Portrait Zur Erinnerung an Simone Weil:
Eine Spurensuche in England
Am 24. August starb vor 64. Jahren die französische
Philosophin Simone Weil
Von Lene Zade
Seit etwa einer Stunde stolpern wir nun schon über den
städtischen Friedhof von Ashford in der Grafschaft Kent in Großbritannien.
Wir suchen das Grab von Simone Weil. Die französische Philosophin starb am
24. August 1943 mit nur 34 Jahren an Tuberkulose und Auszehrung im
Sanatorium der Kleinstadt. 64 Jahre später, ein sommerlicher
Samstagnachmittag. Die Blumenläden sind alle geschlossen, wir haben nichts,
was wir niederlegen könnten, wenn wir das Grab fänden.
Mehrfach laufen wir das gesamte Areal ab . und versuchen
verwaiste Grabsteine zu entziffern. Einige Gräber sind so verfallen, dass
die Grenze zwischen Grab und Wiese nicht mehr auszumachen ist. Unsere
einzige Hilfe ist ein unscharfes Foto aus einer der unzähligen Biografien
über Simone Weil und der Hinweis, dass sie zwischen dem jüdischen und dem
katholischem Sektor des Friedhofes begraben worden sei. Doch das scheint
eine Projektion der Biografie Weils auf die Topografie des Friedhofes zu
sein, denn eine Anordnung der Grabstätten nach Konfessionen lässt sich beim
besten Willen nicht ausmachen.
Simone Weil war beides, jüdisch und katholisch, und
gleichzeitig weder das eine noch das andere. Ihr Familienname identifizierte
sie als jüdisch und die koscher kochende Großmutter soll einmal zu ihr
gesagt haben: "Lieber würde ich dich tot vor mir sehen als verheiratet mit
einem Goj". Doch diese harschen Worte tangierten das junge Mädchen kaum,
jüdisch war eben eine Eigenschaft der Großmutter. Die Eltern waren
Freidenker und wenn Großmutter mal wieder zu Besuch war, erzählte Simone
Weils Vater, der angesehene Arzt, am Abendbrottisch mit Vorliebe
antijüdische Witze. Sorgen hatte die Familie keine. Die Ehe der Eltern war
außerordentlich glücklich und die beiden Kinder hoch begabt. Simone Weils
Bruder Andre sollte später Mathematiknobelpreisträger werden.
Die Stärkung antijüdischer Ressentiments in der
antisemitischen Politik der Vichy-Regierung konnte die Familie Weil nicht
ignorieren. Sie musste 1942 in die USA fliehen. Zuvor hatte sich Simone Weil
an das französische Erziehungsministerium gewandt, um sich darüber zu
beschweren, dass ihr nach einer krankheitsbedingten Beurlaubung keine neue
Anstellung angeboten wurde. Nach ihrer Ausbildung an der Ecole Normale
Superieure, die sie 1931 - und mit herausragend guten Noten abschloss - nur
elf von 107 Kandidaten bestanden die Prüflingen überhaupt - arbeitete Simone
Weil als Philosophielehrerin im staatlichen Schuldienst. In Anlehnung an das
"Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentum", das ab 1933 in
Deutschland alle Juden aus öffentlichen Ämtern vertrieb, wurde 1940 in
Frankreich der "Status de juifs" erlassen.
In ironischem Ton wies Simone Weil die religiöse wie auch
die rassistische Kategorie "jüdisch" nicht nur von sich, sondern führte die
in diesem Gesetz festgeschriebenen Definitionen des Jüdischen in ihrer
immanenten Logik ad absurdum. Die zuständigen Behörden legten den Vorgang
unter die Kategorie "Israelitin" ad acta - selbstverständlich ohne zu
antworten.
1935 hatte sie ein kleines portugiesisches Fischerdorf
besucht und beeindruckt von dem katholischen Glauben der wirtschaftlich
Ärmsten, das Christentum als Religion der Sklaven charakterisiert. Sie
selbst empfand sich als ihnen zugehörig. Drei Jahre später ging es ihr so
schlecht wie noch nie. Seit ihrer frühen Jugend plagten sie unheilbare
Kopfschmerzen, die das, was landläufig unter Migräne verstanden wird, in
Dauer und Intensität wohl noch übertrafen. Wiederholt musste sich Simone
Weil vom Schuldienst beurlauben lassen. In dieser Situation erlebte sie ihre
erste mystische Ekstase. Das Gebet wurde ihr zur Flucht vor dem Schmerz und
Jesus Christus zur Leitfigur ihres intellektuellen Denkens. Am Ende ihres
Lebens, nachdem sie mit zahlreichen Priestern und Gelehrten über die
christliche Lehre diskutiert hatte, lehnte sie für sich die Taufe ab. Die
Kirchenväter hätten die eigenen Wurzeln nicht erkannt, nicht das Judentum
sei der Ursprung des Christentums, sondern vielmehr die ägyptische Religion
und die griechische Philosophie und überhaupt: Die Märchen der Welt und
antike Dramen müssten endlich als Texte der wahren Christologie anerkannt
werden. Mit großem Furor schrieb Simone Weil ein Manifest: "Entscheidung zur
Distanz", in dem sie eine Vielzahl dogmatischer Fragen formulierte, von
deren Beantwortung sie ihren Beitritt zur Kirche abhängig machte.
Politisch
motivierte Askese
Die Kirche ist auf Simone Weils kategorische Forderungen
nicht eingegangen, in den letzten Tagen soll sie dennoch von einer Freundin
getauft worden sein. Doch da lag sie schon im Krankenhaus, ihre Kraft
reichte noch für liebevolle Briefe an die Eltern. Sie hatte ihr Zimmer das
sie in dem Arbeiterbezirk Notting Hill bewohnte, nicht beheizt und
angesichts der Rationierung von Lebensmitteln für die Franzosen in der
besetzten Zone, wollte sie nicht mehr essen, als ihren Landsleuten offiziell
zur Verfügung stand.
Es gab nur eine Sache, auf die sie nie verzichtete: das
Rauchen, wofür sie schon als junge Studentin bekannt war. Auf ihre
Gesundheit hat Simone Weil nie Rücksicht genommen. Durch ihre Kopfschmerzen
war sie es gewöhnt Schmerzen auszuhalten und körperliche Bedürfnisse zu
ignorieren. Dass die Schiffsreise mitten im Winter aus Amerika arid der
wochenlange Aufenthalt im britischen Lager zur Spionageabwehr ihren
kränklichen Körper angegriffen hat, ist wahrscheinlich. Doch entsprechend
ihrem politischen Anspruch beharrte sie auf einem kargen Lebensstil, alles
andere wäre ihr wie die Aufkündigung der Solidarität mit den Menschen
vorgekommen, für die sie schließlich ihre ganze Kraft einsetzte. Eine
theoretische Solidarität ohne emphatisches Mit-Leiden kam für sie nicht in
Frage. Fern der elterlichen Fürsorge, hielt ihr Körper die altruistische
Askese vier Monate durch. Am 15. April wurde sie ohnmächtig in ihrem Zimmer
gefunden und in das städtische Middlesex-Hospital eingeliefert, wo sie ihre
Askese jedoch beibehielt, woraufhin ihr die Ärzte eine "Geistesgestörtheit"
attestierten.
Heute gehört die Portland Road, in der Simone Weil wohnte,
zu den nobelsten Wohngegenden in London. Weißverputzte Einfamilienhäuser und
große Alleebäume bestimmen das Bild. Es gibt kleine Delikatessläden, edle
Cafes und einige wenige Geschäfte, die Waren für die gehobene Langeweile
anbieten. Schwer vorstellbar, wie jemand hier ein Leben in selbst gewählter
Armut zelebrieren konnte.
Doch das London von 1943 war ein anderes. Unzählige
Unschuldige starben durch "The Blitz", durch die deutschen Bombardements.
Hitlers Armeen schienen immer noch in der Offensive. Ein Ende des Krieges
war nicht in Sicht. Simone Weil weigerte sich, sich zum Objekt der
Geschichte machen zu lassen. Wenn sie schon daran gehindert wurde in ihrem
Heimatland im Untergrund aktiv gegen die Faschisten zu kämpfen und ihre
unmittelbaren Gefährten ihre theoretischen Arbeiten nicht ernst nahmen, dann
blieb ihr immer noch die symbolische Handlung, um sich der eigenen Autonomie
zu versichern. Nicht nur auf ihre Zeitgenossen wirkte dieser moralische
Rigorismus egozentrisch, lief er doch de facto auf eine gezielte
Selbsttötung hinaus.
Simone Weil wollte sich jedoch nicht umbringen, sondern
nur das Privileg des Überlebens ausschlagen, oder wie es einer ihrer
Biographen, Richard Rees, umschrieb: "selbstmörderisch war ihre asketische
Haltung nur in dem Sinne, wie die Weigerung, ein Rettungsboot zu besteigen,
damit mehr Platz für andere bliebe, selbstmörderisch wäre."
Freilich hat ihre Hungeraskese niemand anderen vor dem
Hungertod bewahrt. Simone Weil ging es um eine prinzipielle Haltung,
kleinliche Fragen nach dem unmittelbaren Nutzen ihrer Handlung ließ sie
nicht zu. Auch nahm sie sich selbst als viel zu unwichtig wahr, um für das
eigene Überleben zu kämpfen - während so viele andere starben. Es verwundert
nicht, dass die behandelnden Ärzte diese ethische Position für verrückt
hielten, alles andere hätte ihrem eigenen Berufsethos widersprochen.
Kampf
der Ideologien
Für ihre moralische Unbedingtheit war Simone Weil Zeit
ihres Lebens bekannt. Schon als Kind lehnt sie Schmuck als überflüssigen
Luxus ab. Die gutbürgerliche Erziehung in einem Haushalt mit Dienstboten
sensibilisiert das Mädchen für soziale Ungerechtigkeit. Schon als Schulkind
engagiert sie sich politisch, im Gymnasium schließlich gehört es zum guten
Ton, die kommunistische Tageszeitung Humanité zu lesen - eine harmlose
Version des Bürgerschrecks. Doch Simone Weil tut mehr als das: Gemeinsam mit
Mitschülern und ihrem wichtigsten Lehrer, dem Philosophen Alain, gründet sie
1927 die groupe d'education sociale, eine Art Volkshochschule für Arbeiter.
Wenig später tritt sie der Liga für Menschenrechte bei.
Eine ihrer Kommilitoninnen - von denen es nur vier gibt,
denn noch ist es nicht üblich, Frauen höhere Bildung zukommen zu lassen -
sucht ihre Nähe und das Gespräch. "Sie interessierte mich wegen des großen
Rufes der Gescheitheit, den sie genoss", schreibt Simone de Beauvoir in
ihren Memoiren: "Sie erklärte schneidend, dass nur eins heute auf Erden
zähle: eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde. Ich wendete
dagegen ein, das Problem bestehe nicht darin, die Menschen glücklich zu
machen, sondern für ihre Existenz einen Sinn zu finden. Sie blickte mich
fest an. 'Man sieht, dass Sie noch niemals Hunger gelitten haben', sagte
sie. Damit waren unsere Beziehungen auch schon wieder zu Ende." Eine
distanzierte Bewunderung für die Studienkollegin bewahrt sich de Beauvoir
dennoch: "Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen
Erdkreis zu schlagen."
In ihren Aufsätzen setzt sich Weil intensiv mit den
Theorien von Marx und Lenin auseinander und weist die Schwächen auf, etwa
die Fortschrittsgläubigkeit und die Nichtberücksichtigung des Krieges als
treibenden Wirtschaftsfaktor in kapitalistischen Gesellschaften. Auch das
politische System der Sowjetunion analysiert sie und warnt vor der
Herausbildung einer bürokratischen Kaste von Parteifunktionären, die sich
verselbstständigen würde, was erneut Unfreiheit für alle anderen bedeute.
Gleichwohl verwahrt sie sich gegen antikommunistische Tendenzen in ihrem
Freundeskreis. Dem Kampf der Ideologien will sie genaue
Gesellschaftsanalysen entgegensetzen. Analysen, die auf einer Kenntnis der
Praxis fußen sollen. Ein Credo, das kaum jemand so radikal in die Tat
umsetzt wie sie.
Um die Arbeitsbedingungen von Fabrikarbeit hautnah zu
erleben, lässt sie sich für ein Jahr beurlauben und verdingt sich als
Ungelernte. In einem detailliert geführten Tagebuch sind die zunehmende
Erschöpfung und Abstumpfung angesichts unmenschlicher Akkordarbeit ebenso
aufgezeichnet wie Vorschläge zur technischen Verbesserung der Maschinen.
Privilegien einzelner will sie abgeschafft wissen: "Man
muss das Geld in Verruf bringen. Es wäre nützlich, dass diejenigen, die
höchstes Ansehen oder sogar Macht besitzen, gering entlohnt werden.
Öffentlich soll anerkannt sein, dass ein Bergmann, ein Drucker, ein Minister
einander gleich sind." Von ihrem Gehalt als Philosophielehrerin spendet sie
daher konsequenterweise den größeren Teil an Arbeitslosenvereine,
anarchistische Zeitschriften und an Gewerkschaften.
1936 bricht dann tatsächlich eine Revolution aus: der
Spanische Bürgerkrieg. Simone Weil macht sich sofort auf den Weg, um an der
Seite der Anarchisten gegen Franco zu kämpfen. Nach anfänglichem
Enthusiasmus ist sie bald entsetzt über die Grausamkeiten, die auch die
linken Kämpfer an der Zivilbevölkerung anrichteten. Desillusioniert nimmt
sie wahr, dass Töten, Morden als Kriegshandwerk, in den Tötenden den Effekt
von Mitleidlosigkeit hat. Die Ideale, die mit dem Bürgerkrieg verteidigt
werden sollten, würden auf diese Weise verraten. Simone Weils Engagement
wird durch einen Unfall beendet. Den Gedanken, dass keine Ideologie es
rechtfertigt, sich über andere zu erheben, wird in den Folgejahren ihre
Philosophie tragen - und auch zur Leitidee ihres theologischen Denkens
werden.
Wider jeglichen Nationalismus
In den 40er Jahren hat Simone Weil ständig geschrieben.
Auf der Flucht, im Exil - immer hat sie Notizbücher dabei. Es sind keine
Tagebücher im üblichen Sinne, von Alltag ist nie die Rede, auch werden keine
Menschen ihrer unmittelbaren Umgebung erwähnt. Stattdessen finden sich
Gedankensplitter, Analyseansätze, Übersetzungen, Exzerpte darin. Nach ihrem
Tod bilden diese Aufzeichnungen den Grundstock einer Werkausgabe.
Ihr erster Herausgeber war kein Geringerer als Albert
Camus. Der spätere Nobelpreisträger plädierte für eine breite, öffentliche
Kenntnisnahme ihrer Schriften. Denn es erschien ihm unmöglich, "sich eine
Wiedergeburt Europas vorzustellen, welche die von Simone Weil definierten
Forderungen unberücksichtigt ließe".
Diese Forderungen zielten auf ein Verständnis von Patriotismus, der es
erlaubt, das eigene Land zu schützen, ohne andere Völker zu erniedrigen.
Beinahe ein Paradoxon angesichts der nationalistischen Bewegungen ihrer
Zeit. So schreibt sie 1937: "Man müsste auf den Gebrauch des Wortes Nation
verzichten, denn der Ausdruck "national" und alle Zusammensetzungen, in
denen er auftaucht, sind bedeutungsleer. Sie haben keinen anderen Inhalt als
Millionen Leichen, Waisen und Krüppel, Verzweiflung und Tränen."
Konzentration auf Gott
Simone Weil gebraucht einen Umweg: Um das Vaterland ohne
Hass auf andere zu lieben, braucht es die Einwurzelung des Einzelnen in
Gott. Mit der Konzentration auf Gott hoffte sie zu verhindern, dass die
Menschen falschen Götzen, also Parteien oder nationalistischen Konzepten —
und damit immer irgendwie sich selbst huldigen. Dagegen setzt sie ihr
Konzept der Decreation: Jeder einzelne müsse erstmal sein Ego abschaffen und
statt dem Insistieren auf Rechten solle jeder anerkennen, dass menschliche
Beziehungen zunächst aus der Verpflichtung bestehen, den anderen zu
respektieren. Die Existenzberechtigung eines anderen anzuzweifeln ist schon
ein Verbrechen. Eigentlich ganz schlichte Forderungen.
Hitlers Expansionskrieg und seine rassistische Politik
sind dazu das Gegenmodell - was Simone Weil bereits 1932 erkannte. Sie war
nach Deutschland gereist, um die Situation der hiesigen Arbeiterklasse und
ihrer Parteien zu analysieren und sah voraus: "Hitler bedeutet organisierten
Massenmord, Beseitigung jeder Freiheit und Kultur. Die Funktion des
Antisemitismus der Nationalsozialisten lag nahe: Mit der Einteilung der Welt
in "Arier" und Juden ließ sich wunderbar vom Klassengegensatz ablenken, der
einer völkischen Ideologie im Wege stand. Ein militärischer Feldzug ließ
sich eben nur mit proletarischem Fußvolk und imperialem Kleingeld machen. In
Artikelserien und Aufsätzen versucht Simone Weil aufzuklären, zu warnen und
Gegenkräfte zu mobilisieren.
Als die politischen Verfolgungen in Nazideutschland begannen, organisierte
sie Hilfe für die Exilierten.
Auf theoretischer Ebene jedoch griff sie das Judentum vehement an. Nachdem
sie erst als Erwachsene die Bibel gelesen hatte, war sie entsetzt von der
Geschichtsschreibung in den fünf Büchern Mose. Der Topos vom "auserwählten
Volk", der Überfall auf Kanaan — all dies schien ihr der reinste
Nationalismus zu sein, die Urform dessen, was jemand wie Hitler als Politik
praktizierte. Entsprechend nahm sie das Judentum als eine gefährliche,
völkische Ideologie wahr - eine Meinung, die sie bis zu ihrem Tod nicht mehr
ändern sollte.
Diese Haltung macht sie nicht zu einer Rassistin, die
Judenvernichtung gut zu heißen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, nicht nur
weil sie und ihre Familie selbst davon bedroht waren. Post mortem ist ihr
oft vorgeworfen worden, dass sie die Solidarität mit ihrem Volk aufgekündigt
habe und dem jüdischen Selbsthass verfallen wäre. Ihrem intellektuellen
Bemühen, gegen die Nationalismen ihrer Zeit anzukämpfen, wird dieser Vorwurf
wohl nicht gerecht. Sie hat sich gerade nicht von Hitler eine Identität
aufdrücken lassen, die sie nicht als die ihre empfand, und hat ihn dafür
bekämpft, dass er mit rassistischen und nationalistischen Ideologien
Menschen stigmatisierte.
France
libre
Nachdem sie aus dem Exil in New York Ende 1942 nach Europa
zurückgekehrt war, engagierte sich Simone Weil in der französischen
Exilregierung France libre, die ihr Domizil in London hatte. Ihr innigster
Wunsch war es, im Untergrund in Frankreich zu wirken. Doch der Chef, Charles
de Gaulle, entschied, dass sie für die aktive Resistance-Arbeit nicht nur
viel zu ungeschickt sei, sondern zudem auch viel zu jüdisch aussähe.
Außerdem war sie eine Frau und passte damit nicht in das soldatische
Idealbild des Resistance-Kämpfers von de Gaulle. Simone Weil konterte mit
ihrem "Plan für die Ausbildung von Frontkrankenschwestern": Diese sollten an
vorderster Front wirken und würden damit sowohl die eigenen Truppen
moralisch stabilisieren wie auch dem Feind gegenüber eine (moralische)
Überlegenheit demonstrieren, die ihn zur Aufgabe zwänge. De Gaulle wollte
von solchen Ideen nichts wissen. Er hielt Simone Weil schlicht für verrückt,
wie auch schon Trotzki zehn Jahre zuvor, der nicht verstehen konnte, warum
sie ihn kritisieren und gleichzeitig achten und auf der Flucht beherbergen
konnte. "Ja, sind sie denn von der Heilsarmee?-, soll er im Streit
ausgerufen haben.
De Gaulle verwies die Akademikerin an den Schreibtisch:
Sie sollte sich über eine Verfassung für das zukünftige Frankreich Gedanken
machen und den brieflichen Kontakt mit den Widerstandsgruppen in Frankreich
aufrecht halten. Simone Weil nahm den Auftrag ernst — und verfasste so viele
Aufsätze wie noch nie zuvor. Zu ihren Lebzeiten wurde von ihr kein einziges
Buch veröffentlicht, lediglich ein paar Artikel erschienen in linksradikalen
Zeitschriften. Allerdings wurden bereits in den 30er Jahren einige davon in
Übersetzungen in little magazines im New York veröffentlicht, wo sie in
intellektuellen Kreisen auf große Resonanz stießen.
Andre Weil schrieb in seiner Autobiografie, dass nichts,
was seine Schwester betraf, ihn jemals wirklich hätte in Erstaunen versetzen
können - mit einer einzigen Ausnahme: ihr Tod. "Auf ihn war ich nicht
vorbereitet, denn ich hatte sie für unverwundbar gehalten, und ich verstand
erst sehr spät, dass ihr Leben nach seinen eigenen Gesetzen abgelaufen war
und auch so geendet harte."
Zum Sterben hatte sich Simone Weil in das Sanatorium in
Ashford verlegen lassen. Ihr letztes Manuskript, "Die Einwurzelung.
Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber, bricht mitten
im Satz ab. Zur Beerdigung am 30. August 1943 kam nur eine Handvoll
Menschen, darunter ihre Londoner Zimmervermieterin und der Freund und
spätere französische Politiker Maurice Schumann. Der angefragte Pfarrer
verpasste den Zug aus London. Bis 1958 gab es keinen Grabstein. Inzwischen
sind Straßen nach ihr benannt worden, nicht nur in ihrer Geburtstadt Paris.
Seit 1983 heißt die Umgehungsstraße, die direkt an ihrem Friedhof
vorbeiführt "Simone Weil Avenue".
Wir finden das Grab endlich in einem ganz unprominent und
verlassen wirkenden Winkel des Friedhofes. Kein Davidstern, kein Kreuz - nur
die Daten mit französischer Monatsangabe. Und Blumen. Rote, gelbe und
lilafarbene Stauden sind gepflanzt. Die Rabatten in den öffentlichen
Grünanlagen der Stadt Ashford schmücken genau dieselben Blumen. Die Pflege
des Grabes von Simone Weil scheint eine städtische Angelegenheit zu sein. Im
Rathaus lässt sich der Sommerhut, den sie während der Weinernte 1941 trug,
besichtigen — wie die Devotionalie einer Heiligen. Für nicht wenige ist
Simone Weil eben das: Eine Heilige, die in der imitatio Christi ihr Leben
opferte. Eine Gedenktafel, angebracht vor ihrem Grab, klingt da sachlicher:
Ihre Schriften etablierten sie als eine der bedeutendsten modernen
Philosophen".
Rabbiner Ab'auann Geiger (1810-1874), der Begründer
der modernen Koranwisserschaft.
Ende Juni fand auf Schloss Elmau eine vielbeachtete
internationale Tagung zum Thema "Der Islam aus jüdischer Sicht - das
Judentum aus islamischer Sicht" statt, initiiert von Michael Brenner,
Lehrstuhlinhaber für Jüdische Geschichte und Kultur an der
Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Resonanz im deutschsprachigen
"Feuilleton war beachtlich. Die Neue Zürcher Zeitung berichtete von
Schwierigkeiten beim Dialog: "Wie schlecht es dagegen in der Gegenwart sogar
auf akademischer Ebene um den Austausch zwischen Muslimen und Juden bestellt
ist, führte der an der King Saud University in Riad lehrende Saad al-Bazei
aus. Wo die Auseinandersetzung mit einem europäisch-jüdischen Denker — etwa
Spinoza, Freud, Derrida - schlechthin unumgänglich sei, versuche man in der
arabischen Welt, dessen jüdischen Hintergrund nach Möglichkeit auszublenden;
das Wort jüdisch' provoziere so irrationale wie unselige Abwehrreflexe.
Ebenso fehle aber auch auf jüdischer Seite die Bereitschaft zur
Auseinandersetzung mit
arabischem Geistesleben; und leider schien die Veranstaltung da und dort
dieses Defizit widerzuspiegeln." Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung
schrieb: "Die Beiträge zum islamischen Blick auf das Judentum überwogen. In
umgekehrter Richtung wurde eher auf Historisches zurückgegriffen, auf den
mittelalterlichen Philosophen Moses Maimonides etwa, dessen Begeisterung für
den persischen Gelehrten Arfarabi allerdings kein Geheimnis ist." Ein Name,
der wiederholt auf Elmau und in den Presseberichten fiel, ist der von
Abraham Geiger, einem der Vordenker der Wissenschaft des Judentums. Dan
Diner, der auch das Elmauer Eingangsreferat hielt, raisonierte in der "Welt"
darüber, was der Islam von den historischen Erfahrungen des Judentums im
Westen lernen kann: "Die ,Wissenschaft des Judentums' als eine sich
zusehends säkularisierenden Selbstdeutung der Juden trug nicht unerheblich
dazu bei, ihnen den Eintritt in die Geschichte zu erleichtern. [...}Die
islamische Minderheitenjutisprudenz in den Bereichen den Alltags und der,
große Fiqh' in Fragender unabhängigen Erkenntnis können gemeinsam dazu
beitragen, in Analogie zur historischen .Wissenschaft des Judentums Muslimen
den Weg zu "einer nicht-sakralen Weltdeutung zu weisen, der ihrer Tradition
angemessen ist."
Was hat nun aber Abraham Geiger mit dem Islam zu tun? Diese Frage
stellten sich bereits im Februar 2005 angehende Rabbiner und deutsche
Arabisten, jüdische Islamwissenschaftler und praktizierende Moslems in
Berlin. Über einhundert Interessenten waren damals auf Einladung des
Seminars für Arabistik an der FU Berlin, des Arbeitskreises "Islam und
Moderne- am Wissenschaftskolleg und des Abraham Geiger Kollegs in die
Akademie der Künste gekommen, um sich über ein Thema zu verständigen: "Was
hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?- Diese Fragestellung stammt
bereits aus dem Jahr 1832 und wurde damals von der Königlich Preußischen
Rheinuniversität formuliert: der Orientalist und Rabbiner Abraham Geiger
(1810- 18~4) erhielt für seine Dissertation als Antwort darauf nicht nur den
Preis der Bonner Universität, sondern wurde damit auch zum Wegbereiter für
eine moderne Islamwissenschaft. Geiger ging in seiner Arbeit sehr
systematisch vor: er benutzte seinerzeit nichts als den nackten arabischen
Wortlaut des Korans, um den Text als Philologe mit den Methoden der
.historischen Kritik' zu erforschen, und berücksichtigte keine späteren
islamischen Schriften; er betrachtete den Koran nicht als göttliche
Offenbarung, sondern analysierte ihn als menschliche Schöpfung. Seine
Fragestellung war:"Was wollte, konnte und durfte Mohammed aus dem Judenthume
aufnehmen?" Er wandte sich dabei gegen die islamfeindliche Tradition der
christlichen Orientalistik, die Mohammed stets als Scharlatan, falschen
Propheten und Betrüger diffamiert hatte; für Abraham Geiger war Mohammed ein
Erneuerer der vor ihm existierenden Religionen, aber kein Religionsstifter.
Sein Ziel war "eine Vereinigung aller Religions-Ansichten zum Heile der
Menschen". In seinem Vorwort zum Reprint von Geigers Schrift, der 2005 im
Berliner Parerga-Verlag erschienen ist, konstatiert Friedrich Niewöh-ner:
"Geigers Darstellung der Entstehung der koranischen Botschaft liest sich wie
die Entstehung des Islams aus den Quellen des Judentums. Die
Entstehungsgeschichte des Koran ist zwar weitaus komplizierter, als Geiger
sie darstellt, sie trifft im Kern aber dennoch etwas, was gerade auch heute
noch (wieder) gültig und unumstritten ist: die enge Verbindung zwischen
jüdischen (und den von Geiger nicht berücksichtigten christlichen) Lehren
und dem Koran." Das Ergebnis des Versuches, den Koran philologisch zu sehen,
ist die Anerkennung des Islams als eine Art Schwesterreligion. Viel später
schreibt Abraham Geirer in der letzten sei-
ner 1864 gedruckten zwölf Vorlesungen über "Das Judentum und seine
Geschichte" zur Entstehung des Islams: "An der Wiege dieser neuen Kultur
stand gleichfalls das Judentum mit seiner Lehre. Was Gutes am Islam ist, was
als ein haltbarer Gedanke in ihm scheint, das ist ihm aus dem Judentum
übernommen. Mit dem Rufe ,Es gibt keinen Gott als den einzigen Gott' stürmte
der Araber mit seinem wilden Rosse durch die Welt, und diesen Ruf, er hat
ihn nicht selbst vom Sinai vernommen, er hat ihn von denjenigen überkommen,
die ihn als ihr Erbe durch die Welt getragen. Das ist der einzige
fruchttragende und weltüberwindende Gedanke, welche der Islam in sich trug.
Er schmückte ihn aus und wiederholte ihn mit leeren tauto-logischen Formen,
er verbrämte ihn und auch dies mit jüdischen Anschauungen und Erzählungen."
Über die Methode der historischen Kritik gelangte Geiger schließlich auch
zur Auseinandersetzung mit Jesus als Juden und Menschen. Die Beschäftigung
mit dem Christentum hatte klare apologetische Züge und war damit Pflicht,
die mit Mohammed und dem Koran dagegen war Kür, geschah quasi aus Liebe.
Bis zur Schoa waren es immer wieder europäische Orientalisten jüdischer
Herkunft, die sich aus dem Bewusstsein der größeren Verwandtschaft heraus
mit der Erforschung des Islams befassten. Die Initiatoren des Berliner
Studientages wollten mit ihrer Tagung nicht nur Geigers Schrift von 1833 mit
aktuellen Forschungsergebnissen verbinden, sondern auch an diese jäh
abgerissene Wissenschaftstradition anknüpfen; zugleich stellten sie die
Frage, ob die Wissenschaft des Judentums als Gründerdisziplin einer modernen
Korankritik verstanden werden kann; die Tagungsbeiträge werden nun auf
vielfachen Wunsch im Frühjahr 2008 veröffentlicht werden. Die Wissenschaft
des Judentums stellte im 19. Jahrhundert fest, dass es die islamische Umwelt
gewesen war, die den Juden das griechische Denken einst neu erschließen ließ
und sie so in Europa zu Wegbereitern für die Wiederbelebung der klassischen
Antike gemacht hatte. LTm es mit Geiger zu sagen: "Ja, man spöttelt gar oft
über die Juden als Vermittler von Geschäften, als über die, die die alten,
abgelegten Kleider zum Verkaufe ins Haus brachten. Ja, sie haben die
abgelegten Kleider der alten Bildung den Völkern Europas ins Haus gebracht,
und wenn sich diese sich nicht mit jenen Überresten bekleidet hätten, so
wären sie ganz nackt gewesen.". Dass die islamisch-jüdische Symbiose aber
nicht lange währen sollte, hat Abraham Geiger in seinem Werk über Salomon
ibn Gabirol bedacht, in dem er auch auf den Untergang der islamischen
Vorherrschaft in Europa "als Frucht der inneren Haltlosigkeit" zu sprechen
kommt - aber das wäre ein Thema für eine weitere Tagung. |
"Abrahams Sohn"
von Gilles Rozier
I Einer der ungewöhnlichsten Romane über das moderne Israel der letzten
Jahre kommt aus Frankreich: Gilles Rozier, geboren 1963 in Grenoble als Sohn
einer Familie mit französischen, deutschen und polnisch-jüdischen Wurzeln,
hat es >
geschrieben. Rozier, der bereits vor drei j * Jahren mit seinem
faszinierenden und \ sprachlich ebenso vielschichtigen wie
konsequenten Debüt "Eine Liebe ohne i
Widerstand" über die Zeit der deutschen Okkupation auf sich aufmerksam
machte, lernte während seines Zivildienstes in Jerusalem nicht nur die
hebräische Sprache, sondern auch Jiddisch, promovierte später in jiddischer
Literatur und leitet heute das Haus für jiddische Kultur in Paris. Seine
Begeisterung für die nicht unbedingt dem offiziellen israelischen
Selbstverständnis entsprechende, eher traditionalistische, im Milieu der
Orthodoxie verhaftete jiddische Kultur merkt man seinem neuen Roman auf
durchaus wohltuende Art und Weise an. Trotzdem ist "Abrahams Sohn" ein Buch,
das ohne wenn und aber in der Gegenwart spielt und die Herausforderungen der
Mo-
derne sehr scharfsinnig reflektiert. Die 42jährige Sharon, Köchin in
einem Altersheim, steht vor den Trümmern ihres Lebens: Ihr Mann hat sich von
ihr getrennt und ihr einziger Sohn ist als Opfer eines Selbstmordanschlags
ums Leben gekommen. Eine neue Beziehung kommt für sie nicht in frage, aber
als sie miterlebt, wie eine Nachbarin durch ihre per künstlicher Befruchtung
erlangte Mutterschaft plötzlich aufblüht, möchte auch sie dem religiösen
Gebot entsprechen und wieder Leben schenken. Ihren schwulen Kollegen, den
Altenpfleger Arnos, könnte sich Sharon sogar gut als Vater ihres Kindes
vorstellen, aber wie soll sie an dessen Samen gelangen? Auch hier kommt ihr
letztlich ein religiöses Gebot zur Hilfe. "Abrahams Sohn" ist weit mehr als
eine Gratwanderung zwischen traditionellem orthodoxen Judentum und modernem
Leben, nämlich eine Versöhnung dieser beiden scheinbar unvereinbaren
Lebenswelten mit literarischen Mitteln.
"Abrahams Sohn", aus dem Französischen von Claudia . Steinitz, erschienen
bei DuMont, 157Seiten, € 19,90 :
"Die Jüdin von Venedig"
von Yael Guiladi
■ Wenn es ein literarisches Genre gibt, in dem jüdische Charaktere immer
ihren festen Platz haben, oft sogar als Hauptfiguren, \ je JS<! l~ I. so ist
das der moderne historische Unterhaltungsroman, welcher sich vorzugsweise
und aus naheliegenden Gründen immer häufiger mit der besonders
publikumsträchtigen Zeit des Mittelalters befasst. Dieses erstaunliche
Phänomen dürfte sicherlich genug Stoff für mehr als eine Magister- k
arbeit liefern, da es viel über das Bild des Judentums in unserer
Gesellschaft auszusagen vermag. Natürlich ist die Sicht vieler Autoren des
Genres auf das Judentum vor allem durch den Holoaiust besonders
sensibilisiert - viele von ihnen sind studierte Historiker, zum anderen hat
die Perspektive des Ausgegrenzten oder gar Verfolgten, andererseits aber von
den Interessen der Mächtigen Unabhängigen aus dramaturgischer Sicht große
Vorteile: Die Sympathie des I,esers ist dem solcherart ausgestalteten
Protagonisten gewiss. Die in Jerusalem lebende Neuseeländerin Yael Guiladi
hat in der Vergangenheit bereits mit drei auch in Deutschland
sehr erfolgreichen Romanen über fiktive jüdische Frauenschicksale aus dem
mau-; tischen Spanien eindrucksvoll bewiesen, dass sie farbenprachtige
historische Sujets gestalten kann. Ihr neuer Roman führt uns. ins Venedig
des frühen 17. Jahrhunderts,: dessen wirtschaftlicher und politischer:
Niedergang schon fast vollendet ist. Hier,; in einer dekadenten Atmosphäre
von: Geldwäscherei, Intrigen und Korruption,: begegnet der von einem
selbstbestimmten Leben träumende niederländische Jude " Daniel der ebenso
schönen wie intelli-: geilten Diana, Tochter des hoffnungslos; dem
Glücksspiel verfallenen Rabbiners.: Zwar ist die Liebe auf beiden Seiten
groß, aber bevor es zu einem glücklichen linde kommen kann,; gilt es so
manche üble Machenschaft zu überwinden. "Die Jüdin von Venedig" ist ein
schöner Ferienschmöker vor: dem pittoresken Hintergrund einer mystischen
Stadt und ihrer einzigartigen Atmosphäre, die aber, wie man nicht vergessen
darf, auch dem Ghetto ihren Namen gab. ;
"Die Jüdin von Venedig", ans dem Englischen
von Ulrike Seeberger, erschienen,
im Aufbau-Verlag, 348 Seiten, €9,95]"Jasmin"
von Eli Amir
I Es gibt nur sehr wenige unter den bedeutenden israelischen
Schriftstellern, die sich in ihren Büchern immer wieder ganz
selbstverständlich und ohne jeglichen weltanschaulichen Vorbehalt die
Perspektive des sogenannten "Feindes" zu eigen machen. Eli Aniir, ehemaliger
persönlicher Referent von Shimon Peres, 1937 in Bagdad geboren, hat schon in
seinen früheren Romanen, deren bekanntester bis heute sicherlich "Der
Taubenzüchter von Bagdad" ist, den orientalischen Juden und ihrer in Israel
lange vernachlässigten Kultur eine wichtige Stimme verliehen. In seinem
neuen Buch "Jasmin" schildert er den dominierenden (Jrundkonflikt des
jüdischen Staates aus so noch kaum zuvor zu lesender persönlicher
Perspektive, die ihre emotionale Intensität vor allem aus der Biographie des
Autors selbst bezieht. Der Roman spielt in einer kurzen Zeitspanne vor,
während und nach dem Sechstagekrieg von 1967, der das Land letztlich vor
jene Herausforderungen stellte, die bis heute ungelöst geblieben sind. Es
ist die Geschichte einer hoffnungslosen, leidenschaftlichen Liebe zwischen
dem jungen israelischen
Regierungsbeamten Nuri und der palästinensischen Christin Jasmin.
Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit erkennen die beiden nach intensiver
psychologischer Abwehr, dass sie füreinander geschaffen sind und
beschließen, ihrer jungen, äußerst fragilen Beziehung eine Chance zu geben.
Die große Kunst Eli Amirs besteht in der meisterhaft gestalteten Verknüpfung
von überaus Privatem und Hochpolitischem, so dass ein äußerst lebendiges und
vielschichtiges Panorama der fast zwangsläufigen Fehlhaltungen und
-entwicklungen entsteht, die sich Israelis und Palästinenser im I.aufe des
Konflikts angeeignet haben. Da beide Protagonisten in diesem Konflikt nicht
allein Individuen sein können, muss ihre Beziehung letztendlich scheitern.
Anders jedoch als auf der politischen Ebene, auf der es letztlich ums
"Rechthaben und Rechtbehalten" geht, wie Jehuda Aniichai einmal schrieb,
lösen Nuri und Jasmin ihren persönlichen Konflikt auf sehr reife und
erwachsene Art. Eli Amir ist ein sehr wahrhaftiges, lebensnahes Buch
gelungen, das absolut frei ist von jeglicher künstlich aufgesetzter, unecht
wirkender Konstruktion.
"Jasmin", aus dem Hebräischen von Barbara Linner, erschienen bei C.
Bertelsmann, 480 Seiten, €21,95
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