Der jüdische Aspekt:
Nicolas Sarkozy – ein Freund im Elysée?
Frankreichs neuer Präsident bekennt sich zu jüdischen Wurzeln. Unter
Frankreichs Juden, einst mehrheitlich links angesiedelt, errang Sarkozy
überdurchschnittliche Zustimmung. In der Euphorie gehen erste Warnungen
unter.
Von Danny Leder, Paris
Der
Fall erregte in Frankreichs Öffentlichkeit nur begrenztes Aufsehen. Am
27.Oktober des Vorjahrs wurde René Dahan, 58, als er seine Wohnungstür in
der Vorstadt Nogent bei Paris öffnete, von drei bewaffneten und maskierten
Männern überrascht. Er sei, so Dahan, in seine Wohnung zurückgestoßen
worden, einer der Maskierten habe ihn nieder gerempelt und zu würgen
begonnen. Die beiden anderen schlugen seine Lebensgefährtin.
Dahan gelang es, seinem Gegner die Pistole zu entwinden. Er feuerte, der
Schuss landete im Plafond. Die zwei Komplizen flüchteten durch die
Wohnungstür. Der Mann, mit dem Dahan gekämpft hatte, lief zu einem Fenster.
Dahan schoss ihm hinterher. Tödlich getroffen fiel der Flüchtende kopfüber
in den Hof.
Unter dem Verdacht der Notwehrüberschreitung kam Dahan in U-Haft. Zwei
Wochen später schrieb Nicolas Sarkozy, damals Innenminister, an den
Justizminister: "Unsere Mitbürger können nicht verstehen, dass ein ehrlicher
Mann, der in seiner Wohnung mit einer Waffe bedroht wird und um das Leben
seiner Frau fürchtet, dafür auch noch angeklagt und inhaftiert wird."
Daraufhin kam Dahan frei.
Zuletzt hatte es ähnliche Fälle gegeben, in denen Überfallene unter Verdacht
auf Notwehrüberschreitung inhaftiert, unter Druck der Öffentlichkeit aber
wieder freigelassen wurden. Beim Überfall in Nogent rang sich aber eine
besondere Symbolik um die Beteiligten. Dahan betreibt in der Pariser
Innenstadt ein Konfektionsgeschäft, zu dessen Stammkunden Kommissare der
Pariser Kripo zählen. Einer der beiden festgenommenen Täter, ein junger
Franko-Araber, erklärte, sie hätten Dahan aufgelauert, weil er ein "mit
Moneten vollgestopfter Jude" sei.
Der erschossene Täter, Pascal Hilaire, 26, stammte aus einer
franko-karibischen Familie. Sein Bruder empörte sich über das Eingreifen von
Sarkozy: "Was Pascal getan hat, ist unentschuldbar. Aber es kann nicht
zweierlei Justiz geben. Eine für die, die Einfluss und Geld haben, und eine
für die Armen. Pascal hatte 10.000 Euro Mietschulden." Die sozialistische
Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal forderte von ihrem damaligen
Rivalen Sarkozy, er solle "aufhören, das Unglück der Menschen
auszuschlachten".
Wie kaum ein anderer Vorfall verwob diese Affäre jenes Knäuel an Problemen,
Ressentiments und Ängsten, das sechs Monate später zum überragenden Wahlsieg
von Sarkozy und seinem noch viel erfolgreicherem Abschneiden unter jüdischen
Wählern beitragen sollte.
Dahans Geschäft befindet sich auf dem Boulevard Voltaire. Dort hatte eine
Bande junger Vorstädter im Januar 2006 einen Verkäufer in einer Telefonladen,
den 23 jährigen Ilan Halimi, ausgekundschaftet. Ein Mädchen lockte Halimi in
eine Falle. Er wurde drei Wochen im Keller eines Plattenbaus gefangen
gehalten. "Ich wollte einen Juden entführen, weil diese Gemeinschaft Geld
hat", erklärte der Chef der Entführer, der 26 jährige Franko-Afrikaner
Youssouf Fofana. Aber Halimis Mutter, eine kleine Angestellte und
Alleinerzieherin von drei Kindern, konnte das geforderte Lösegeld nicht
schnell genug auftreiben. Ihr Sohn wurde zu Tode gefoltert.
Moslems beteiligten sich zwar an einem örtlichen Trauermarsch, dieses
Verbrechen vertiefte aber die Kluft zwischen der jüdischen Minderheit und
der Migrantenjugend. Die Entführerbande bestand hauptsächlich aus jungen
franko-arabischen und franko-afrikanischen Moslems (wie Fofana)
beziehungsweise zum Islam konvertierten Jugendlichen aus (christlichen)
Familien, die von den französischen Karibik-Inseln stammen. In den Wochen
danach häuften sich sogar wieder die Tätlichkeiten gegen Juden in Vororten.
Ein bedeutender Teil der französischen Bevölkerung teilte zu diesem
Zeitpunkt bereits ein Gefühl des Überdruss gegenüber den chronischen
Gewaltausbrüchen, dem Vandalismus und der alltäglichen Kleinkriminalität,
die von städtischen Randsiedlungen in ganz Frankreich ausgingen.
Mit zunehmenden Ärger quittierten Teile der Mehrheitsbevölkerung die
Verweise auf die sozialen Ursachen: dass Frankreich seit über 20 Jahren eine
der höchsten Jugendarbeitslosenraten der EU aufweist, dass die
Beschäftigungslosigkeit bei Jugendlichen aus Migrantenfamilien doppelt so
hoch wie im Gesamtschnitt ist, dass man als junger Franko-Araber oder
Franko-Afrikaner unter Diskriminierungen bei der Job- und Wohnungsvergabe
leidet, dass man häufig Ausweis-Kontrollen, Beleidigungen und Übergriffe
durch die Polizei erdulden muss.
Sarkozy drehte diesbezüglich die geläufigen Erklärungsmuster um. Er
konzedierte zwar, dass es eine besondere Benachteiligung der Migrantenkinder
gebe, weshalb er die Einführung des in den USA praktizierten Systems der
"Affirmative Action" erwog, also Quoten für Bewerber aus benachteiligten
Gruppen. Gleichzeitig meinte Sarkozy aber auch, das herkömmliche System der
sozialen Stützen ("Assistenzwirtschaft") hätte im Verbund mit der
Jugendkriminalität in den Vororten die Arbeitsbereitschaft untergraben und
die Unternehmerinitiative zum Stillstand gebracht, weshalb die
Arbeitslosigkeit anhalte. Schärfere Polizei- und Justizmaßnahmen würden den
"anständigen und fleißigen Bürgern" wieder die nötigen
Entfaltungsmöglichkeiten verschaffen.
Peinliche
Lobgesänge
Das griff allgemein, in noch höherem Maß aber unter Wählern mit jüdischem
Hintergrund. Die annähernd 600.000 Menschen, die man in Frankreich – unter
anderem – mit diesem Begriff kennzeichnen könnte, sind natürlich weder
politisch noch sozial über einen Kamm zu scheren. Die lange Tradition
engagierter Juden in der Linken ist nicht erloschen: Juden zählen zu den
engsten Vertrauten von Ségolène Royal. Ihre beiden Rivalen an der
Parteispitze, Dominique Strauss-Kahn und Laurent Fabius, stammen aus
jüdischen Familien. In den Antirassismus-Organisationen, von denen sich
einige heftig gegen Sarkozy einsetzten, gibt es zahllose Aktivisten
jüdischer Herkunft.
Aber die Mehrheit der bekennenden Juden rückte nach rechts. In Israel, wo
die Franko-Israelis für die französischen Präsidentenwahlen stimmberechtigt
waren, erzielte Sarkozy 90,7 Prozent (allerdings betrug die Wahlbeteiligung
nur 18,9 Prozent). In Frankreich hatten sich schon 2006 bei einer Umfrage 65
Prozent jener Personen, die sich als Juden deklarierten, für Sarkozy
ausgesprochen. 57 Prozent bekannten sich im Parteienspektrum zur rechten
Mitte oder zu den Konservativen. Noch 2002 waren das bloß 24 Prozent
gewesen.
Um Sarkozy sammelten sich Persönlichkeiten mit hohem Symbolgehalt für
Frankreichs Juden wie etwa der 41 jährige Rechtsanwalt Arno Klarsfeld. Der
Sohn von Serge und Beate Klarsfeld (die bei der Suche nach NS-Verbrechern
eine ähnliche Funktion wie Simon Wiesenthal erfüllten) hatte selber eine
prominente Rolle im letzten großen Verfahren gegen einen Spitzenbeamten des
Kollaborationsregimes.
Arno Klarsfeld entfaltete auch sonst ein vielfältiges Engagement. Er
verfasste ein Buch über den Völkermord in Ruanda, er diente im
israelischen Grenzschutz. Beziehungen zwischen dem attraktiven und
sportlichen Anwalt und Mannequins fanden Einzug in die Klatschspalten der
Printmedien.
Er gilt als enger Berater des Präsidenten in Migrationsangelegenheiten.
Sarkozy beauftragte ihn mit einer Enquete zu Frankreichs
Kolonialvergangenheit. Später wirkte er als Mittler im Konflikt um das
Bleiberecht illegal eingewanderter Migrantenfamilien. Bei den
Parlamentswahlen im Juni trat er als Kandidat der konservativen UMP von
Sarkozy in einem Pariser Wahlkreis an. Seine dilettantische Art und sein
offensichtliches Desinteresse für die örtlichen Anliegen führten aber zu
seiner verdienten Niederlage im Duell mit einer ortsansässigen Sozialistin
(die ihrerseits von prominenten jüdischen SP-Politikern unterstützt wurde).
Mit peinlichen Lobgesängen auf Sarkozy trat der Schlagerstar Enrico Macias
in Erscheinung, der aus einer jüdischen Musikerdynastie aus Algerien stammt.
Macias stand ursprünglich der SP nahe. Aber in der Zwischenzeit, ab 2000,
hatte die Welle antijüdischer Gewaltakte das Vertrauen vieler Juden auch in
die gemäßigte Linke erschüttert. Die Linksregierung, bis April 2002 im Amt,
hatte anfänglich, so wie der Großteil der Öffentlichkeit, zu zögerlich auf
den für sie überraschenden Judenhass eines Teils der Migrantenjugend
reagiert.
Ein jüdischer
Gemeindevorsteher: "Sarkozy fühlt wie wir"
Die Schwierigkeit, selbst für Politiker, Lehrer oder Journalisten aus
jüdischen Familien, bestand darin, die spezifische antijüdische
Aggressivität aus dem Kontext der allgemeinen, blindwütigen Jugendgewalt
herauszuschälen. Obendrein konnten sich etliche Vertreter der Linken kaum
dazu durchringen, gegen sozial benachteiligte Migrantenfamilien Partei zu
ergreifen. Die linksalternative Szene wurde durch ihr pro-palästinensisches
Engagement dazu verleitet, die antijüdischen Welle in Frankreich
auszublenden, wenn sie nicht gar, wie im Fall des prominenten
Globalisierungskritiker José Bové, anfänglich Verständnis für Tätlichkeiten
gegen Juden durchblicken ließ.
Es war Jacques Chirac, der als erster die klarsten Worte fand: "Wer einen
Juden angreift, greift Frankreich an". Der bürgerliche Staatschef hatte als
Fürsprecher der Palästinenser und als Gegner der US-Intervention im Irak
enormes Prestige in der arabischen Welt errungen. Er wollte aber seinen
Nahost-Kurs keinesfalls als Ermutigung antijüdischer Gewalt in Frankreich
erscheinen lassen. Präsident Chirac hatte ja schon im Juli 1995, gleich nach
seinem Amtsantritt, als erster französischer Staatschef, ein (noch dazu
ungemein starkes) Schuldbekenntnis im Namen Frankreichs für die
Judenverfolgung unter dem Kollaborationsregime abgelegt.
Nach einer ersten Phase des Zögerns reagierten die allermeisten Politiker,
die Behörden und die tonangebenden Medien schnell und scharf auf Angriffe
junger Moslems gegen Juden. Die anhaltenden Tätlichkeiten und das Mobbing
gegen Juden in Vororte-Schulen waren auch ein maßgebliches Motiv für die
französische Regierung, ab dem Schuljahr 2005 Schülerinnen und Schülern das
Tragen "auffälliger religiöser Symbole" zu verbieten – eine Maßnahme, die
zwar auch die Träger "großer Kreuze" und der Kippa betraf, sich aber
vor allem gegen die Verbreitung des islamischen Kopftuchs richtete.
Sarkozys Reaktion auf die antijüdische Gewaltserie war freilich noch von
einer anderen, zusätzlichen Qualität. Er prägte den Satz: "Man sollte
angesichts des Antisemitismus nicht versuchen, besonders klug zu sein und
nach Erklärungen zu suchen. Der Antisemitismus bedarf keiner Erklärung, er
wird bekämpft."
Während seiner Amtszeit als Innenminister verstärkte Sarkozy die
Zusammenarbeit der Behörden mit den Hilfs-Einrichtungen für Opfer
antijüdischer Gewalttäter. Bei seinen Besuchen in Synagogen vermittelte er
einen Eindruck von quasi familiärer Nähe. Reportern des Magazins
"Marianne", das eine – kritische – Recherche über den Erfolg von Sarkozy
unter Frankreichs Juden veröffentlichte, erklärte eine jüdische
Gemeindevorsteher: "Sarkozy ist nicht nur Politiker. Er fühlt die Dinge wie
wir".
Dieses Lob galt auch Sarkozys außenpolitischen Stellungnahmen, die sich
mehrfach vom Kurs von Chirac und der meisten übrigen französischen
Meinungsträger krass unterschieden. In Gegensatz zur Mehrheitsstimmung in
Frankreich hatte Sarkozy anfänglich ein gewisses Verständnis für den
US-Intervention im Irak signalisiert. Während des israelischen Feldzugs
gegen die Hezbollah im Libanon betonte Sarkozy Israels Recht auf
Selbstverteidigung.
Mit solchen Stellungnahmen stand er zwar nicht allein da. Der SP-Premier
Lionel Jospin hatte im Februar 2000, bei einem Besuch in Israel, die
Attacken des Hezbollah derartig scharf verurteilt, dass er, anschließend,
bei einem Vortrag in der Universität Bir Zeit, im besetzten Westjordanland,
von palästinensischen Studenten fast gelyncht worden wäre. Aber Sarkozy ließ
bei seinen kontinuierlichen Erklärungen zugunsten Israels und vor allem bei
Besuchen in Jerusalem eine besondere emotionale Bindung durchblicken.
Geliebter
Großvater, verachteter Vater
Als Innenminister hatte sich Sarkozy dafür ausgesprochen, das Verhältnis
zwischen dem streng laizistischen Staat Frankreich und den
Religionsgemeinschaften neu zu regeln und namentlich den Moslems bei der
Errichtung von Kultstätten eine gewisse öffentliche Unterstützung zukommen
zu lassen. Dadurch sollte der französische Islam aus der Abhängigkeit
gegenüber fundamentalistischen Geldgebern vornehmlich in Saudi-Arabien
gelöst werden.
"Ein Mensch, der glaubt, hat Hoffnung" erklärte Sarkozy. Er selber gab sich
als praktizierender Katholik zu erkennen, den "der Gang mit der Familie in
die Kirche in Sicherheit wiegt". Diese Selbstdarstellung ergänzte Sarkozy
mitten im Wahlkampf. Auf einer Versammlung kam er auf den Weltkrieg zu
sprechen und erwähnte seinen Großvater: "Der Jude aus Saloniki, den ich
leidenschaftlich liebte".
Der heute 52 jährige Sarkozy wurde in einer katholischen Privatschule
erzogen. Er ist der Sohn eines aus Ungarn nach dem Krieg geflüchteten
Landadeligen und einer Pariserin, beide Christen.
Vater Sarkozy, ein exzentrischer Blender, hatte seine Frau und seine drei
Söhne stehen gelassen, als Nicolas fünf Jahre alt war. Die energische Mutter
nahm ihr abgebrochenes Jusstudium wieder auf und wurde Rechtsanwältin.
Gemeinsam mit ihrem Vater, einem Arzt, sorgte sie für die Söhne, für die ihr
geschiedener Mann keine Unterhaltszahlungen leistete.
Ihr Vater, Benedict Mallah, der einer jüdischen Familie aus Griechenland
entstammte, war vor dem ersten Weltkrieg eingewandert. Er konvertierte 1918
zum Katholizismus, als er eine junge Kriegswitwe heiratete.
Mit der deutschen Besetzung 1940 wurde Mallah wieder von seiner jüdischen
Herkunft eingeholt. Er fand Unterschlupf in Südfrankreich, wo er die
Résistance unterstützte. Danach fiel wieder der Schatten des Vergessens über
dieses Kapitel: "Bezüglich unserer jüdischen Abstammung herrschte bei uns
das Gesetz des Schweigens", erklärte einer der Brüder von Nicolas Sarkozy
den Autoren einer Familien-Biographie (1). Allerdings vermittelte Mallah dem
Enkel Nicolas seine Bewunderung für Charles De Gaulles, dem allerersten
militärischen Gegner des Kollaborationsregimes.
Der 1972 verstorbene Mallah, darin stimmen alle Zeugnisse überein, war ein
bescheiden auftretender Arzt, der bedürftige Patienten kostenlos pflegte und
in seiner Familie eine diskrete, aber strenge Autorität ausübte. Als sich
sein ungarischer Schwiegersohn von seiner Familie trennte, übernahm Mallah
de facto die Vaterrolle für die drei Söhne seiner Tochter. Der
Heranwachsende Nicolas entwickelte zu diesem verlässlichen Großvater eine
umso innigere Beziehung als er seinen launigen Vater verachtete. Die Mutter
arrangierte zwar Treffen zwischen dem geschiedenen Mann und den Kindern.
Diese gerieten aber in Streit mit ihrem Vater, der keine Verantwortung
übernahm und trotzdem das strenge Familienoberhaupt mimte.
Aber während sich zwei Söhne mit dem Vater versöhnten (einer gab später
seinen eigenen Kindern ungarische Vornamen), hielt die gegenseitige
Abneigung zwischen Nicolas und seinem Vater an. Nicolas war im Gegensatz zu
seinen Brüdern gegen gutbürgerliche Konventionen allergisch. Der Vater hielt
den kleinwüchsigen Nicolas für einen Versager, er bevorzugte seine Brüder,
artige Chorknaben und später besonders zielstrebige Studenten.
Keiner der bisherigen Biographen der Sarkozys wagt die Schlussfolgerung,
aber sie ist nahe liegend: in seiner Familie beansprucht Nicolas Sarkozy ein
moralisches Vermächtnis, von dem er vermutlich glaubt, das es seinem
jüdischen Großvater gerecht wird.
1994 veröffentlichte Sarkozy ein Buch über den legendären Vorkriegspolitiker
Georges Mandel, einem konservativen Patrioten aus jüdischer Familie, der
1944 von der Kollaborationsmiliz erschossen wurde. 1996 heiratete Sarkozy in
zweiter Ehe Cecilia Ciganer-Albeniz, die katholisch erzogene Tochter eines
jüdischen Migranten aus Russland und einer Spanierin.
Antisemitische Schmähungen gegenüber Sarkozy gab es bisher nur von Seiten
winziger islamistischer und rechtsextremer Kreise. Ja sogar Sarkozys eigene
Bekenntnisse zu seinen jüdischen Wurzeln fanden in den Medien keine
sonderliche Erwähnung, so als wollten Frankreichs Journalisten sich aus
guten Gründen auf keine entsprechende Typologisierung von Sarkozy einlassen.
Selbst der Rechtsaußen-Tribun Jean-Marie Le Pen begnügte sich damit, Sarkozy
als "Ungarn" abzustempeln.
Untergriffige
Kampagne
An Frankreichs Staatsspitze standen bisher zwei Mal Juden: der Sozialist
Leon Blum, der vor dem Krieg die erste Linksregierung leitete. Und Pierre
Mendes-France, ebenfalls ein moderater Linker, der 1954 den Abzug
Frankreichs aus Indochina bewerkstelligte. Neben diesen Persönlichkeiten,
die in Frankreichs Gedächtniskultur als Ikonen politischer Tugendhaftigkeit
gelten, nimmt sich Sarkozy weniger vornehm aus.
Auch im Vergleich mit den Gepflogenheiten konservativer Politiker der
letzten Jahrzehnte in Frankreich führte Sarkozy eine ungewöhnlich
untergriffige und phasenweise rechtslastige Kampagne. So leistete er sich
während einer TV-Diskussion einen verächtlichen anti-moslemischen Ausfall.
Einer jungen Franko-Araberin, die ihn kritisierte, entgegnete er in
Anspielung auf das moslemische Opferfest: "Ihr schlachtet Lämmer in den
Badewannen". Was im Übrigen, heutzutage, da die islamischen
Glaubensgemeinschaften in Frankreich längst über ein organisiertes
Schlachtwesen verfügen, kaum mehr vorkommt.
Er übernahm wortwörtlich den ursprünglichen Spruch von Le Pen: "Liebt
Frankreich oder verlasst das Land". Er warb für eine Verschärfung der
Aufenthaltsbestimmungen für Migranten und die Erschwerung der
Familienzusammenführung. Er versprach die Gründung eines eigenen
Ministeriums für "Migration und nationale Identität", die inzwischen auch
erfolgt ist.
Ein Teil seiner Fürsprecher aus liberalen Intellektuellenkreisen nahmen
diesen Kurs als Preis dafür in Kauf, dass es Sarkozy gelang, Le Pen mehr als
zwei Drittel seiner Wähler abspenstig zu machen.
Wie so oft bei Sarkozy wurden problematische Ausritte nach rechts durch
erstaunlich mutige, humanistische Vorstöße teilweise wieder ausgeglichen. So
bekannte sich Sarkozy zu einer Politik der fortgesetzten Einwanderung und
Einbürgerung von Migranten – und das mit berührenden Worten und dem Verweis
auf die eigene Familiengeschichte.
Vor allem aber sorgte er nach seinem Amtsantritt dafür, dass drei junge
Frauen aus moslemischen Einwandererfamilien mit Posten in der Regierung
betraut wurden. Durch diesen Willensakt kompensierte Sarkozy ein klein wenig
das beschämende Ergebnis der französischen Parlamentswahlen: sieht man
einmal von den französischen Überseeprovinzen ab, wurde nur eine einzige
farbige Abgeordnete und überhaupt kein Parlamentarier mit
Migrationshintergrund gewählt.
Wobei Sarkozy seine vormalige Wahlkampfsprecherin, die 41 jährige
Berufsrichterin Rachida Dati, zur Justizministerin ernennen ließ – ein für
Frankreich schier unglaublicher Karrieresprung: noch nie wurde ein so junger
Mensch ohne vorheriger Regierungspraxis mit einem so wichtigen Ministerium
betraut. Und eine Ministerin mit einem derartigen familiären Hintergrund gab
es auch noch nie: der Vater, ein Arbeiter aus Marokko, die Mutter aus
Algerien, beide ohne Schulbildung, elf Geschwister, darunter zwei mit
Gefängnis-Erfahrung wegen Drogendelikte. Dati wurde freilich nicht zufällig
von Sarkozy für diese Mission auserkoren. So musste die erste
franko-arabische Ministerin im Juli eine (von ihr selber entworfene)
Verschärfung des Strafrechts für minderjährige Gesetzesbrecher und
Wiederholungstäter vom Parlament beschließen lassen, die sie zur Buhfrau
eines Teils der unruhigen Vorortejugend, sozial besorgter Justizkreise und
Menschenrechtsorganisationen macht.
Noch beunruhigender als einige seiner politischen Bekenntnisse erscheint der
Hang von Sarkozy zu Jähzorn und Unduldsamkeit. Einem seiner ehemaligen
Ministerkollegen drohte er die "Fresse einzuschlagen". Den Leitern eines
staatlichen TV-Senders, die ihn nicht beflissen genug empfangen hatten,
kündigte er an, er werde bei ihnen "aufräumen". Über einen befreundeten
Industriellen und Haupteigner der Illustrierten "Paris Match",
erwirkte er die Entlassung ihres Chefredakteurs. Die Zeitschrift hatte eine
Coverstory über eine außereheliche Beziehung von Sarkozys Frau, Cecilia,
veröffentlicht.
Diese Verquickung zwischen Sarkozy und den mächtigsten Unternehmern, sein
ungenierter Umgang mit Showstars, die sich auf der Flucht vor der Steuer in
der Schweiz oder Belgien einbürgern ließen, all dies hat berlusconische
Züge. Während seiner politischen Lehrjahre als Bürgermeister des
Millionärsrefugium Neuilly bei Paris leistete er sich so manchen dubiosen
Winkelzug. Seine örtlichen Gefährten zählen zum korruptesten Flügel der
spätgaullistischen Bewegung.
Dreitägige
"Schande"
Nach seinem Wahlsieg im Mai leistete sich Sarkozy einen - für Frankreich
ungewöhnlichen - glamourösen Einstieg. Erst hatte er verlauten lassen, er
werde sich in der Abgeschiedenheit eines Klosters von der Bürde seines Amts
"durchdringen lassen". Doch dann ließ er sich mit seiner Familie in einem
Luxushotel auf Einladung des befreundeten Besitzers beherbergen, im
Privatjet eines befreundeten Industriellen nach Malta fliegen und auf der
Jacht des selbigen Unternehmers gut gehen.
Das schadete ihm aber nicht, viele Franzosen sahen darin ein Beispiel
ansteckender Lebensfreude. Die Öffnung seiner Regierung hin zu
Persönlichkeiten der Linken und seine überraschend sozialpartnerschaftlichen
Töne gegenüber den Gewerkschaften wirkten beruhigend. Seine Vitalität
vermittelte den Eindruck, er werde die Angststarre der französischen
Gesellschaft überwinden und die nationale Trübsal der letzten Jahre
hinwegfegen.
Bei Sarkozys jüdischen Wählern dürfte Genugtuung darüber herrschen, sich im
allgemeinen Stimmungstrend wieder zu finden. Wären da nicht wieder die
professionellen Unheilspropheten. Alain Finkielkraut, der pessimistischste
aller jüdischen Intellektuellen Frankreichs, hatte während des Wahlkampfs
gegenüber Sarkozy (der ihn einst gelobt hatte) eine Position wohlwollender
Erwartung eingenommen. Kaum war Sarkozys dreitägige Jachteskapade beendet,
stieß Finkielkraut eine erste Warnung auf der Meinungsseite des "Le
Monde" aus: "Man kann nicht Lobhymnen auf den unparteiischen Staat
anstimmen und sein Amt damit beginnen, das man die Wohltaten eines
Wirtschaftsmagnaten akzeptiert… Nicolas Sarkozy hat uns drei Tage Schande
bereitet".
Erstveröffentlichung dieses Artikels im
Wiener jüdischen Magazin "nu".
Anmerkung:
(1) Pascal
Nivelle, Elise Karlin: Les Sarkozy – une famille francaise. Erschienen bei
Calman-Lévy, Paris 2006. |