andere Länder verteilen. So betrachtet stellt
das Judentum einen ethnisch-religiösen Konnex dar, einem vernetzten System
konzentrischer Kreise gleichend, mit starken Kernen, Mitgliedschaften und
Identifikationen bei all jenen, die in und mit jüdischen Institutionen
leben, und abgeschwächten Zugehörigkeitsempfindungen jener, die weder durch
Sozialisation, Lebenslauf oder Überzeugung motiviert ihr Leben jenseits der
institutionellen Kerne verbringen.
Der auf den ersten Blick unentwirrbare Konflikt, in den der jüdische Staat
aufgrund seiner Bedrohung, aufgrund seiner grundsätzlich
völkerrechtswidrigen, im Einzelnen oft menschenrechtswidrigen Besatzungs-
und Siedlungspolitik im Westjordanland sowie aufgrund eines immer wieder
aufflammenden palästinensischen Terrors geraten ist, schafft damit nicht nur
Verdruss, zerstört nicht nur Illusionen, sondern führt auch in Israel und
der jüdischen Diaspora zu Solidarisierungen und gruppenbezogenen
Feindschaften, die neuerdings in Vorwürfen gipfeln, entweder jüdischer
Antisemit oder ganz unjüdischer, chauvinistischer Rassist zu sein. Ein
Beispiel dieser Debatte wurde den Lesern der „Blätter" zugänglich, als sie
in Heft 2/2007 im Dokumentationsteil die Berliner Erklärung „Schalom 5767"
zur Kenntnis nehmen konnten, in der eine Reihe mehr oder minder prominenter,
sich als Juden identifizierender Unterzeichner die deutsche Bundesregierung
mit verschiedenen Forderungen zur Nahostpolitik konfrontierten. Die Berliner
Erklärung war jedoch nur das letzte Glied in einer Kette von Einlassungen,
die seit gut einem Jahr die Öffentlichkeit beschäftigen.
Die Mearsheimer / Walt-Debatte
Die Debatte begann vor rund einem Jahr mit Beiträgen der selbst nicht
jüdischen, der realistischen Schule der US-amerikanischen Außenpolitik
zugehörigen und in Harvard lehrenden Politologen John Mearsheimer und
Stephen Walt. Diese waren in einem Aufsehen erregenden Beitrag in der
„London Review of Books" vom 23. März 2006 um den empirischen Nachweis dafür
bemüht, dass eine sich über mehrere Organisationen erstreckende "Israel
Lobby", als deren Kern das konservativen Demokraten und Republikanern nahe
stehende AIPAC (American Israeli Public Action Committee) gilt, die
Nahost-Politik der Bush-Administration nicht nur massiv beeinflusst, sondern
damit auch den nationalen Interessen der USA schadet.
Die sehr detailreiche Studie, die auf einen stärker die Interessen der
Palästinenser und der arabischen Nachbarn Israels berücksichtigenden
Kurswechsel in der Außenpolitik zielt, fand deutlichen, zum Teil wütenden
Widerspruch – nicht selten wurde sogar der Vorwurf des Antisemitismus
erhoben. Freilich merkte sogar ein jeder Solidarität mit israelischer
Politik unverdächtiger Zeuge wie Noam Chomsky an, dass es doch vor allem die
Interessen der Ölindustrie seien, welche die aktuelle US-amerikanische
Nahostpolitik bis zum Irakkrieg bestimmten – und eben nicht irgendwelche vor
allem ideologischen Vorfeldorganisationen.
Ohne von ihr direkt verursacht worden zu sein, kam es im Anschluss an die
Mearsheimer/Walt-Debatte auch in der jüdischen Diaspora zu verschiedenen
Artikulationen des Protests gegen die israelische Besatzungspolitik –
vorgetragen von jüdischen Persönlichkeiten, deren Auftritt immer wieder als
mutiger Tabubruch erschien. Doch ist schon diese Wahrnehmung, insgesamt
betrachtet, schlicht falsch und zwar einfach deshalb, weil nichts von diesen
Argumenten und Einwänden in irgendeiner Weise originell ist: die führende
israelische Tageszeitung „Ha'aretz" betreibt seit Jahren nichts anderes als
eine präzise und prägnante Kritik der Besatzungs- und Siedlungspolitik,
während israelische Menschenrechtsorganisationen wie die Women in Black hier
in praxi etwas vollbringen, wovon der papierene Protest der Verfasser von
Erklärungen weit entfernt ist: Zivilcourage im Belagerungszustand. Die
intensive Debatte innerhalb der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit beweist
vielmehr, dass es den meisten Interpellanten gar nicht um den
Palästinakonflikt selbst geht, sondern um einen bestimmten, ihren eigenen
Entwurf jüdischer Identität, den sie gegen vermeintlich israelhörige
Gemeindevorstände zu Gehör bringen wollen.
Alfred Grosser:
Der elitäre Humanismus der Diaspora
In gewisser Weise beerben diese jüdischen Kritiker israelischer
Besatzungspolitik ein inzwischen völlig entleertes biblisches Motiv: So
stehen derartige Interpellanten in einer kaum noch erkennbaren,
säkularisierten und verzeichneten Tradition des alttestamentlichen
Heiligkeitsgesetzes („Heilig sollt ihr mir sein") in Leviticus 19,2 bzw. des
jesajanischen Zuspruchs in Jesaja 42,6, in denen den Israeliten und Judäern
die Aufgabe zugesprochen wird, ein Licht unter den Völkern zu sein. Wie der
in Berkeley lehrende Historiker Yuri Slezkine in seiner brillanten Studie
„Das jüdische Jahrhundert" (Göttingen 2007) darlegt, wurden im frühen 20.
Jahrhundert, also im Zeitalter der Assimilation, des bürgerlichen Aufstiegs
der Juden nach der Befreiung aus den Ghettos, aber auch im Zeichen der
russischen Revolution diese säkularisierten biblischen Gerechtigkeitsmotive
für viele junge jüdische Intellektuelle zum Restbestand eines Judentums, das
sie ob seines Konservativismus verlassen und unter dem sie nur noch eine
radikalisierte universalistische Moral verstehen wollten.
Ein prägnantes Beispiel für diese Einstellung liefert der als Kind in die
französische Emigration getriebene Politologe Alfred Grosser, der über seine
stets betonte jüdische Herkunft hinaus in jüdischen Angelegenheiten eher
unbekannt und wohl auch wenig bewandert ist. Grossers Beitrag „Warum ich
Israel kritisiere", der am 20. Februar d.J. in der „Frankfurter Rundschau"
erschien, artikuliert diese Haltung in idealtypischer Klarheit.
Grosser, der sich in diesem Beitrag zu Anfang als Sprössling einer offenbar
deutsch-nationalen, hochassimilierten jüdischen Familie vorstellt, bekundet,
gerade der erlittenen Verfolgung wegen sich nicht nur um den demokratischen
Wiederaufbau Deutschland sorgen zu müssen, sondern auch aus der Erfahrung
der eigenen Verfolgung heraus besondere Lehren gezogen zu haben. Daher auch
seine Solidarität mit deutschen Opfern des Zweiten Weltkrieges, „weil wir
von keinem jungen Deutschen verlangen konnten, das Ausmaß von Hitlers
Verbrechen zu verstehen, wenn wir nicht Verständnis zeigten für das
Schicksal der Seinen. Ebenso kann man von keinem jungen Palästinenser
verlangen, die Opfer der schrecklichen Attentate zu beklagen, wenn das
Leiden der Seinen ignoriert wird."
Jude sein – das gipfelt für Grosser, der nach eigenem Bekenntnis ein echter,
„sein Vaterland liebender Franzose" geworden ist, darin, aus der Erfahrung
eigener Verfolgung ein konsequenter moralischer Universalist sein zu wollen,
der überall, wo Unrecht und Menschenrechtsverletzungen geschehen, seine
Stimme zu erheben hat – so schon früh gegen die von der Kolonialmacht
Frankreich verantworteten Gräuel im Algerienkrieg. Vor diesem Hintergrund
kann es jemanden wie Grosser, der keine Gelegenheit auslässt, sich kritisch
auch mit Formen des islamistischen Judenhasses auseinander zu setzen, nur
schmerzen, dass ausgerechnet der jüdische Staat völker- und
menschenrechtswidrig handelt.
Indes: Auch Grosser verstärkt mit seinem Beitrag auf fatale Weise den
antisemitischen Eindruck, als dürfe das, was dauernd in Israel und außerhalb
Israels geschieht, nämlich eine öffentliche Kritik an der Politik
israelischer Regierungen, nicht geäußert werden. Zudem positioniert sich –
und damit beginnt das Problem dieser Art von jüdischer Dissidenz – Grosser
zu grundlegenden Fragen der israelischen Existenz, und zwar so, dass er die
Folgen seiner Antworten nicht zu tragen hat. So bringt er mehr oder minder
deutlich das „Rückkehrrecht" der Palästinenser ins Spiel, wohl wissend, dass
die vollzogene Rückkehr das demographische Ende des jüdischen Staates wäre.
Darüber hinaus kritisiert er nicht nur die Linienführung des Grenzzauns,
sondern diesen selbst, ohne sich intensiver damit zu befassen, dass durch
den Zaun die Häufigkeit von Selbstmordanschlägen gegen die israelische
Zivilbevölkerung zurückgegangen ist. Der vaterlandsliebende Franzose zitiert
mit gebremster Empörung eine Umfrage der genannten, linksliberalen
Tageszeitung „Ha'aretz" in Israel, nach der 68 Prozent der jüdischen
Befragten antworten, lieber nicht mit Arabern in einem Hause leben zu
wollen. Die selbstverständliche Zurechnung zielt auf den moralischen Verfall
der israelischen Juden – die nahe liegende Frage, wie viele Araber denn
gerne mit Juden in einem Haus leben würden, zieht er ebenso wenig in
Erwägung wie die mögliche Frage, wie denn seine französischen Landsleute auf
eine solche Frage geantwortet haben würden.
An alledem wird das grundsätzliche Dilemma dieser Form eines ebenso
distanzierten wie elitären Humanismus deutlich: Während es in der
globalisierten Welt das selbstverständliche Recht, vielleicht sogar die
Pflicht eines jeden Menschen ist, gegen Menschenrechtsverletzungen
allüberall einzutreten, wirken besondere Ermächtigungsklauseln beim
Eintreten für mehr Moral fragwürdig. Denn das gilt selbstverständlich für
all jene, die sich aufgrund eines auch nur marginal gelebten Judentums in
der Diaspora ermutigt und ermächtigt sehen, die Politik israelischer
Regierungen anzuklagen: dass sie selbst nämlich die Folgen einer veränderten
Politik im Guten wie im Schlechten nicht zu tragen haben. Das Gewicht, nicht
die Berechtigung von Kritik aber ist allemal an die Bereitschaft zur
Übernahme von Verantwortung gebunden – eine Verantwortung, die der
universalistische Grosser völlig zu Recht, als vaterlandsliebender Franzose
in Frankreich, in Europa, nicht aber für Israel wahrnehmen kann.
Tony Judt:
Politische Verzweiflung und die linkszionistische Utopie
Eine solche Verantwortungsübernahme aber ist mehr und schwerer, als
lediglich Moral zu predigen und es allenfalls zu riskieren, da und dort
einmal ausgeladen zu werden. So wie es Tony Judt, dem bekannten
Europahistoriker ergangen ist, der in mehreren Beiträgen und Interviews zur
Geschichte des Staates Israel und seiner aktuellen Politik im Grundsatz
kritisch und im aktuell konkreten Fall eher ablehnend Stellung nahm und dann
– angeblich nach Interventionen amerikanisch-jüdischer Lobbyorganisationen,
des American Jewish Committee und der Anti Diffamation League – vom
polnischen Generalkonsulat in New York von einem bereits zugesagten Vortrag
im Oktober 2006 wieder ausgeladen wurde. Sosehr die bisher keineswegs sicher
belegten Interventionen dieser Lobbyorganisationen zu bemängeln sind, so
sehr fällt auf, dass es denn doch eine polnische Institution war, die Judt
erst ein- und dann wieder ausgeladen hat. Ist der Stand Polens, eines der
treuesten Verbündeten der USA im Irak und bei der Stationierung von
Raketenabwehrsystemen, in den Vereinigten Staaten wirklich so schwach?
Hatten das polnische Außenministerium und das ihm unterstehende
Generalkonsulat wirklich gute Gründe, eventuelle Pressionen jüdischer
Lobbyorganisationen zu fürchten? Für wie groß hielt diese polnische Instanz
den Einfluss einiger jüdischer Organisationen? Oder west hier am Ende eine
antisemitische Phantasmagorie von der „Macht der Ostküstenpresse"?
Worum ging es in der Sache? Judt, Direktor der Remarque-Instituts an der New
York University, ein glänzender Kenner der europäischen Geschichte nach dem
Zweiten Weltkrieg, machte sich bei den benannten Lobbyorga- 424 Micha
Brumlik Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2007 nisationen
dadurch missliebig, dass er – zunächst lange unbemerkt – schon in der
Ausgabe der „Blätter" vom Dezember 2003 (und parallel dazu in der deutschen
Ausgabe von „Le Monde diplomatique") das Scheitern der Friedensbemühungen im
Zeichen der Roadmap feststellte und angesichts der demographischen
und siedlungsgeographischen Trends für das vermeintlich Undenkbare als „die
Alternative" eintrat: für einen jüdisch-palästinensischen, binationalen
Staat, wie er nicht wenigen linken Zionisten, etwa Martin Buber, bis 1948
vorschwebte.
Diese Vorstellung ist, das dürfte auch Judt bewusst sein, nach bald
einhundert Jahren Hass und Gewalt zwischen Juden und Palästinensern höchst
unrealistisch; und auch Judt dürfte wissen, dass realpolitisch gesehen
mittelfristig an einer Zweistaatenlösung nichts vorbeiführt. Denn obwohl der
Nationalstaat weltweit als politisches Organisationsmodell strukturell
längst überholt ist, werden wir doch auch in gemäßigteren Zonen Zeugen der
immer neuen Gründung von bei ihrem Entstehen schon veralteten Staaten
nationalen Zuschnitts: so im ehemaligen Jugoslawien, so bei der
einvernehmlichen Scheidung zwischen Tschechien und der Slowakei, so sogar,
jedenfalls konzeptionell, in den immer wieder neu aufflammenden Debatten und
Abstimmungen in Nordamerika um die mögliche Unabhängigkeit der Provinz
Quebec.
Tony Judts Vorschlag, der als Jugendlicher eine hebräische Schule besuchte,
im Haus seiner Großeltern mit jiddischer Kultur erzogen wurde und nach der
Schule ein Jahr in einem israelischen Kibbuz lebte, ist eher der Ausdruck
politischer Verzweiflung vor dem Hintergrund einer lebenslang favorisierten
linkszionistischen Utopie denn ein ernsthaftes politisches Programm. Die
Wut, die er sich seitens jüdischer Organisationen zugezogen hat, dürfte vor
allem daraus resultieren, dass hier jemand, den man der „eigenen" Seite
zurechnete, auf die vermeintlich „andere" Seite wechselte.
Der Kampf in der Diaspora
An den Einlassungen Grossers und Judts lässt sich eine wesentliche Differenz
beobachten: hier ein Intellektueller, für den das Judentum zu einem
ausgedünnten, höchst selektiv verwendeten Erinnerungsposten
universalistischer Moral geschrumpft ist, der allen Formen jüdischer
Gemeinschaft weitgehend entfremdet lebt, dort ein anderer Intellektueller,
der sich zeit seines Lebens dem ethnisch-religiösen Konnex des jüdischen
Volkes zugerechnet und sich an dessen vielfältigen Debatten beteiligt hat.
Es leuchtet ein, dass die Äußerungen engagierter und identifizierter
Intellektueller – das zeigt sich auch an der Gegnerschaft – im Konkreten
mehr sachliches und moralisches Gewicht haben als der auf ein
Verfolgungsschicksal gegründete Appell an universalistische Moral. Das
Gewicht, das dem patriotischen Franzosen und engagierten Europäer Alfred
Grosser in Fragen etwa des deutsch-französischen Verhältnisses zukommt, wird
er im Hinblick auf das Israel-Palästina-Problem nie erringen. Das erklärt
auch die weitgehende kommentarlose Hinnahme seiner Einlassungen.
Ähnliches ist an zwei öffentlichen Erklärungen jüdischer Initiativen in
Großbritannien und Deutschland zu beobachten.
So hat eine im Vereinigten Königreich gegründete Organisation, Independent
Jewish Voices, eine in Tonfall und Inhalt höchst maßvolle Erklärung
publiziert, die bisher etwa 350 jüdische, meist akademische Persönlichkeiten
unterschrieben haben, unter ihnen etwa der bekannte Historiker Eric Hobsbawm
und der Dramatiker Harold Pinter – beides Persönlichkeiten, die sich
übrigens – ähnlich wie Alfred Grosser – in ihrem bisherigen Leben nicht
durch besondere Identifikation mit der jüdischen Gemeinschaft hervorgetan
haben.
Die Erklärung selbst weist fünf Punkte auf:
1. Die Menschenrechte sind universal und unteilbar und sollten ausnahmslos
eingehalten werden. Dies gilt für Israel und die besetzten palästinensischen
Gebiete ebenso, wie es anderswo gilt.
2. Die Palästinenser haben genau wie die Israelis das Recht auf ein
friedliches und sicheres Leben.
3. Frieden und Stabilität erfordern die Bereitschaft aller Konfliktparteien,
das Völkerrecht zu befolgen.
4. Es gibt unter keinen Umständen eine Rechtfertigung für irgendwelchen
Rassismus, einschließlich Antisemitismus, antiarabischen Rassismus oder
Islamophobie.
5. Der Kampf gegen Antisemitismus ist von vitaler Bedeutung und wird
untergraben, sobald Opposition gegen die israelische Regierungspolitik
automatisch als antisemitisch gebrandmarkt wird.
Angesichts dieser so weitgehend konsensfähigen Erklärung fragt man sich,
warum etwa der Redakteur Christian Schlüter in der „Frankfurter Rundschau"
vom 28. Februar d. J. wünscht, dass diese Stellungnahme auch in Deutschland
weiter verbreitet und diskutiert würde. Beglaubigen die fünf Punkte doch
nichts anderes als das, was hierzulande ohnehin von rechts bis links alle
Parteien des Deutschen Bundestages und den überwiegenden Teil der Verbände,
sofern sie zum Nahostproblem überhaupt eine Meinung äußern, verbindet.
Problematisch ist allenfalls die mit dieser Erklärung verbundene
Unterstellung, dass die Organisationen des britischen Judentums geradezu mit
Nibelungentreue (was de facto gar nicht der Fall ist) jede Aktion jeder
israelischen Regierung rechtfertigen; brisant ist allenfalls die weitere
Unterstellung, dass mögliche Kritik an israelischen Regierungen als
antisemitisch gebrandmarkt wird. Ist dem aber tatsächlich so?
Ein paar Belege dafür hat der durch seine Angriffe auf die von ihm so
genannte „Holocaust-Industrie" bekannt gewordene Autor Norman G. Finkelstein
in seinem kürzlich erschienenen Buch „Antisemitismus als politische Waffe.
Israel, Amerika und der Missbrauch der Geschichte" (München 2006) vorzulegen
versucht. Ein Beispiel für das, was der hochtendenziöse Autor Finkelstein
wohl meint, könnte etwa in der zu Beginn dieses Jahres vom US-amerikanischen
Zweig des American Jewish Committee in Auftrag gegebenen Broschüre des in
Bloomington, Indiana lehrenden Professors der Literaturwissenschaft, Alvin
H. Rosenfeld, vorliegen. (Von der deutschen Zweigstelle des AJC in Berlin
wird die Broschüre derzeit eher unter Verschluss gehalten; sie kann aber im
Internet heruntergeladen werden.) Unter dem Titel „‚Progressive‘ Jewish
Thought and the New Antisemitism" setzt sich Rosenfeld mit dem auseinander,
was er vor dem Hintergrund eines sich verstärkenden populären Judenhasses in
der islamischen Welt als mindestens problematische, wenn nicht sogar
antisemitische oder doch antisemitisch wirkende Beiträge jüdischer
Persönlichkeiten wertet: darunter Organisationen progressiver Rabbiner, von
Intellektuellen wie der britischen Autorin Jacqueline Rose, des kanadischen
Philosophieprofessors Michael Neumann und Tony Judts. Jacqueline Rose etwa
war eine intellektuelle Weggefährtin des inzwischen verstorbenen,
postmodern-kritischen, US-amerikanisch-palästinensischen Autors Edward Zaid,
dessen Studie zum „Orientalismus" ein Wegbereiter der postkolonialen Debatte
wurde.
Jacqueline Rose publizierte 2005 in der Princeton University Press ein Buch
unter dem Titel „The Question of Zion", dem Rosenfeld tatsächlich eine Reihe
schwerer, sachlicher Fehler nachweisen kann, dem er aber vor allem Roses
Behauptung ankreidet, dass Israel die Sicherheit der jüdischen Diaspora
gefährde, dass Israel „schlecht für die Juden" sei. Vor allem aber weist
Rosenfeld Roses Meinung zurück, dass die kriegerischen Verstrickungen
Israels sinnvoll im Vokabular der „Tragödie" beschrieben werden könnten.
Damit bezieht sich Rosenfeld nicht auf den arabischen Begriff der „Nakba",
also auf die als „Katastrophe" bezeichnete Vertreibung von etwa 700 000
Arabern im Jahre 1948, sondern kritisiert eine Form der
Geschichtsbetrachtung, die das zionistische Projekt, gemessen an seinen
eigenen Vorsätzen, letztlich doch als gescheitert ansehen will.
Schließlich moniert er Roses Behauptung, dass die zionistische Vision von
Anfang an die Keime der späteren politischen Katastrophen in sich getragen
habe. Rosenfeld kritisiert zudem Roses postmoderne Ablehnung des Begriffs
der Nation und vermerkt mit einem gewissen Recht, dass Äußerungen, wonach
Israel jene Form des Nationalstaats verkörpere, vor dem Juden hätten fliehen
müssen, den Staat Israel indirekt mit dem NS-Staat gleichsetzt.
Ein klarer Fall von auch unter Juden vorkommendem Antisemitismus ist
demgegenüber der bisher völlig unbekannte kanadische Philosoph Michael
Neumann, der sich tatsächlich zu Äußerungen hinreißen lässt, wonach die
Klage über jedes Vergießen jüdischen Blutes als welterschütternder
Katastrophe „schlicht und ergreifend rassistisch" sei, nämlich „die
Wertschätzung des Blutes einer Rasse über das aller anderen". Rose
unterstellt Israel gegenüber den Palästinensern sogar eine genozidale
Haltung und bekennt: „Wenn man sagt, das sei antisemitisch, kann es sinnvoll
sein, antisemitisch zu sein."
Antisemitismus unter Juden
Damit ist man am schmerzhaftesten Punkt einer Debatte unter Juden angelangt:
dem Umstand, dass einige Juden andere Juden als „Antisemiten" bezeichnen.
Doch wer das tut, begeht jedenfalls keinen grundsätzlichen Fehler. Denn so
wie es frauenfeindliche Frauen oder schwulenfeindliche Homosexuelle gibt,
kann es auch jüdische Antisemiten geben. Ob es sie gibt, ist eine
empirische, keine begriffliche Grundsatzfrage. Diesem Phänomen hat der
Philosoph Theodor Lessing bereits 1930 seine klassische Studie „Der jüdische
Selbsthass" gewidmet, wobei dieser Begriff, den Lessing am Schicksal des
jungen Philosophen Otto Weininger gewonnen hatte – der sich nach dem
Verfassen eines juden- und frauenfeindlichen Traktats aus Verzweiflung über
seine jüdische Herkunft umgebracht hatte – eher unpräzise ist. Denn das,
wogegen jüdische Antisemiten vorgehen, ist ja gar nicht ihr jüdisches
„Selbst", sondern eine Konzeption des Judentums, die nicht die ihre ist.
So dürfte es auch nach hiesigem Verständnis keine besondere Schwierigkeit
bereiten, den ultraorthodoxen Wiener Rabbiner Moshe Aryeh Friedman, der an
Ahamdinedschads Holocaustleugnungskonferenz teilgenommen hat, als jüdischen
Antisemiten zu bezeichnen – und das dem Umstand zum Trotz, dass er sich als
Verkörperung eines wahren, radikal antizionistischen Judentums versteht, das
den Staat Israel ablehnt, weil er Gottes messianischer Verheißung
zuwiderlaufe. Inzwischen ist Friedman, der schon vor Jahren der „Deutschen
National- und Soldatenzeitung" Gerhard Freys gerne Interviews gewährte, aus
der Jüdischen Gemeinde Wien ausgeschlossen worden. Aber trifft die
Bezeichnung „jüdischer Antisemit" auch auf Personen wie Rose, Judt oder
progressive Rabbis for a Just Peace zu?
Die politisch engagierte Antisemitismusforschung scheint hier uneins zu
sein. Als Mitte Februar – so der Bericht von Matthias Küntzel in der
„Jüdischen Allgemeinen" vom 22. Februar – in Jerusalem ein „Weltforum gegen
Antisemitismus" tagte, das von der israelischen Außenministerin Zipi Livni
unter Verlesung von Auszügen der nach wie vor gültigen Charta der Hamas
eröffnet wurde, sorgte der Vortrag eines Professors der London University,
Anthony Julius, für heftige Debatten. Julius, der sich mit den Differenzen
zwischen dem Antisemitismus der Nationalsozialisten und sogenanntem Neuem
Antisemitismus befasste und diesen, auch von Juden getragenen, Neuen
Antisemitismus nicht dem Staat, sondern der Zivilgesellschaft zurechnete,
stieß auf Widerspruch, als er sich dann doch dafür entschied, bei den
benannten Phänomenen eher von „Neuem Antizionismus" zu sprechen.
Sind also radikale, jede ethnische Solidarität aufkündigende jüdische
Kritiker des jüdischen Staates Antisemiten? In der Regel gewiss nicht,
insoweit ist Julius beizupflichten, – bisweilen aber verführt sie ihre
Empörung über die israelische Politik dazu, Antisemitismus herunterzuspielen
bzw. mit einem Discount des Wohlwollens zu versehen. So auch die bereits
angesprochene Berliner Erklärung „Schalom 5767", die auf Initiative von
Prof. Rolf Verleger, Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Lübeck, entstanden
ist. Verleger, ein ethnisch identifizierter und engagierter Jude mit
Verwandtschaft in Israel, hatte der Dachorganisation Jüdischer Gemeinden in
Deutschland, dem Zentralrat, ohne das in diesem Gremium vorher zur Sprache
gebracht zu haben, in öffentlichen Verlautbarungen vorgehalten, sich während
des letzten Krieges im Libanon kritiklos mit der israelischen
Kriegsführungspolitik solidarisiert zu haben. Inzwischen ist Verleger aus
seinen Ämtern in der Jüdischen Gemeinschaft abgewählt worden und wird von
Teilen der Friedensbewegung als Redner durchs Land gereicht.
Die Berliner Erklärung, unterschrieben immerhin von einem der bedeutendsten
deutschsprachigen Philosophen, Ernst Tugendhat, dem stets engagierten, in
Toronto und Berlin lehrenden Soziologen Prof. Michal Bodemann und dem
bedeutenden Bildungsforscher Wolfgang Edelstein, erhebt Forderungen und
macht Vorschläge, die denen der israelischen Friedensbewegung entsprechen
und beklagt schließlich, dass das aus Scham und Trauer geborene deutsche
Schweigen gegenüber Israel weiteres Unrecht ermögliche; eine Annahme, die
angesichts der realen Kräfteverhältnisse im Nahen Osten und der durchaus
offenen Diskussion in den deutschen Medien jeden Realitätsgehaltes entbehrt.
Doch ist damit das Hauptproblem der Berliner Erklärung noch gar nicht
benannt. Dieses „Hauptproblem" findet sich in einer hinter einem
Spiegelstrich aufgeführten Forderung an die Bundesregierung: „kurzfristig
den Boykott der Palästinensischen Autonomiebehörde zu beenden". Die
Erklärung übergeht die Gründe für diesen, von EU und internationaler
Gemeinschaft verhängten Boykott: die seitens der von der Hamas gestellten
Autonomieregierung erklärte Weigerung, das zu tun, was im internationalen
Recht das Selbstverständliche ist, nämlich die von Vorgängerregierungen
geschlossenen Verträge zu erfüllen, das heißt in diesem Fall, den Staat
Israel anzuerkennen und auf Gewalt zu verzichten. Aus einer im engeren Sinn
jüdischen Sicht kommt das nach wie vor gültige politische Programm der Hamas
hinzu, die – sehr viel radikaler als andere, auch und gerade islamistische
Parteien – ein explizit antisemitisches, eliminatorisch-judenfeindliches
Programm ihr Eigen nennt, das – 1988 (!) verfasst – nicht nur behauptet,
dass die Juden, die hier immer als „Zionisten" gekennzeichnet sind, nicht
nur hinter der französischen Revolution, der russischen Revolution und
beiden Weltkriegen stehen, sondern mit alledem auch noch heute Völker und
Regierungen bestimmten. Derlei Behauptungen über das Programm der Hamas
galten bisher im Meinungskampf oft als üble Nachrede – seit kurzer Zeit kann
sich der deutsche Leser davon aus einer unverdächtigen und
vertrauenswürdigen Quelle überzeugen: Die in Bir Zeit lehrende Politologin
Helga Baumgarten hat das Programm ihrem 2006 erschienenen Buch „Hamas. Aus
dem palästinensischen Widerstand in die Regierung" in einer gut lesbaren
deutschen Übersetzung beigegeben.
Angesichts dessen kann man den Unterzeichnern der Berliner Erklärung
allenfalls zugute halten, sich in ihrem moralischen Furor nicht genügend
informiert zu haben, sonst müsste man ihnen eben doch vorhalten, mit einer
erklärtermaßen antisemitischen Partei teilweise gemeinsame Sache zu machen
oder den Antisemitismus der Hamas zumindest billigend in Kauf zu nehmen.
Dass sie sich damit aus jedem konstruktiven Diskurs auch in der jüdischen
Diaspora herauskatapultiert haben, liegt auf der Hand. Es dürfte in ihrem
Leben das erste Mal gewesen sein, dass sich die Professoren Bodemann,
Edelstein, Verleger und Tugendhat mit einer dezidiert antisemitischen Partei
solidarisiert haben.
Die genozidale Bedrohung
Die Gereiztheit der „innerjüdischen" Debatte dürfte sich aber vor allem
daraus erklären, dass der Staat Israel durch die Entwicklung des iranischen
Atomprogramms, begleitet von den Eliminationsdrohungen nicht nur Präsident
Ahmadinedschads, derzeit der einzige Staat auf der Welt ist, der von einem
atomaren Holocaust bedroht ist. Der Hinweis darauf, dass Ahmadinedschads
Drohungen nicht ernst gemeint seien, dass es bis zur möglichen
Fertigstellung von iranischen Atombomben noch fünf Jahre dauern könnte und
dass ein atomarer Angriff Irans auf Israel allen Kriterien politischer
Vernunft widerspreche, verfängt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft im
Ganzen kaum. Auch Adolf Hitler raunte schon 1933 vom Untergang der Juden;
zudem lassen sich der visionäre Ahmadinedschad und seine Anhängerschaft auf
keinen Fall mit den nüchtern kalkulierenden Machtpolitikern Breschnew,
Tschernomyrdin und schließlich Gorbatschow vergleichen; und schließlich hat
der Holocaust schon alleine deshalb, weil er tatsächlich stattgefunden hat,
bewiesen, dass derlei im Grundsatz immer wieder möglich ist.
Man kann es auch nüchterner, in der Sprache der Sozialpsychologie und der
Genozidforschung ausdrücken: Das jüdische Volk, der religiös-ethnische
Konnex der Juden, hat vor etwas mehr als 60 Jahren einen Genozid erleiden
müssen, wie ihn die Weltgeschichte zuvor nicht gekannt hat. Am 6. Januar
d.J. hat der in Beer Sheva lebende Historiker Benny Morris, der als Erster
der Vertreibung der Palästinenser durch die israelische Armee und Milizen im
Krieg von 1948 eine seriöse und sorgfältige Studie gewidmet hat, in der
„Welt" einen Aufsehen erregenden Artikel unter dem Titel „Der zweite
Holocaust" veröffentlicht. „Aber die Iraner", so Morris' erschreckende
Vision, „werden von einer höheren Logik getrieben. Und sie werden ihre
Raketen zünden. Und wie im ersten Holocaust wird die internationale
Gemeinschaft nichts tun. Für Israel wird alles in ein paar Minuten vorbei
sein. Wenn die Schihabs gefallen sind, wird die Welt Rettungsschiffe und
medizinische Hilfe für die nur leicht Verbrannten schicken. Sie wird den
Iran nicht nuklear auslöschen. Zu welchem Zweck denn und um welchen Preis?
Eine nukleare Antwort der Amerikaner würde den Krieg der Kulturen noch
schlimmer und umfassender machen. Und sie würde natürlich Israel nicht
zurückbringen."
Die politischen Ziele von Hamas, Hisbollah und gegenwärtiger iranischer
Staatsführung sind derzeit auf eine Elimination nicht nur des jüdischen
Staates, sondern auch der jüdischen Bevölkerung Israels ausgerichtet. Das
mindestens wahrzunehmen fordert jede nüchterne politische Betrachtung, die
mehr will, als lediglich wohlfeil und frei von allen Folgen
universalistische Moral einzufordern. Indes: Einen zweiten Genozid – und sei
er „nur" auf Israels Bevölkerung beschränkt, deren Territorium nicht größer
als Hessen ist – wird es 75 Jahre nach Befreiung der Konzentrationslager mit
Sicherheit nicht geben, weil weder der jüdische Staat noch seine
Parteigänger (jüdische und nichtjüdische) weltweit bereit sein werden, einer
solchen Entwicklung tatenlos zuzusehen. Auch die düstere Vision von Benny
Morris ist als Warnruf zu verstehen, und zwar so, dass es – wenn
diplomatische Mittel in den nächsten Jah- 430 Micha Brumlik Blätter für
deutsche und internationale Politik 4/2007 ren nichts ausrichten –
schließlich zur militärischen Zerstörung der iranischen Atomanlagen kommen
wird. Über die mit dieser Bereitschaft verbundenen Risiken sollte sich
niemand täuschen. Wer, wie gewiss nicht wenige wohlmeinende,
universalistisch orientierte, dem Judentum und seiner Lebensform jedoch
elitär entfremdete Jüdinnen und Juden dieses Grundgefühl genozidaler
Bedrohtheit nicht versteht und die Wirklichkeit eliminatorischen Strebens
nicht mindestens ernsthaft und nicht nur rhetorisch zur Kenntnis nimmt, wird
auch weiterhin mit heftiger Feindschaft seitens der Mehrheit von Juden in
Israel und der Diaspora rechnen müssen.
Zuerst erschienen in Analysen und Alternativen:
Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2007
Heute im Jüdischen Kulturmagazin:
Linker Antisemitismus und
Nahostkonflikt
Unter dem Motto "jewish topics and literature" geht es um
Brumliks gerade erschiene "Kritik
des Zionismus". Hier stellt er, sechzig Jahre nach der Gründung des
Staates Israel und vierzig Jahre nach der Eroberung und Besiedlung des
Westjordanlandes, die Frage nach den faktischen, moralischen und kulturellen
Bedingungen, unter denen das jüdische Volk sich "zu einer modernen Nation
mit einem modernen Nationalstaat" bildete...
Eine Antwort auf Alvin Rosenfeld:
Selbstbewusst ohne
Selbsthass
Alvin Rosenfeld hat recht. Jedenfalls mit vielem, was er sagt. Tun wir ihm
und uns den Gefallen, dies gleich am Anfang einzuräumen. Natürlich gibt es
jüdischen Selbsthass. Diese Erkenntnis ist wahrlich nicht neu. Wie soll das
auch anders sein in einer Welt, in der wenige Juden von unzähligen
"Judenbildern" förmlich umstellt sind... |