Ein Gedicht wird zum Symbol:
ESPENBAUM oder: DAS BELSEN-BÄUMCHEN
Von Heide Kramer
Im Rahmen eines Internationalen Jugend-Work-Camps
errichteten im Jahre 1996 Schülerinnen und Schüler (Klasse 11) einer Freien
Waldorfschule in Bomlitz/Niedersachsen auf dem Gelände der Gedenkstätte
Bergen-Belsen ein kleines Baummonument. Es weist mit seinem Wurzelgebilde
himmelwärts und symbolisiert Chaos, Vernichtung und Gewalt. Auf den
Baumstamm wurde ein Gedicht des Lyrikers Paul Celan geschrieben: ESPENBAUM.
Durch die
Neugestaltung der
Gedenkstätte Bergen-Belsen und der dadurch entstandenen baulichen
Maßnahmen wurde auch das kleine Baummonument Opfer der Umstrukturierungen
und von seinem Standort entfernt. Mit dieser als kompromisslos und
unsensibel empfundenen Aktion ist die Ära der engagierten Jugendarbeit und
-kultur auf dem Gelände Bergen-Belsen zu Ende gegangen.

Paul Celan
Der 1920 in Czernowitz/Bukowina geborene deutsch-jüdische
Paul Antschel (Ancel) schließt sich 1934/35 ohne Wissen oder Einverständnis
seiner Eltern einer illegalen kommunistischen Jugendorganisation an, die
eine "rote Schülerzeitschrift" in rumänischer Sprache herausgibt. Diese
Aktivitäten verdeutlichen ein frühes politisches und soziales Engagement des
jungen Mannes. Nach dem Abitur im Jahre 1938 entschließt sich Paul Antschel
an der Universität von Tours/Frankreich für ein Medizinstudium. Er kehrt
1939 nach Czernowitz zurück und nimmt im September an der Universität
Czernowitz ein Romanistikstudium auf. Durch den Überfall der deutschen
Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 wird auch Antschel mit den
Gräueltaten der Faschisten, aber ebenso durch die Besetzung der Bukowina
durch die Rote Armee konfrontiert. Er wird in das 1941 eingerichtete Ghetto
von Czernowitz eingewiesen und später dem Zwangsarbeitslager bei Buzau in
der südlichen Moldau überstellt. Seine Eltern fallen 1942 dem Massenmord an
den Juden zum Opfer. Ab 1944 studiert Paul Antschel Anglistik in Czernowitz.
In diesem Jahr entstehen Gedichtsammlungen. Seine Veröffentlichungen
erscheinen erstmals 1947 unter dem Pseudonym Paul Celan. Ende 1947 emigriert
Celan nach Wien und nimmt 1948 seinen Wohnsitz in Frankreich/Paris.
Seine traumatischen Erfahrungen bleiben Celan zeitlebens gegenwärtig und
bilden schließlich das Zentrum seines gesamten literarischen Werks.
1970 begeht Paul Celan nach einem unruhigen depressiven Leben in Paris
Selbstmord.
ESPENBAUM ist vermutlich in der Übersiedlungsphase von Czernowitz nach
Bukarest (1944) entstanden:
ESPENBAUM,
dein Laub blickt weiß ins Dunkel.
Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß.
Löwenzahn, so grün ist die Ukraine.
Meine blonde Mutter kam nicht heim.
Regenwolke, säumst du an den Brunnen?
Meine leise Mutter weint für alle.
Runder Stern, du schlingst die goldne Schleife.
Meiner Mutter Herz ward wund von Blei.
Eichne Tür, wer hob dich aus den Angeln?
Meine sanfte Mutter kann nicht kommen.
Bergen-Belsen im August 1997
Ich habe das von den Schülerinnen und Schülern der Freien
Waldorfschule in Bomlitz errichtete Baummonument im Sommer 1997 auf dem
Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen als künstlerische Impression
umgesetzt.
Eine hauptsächlich am Projekt beteiligte Schülerin erläuterte
mir in einem Brief die Beweggründe zur Entstehung des Baummomunents:
"Es hat uns die größte Freude bereitet, dass dieses
Monument, in das wir unsere Gefühle, die wir bei dem Work-Camp in
Bergen-Belsen gehabt haben, Sie dazu inspirierte, es zu malen. Dass die
Menschen dieses Monument anerkannt haben, war und ist uns sehr wichtig.
Angeregt haben uns die Ausgrabungen und die gefundenen Gegenstände in
Bergen-Belsen während des Work-Camps.
Während der Arbeiten am Gelände wurden häufig einige Bäume abgesägt, eine
Freundin und ich hatten die Idee, um diesem Baum noch einen sinnvollen Zweck
zu geben, Namen von Opfern aus Bergen-Belsen auf den Stamm zu schreiben.
Zwei weitere Personen hatten zuvor die Idee, eine Skulptur zu errichten. Und
so vereinigten sich unsere Ideen und ergaben dieses Monument. Als wir diesen
Baumstamm fanden, sahen wir in ihm das Ausgetrocknete, Leblose und Gequälte,
wie es den Häftlingen ergangen war. Das Gedicht Paul Celans 'Espenbaum'
wählten wir zu allererst, da der Ausdruck des Gedichtes wieder zu finden war
im Ausdruck des Baumes.
Auf die Idee, die Wurzeln in den Himmel ragen zu lassen, kamen wir, da in
dem Gedicht zu lesen ist "Eichne Tür wer hob dich aus den Angeln". Dieses
fatale, verrückte, unmenschliche Regime sollte deutlich werden. Es wird in
dem Gedicht das Gedenken an die Opfer ausgesprochen in dem Satz "Meine leise
Mutter weint für alle".
Die Scherben in dem Baumstamm sollten die unheilbaren Wunden symbolisieren,
die die Menschen heute niemals vergessen dürfen.
"Wenn die Menschen schweigen, werden Steine schreien". -- Dieses Zitat
bewegte uns dazu, Steine an das Monument zu legen und den großen Stein als
Verdeutlichung unter das Monument zu legen. Die Steine legten wir nur in
einem Halbkreis um das Monument. Später sah ich, dass der Kreis geschlossen
worden war. Besucher hatten, nach jüdischem Brauch, Steine nieder gelegt, um
der Opfer zu gedenken".
(Mithra Zargari, Schülerin der Klasse 11, Freie Waldorfschule
Bomlitz/Niedersachsen, 31. November 1997)
Textbeitrag: ©Heide Kramer, Hannover, August 2007.
Künstlerische Impression (Mischtechnik) "Espenbaum oder Das
Belsen-Bäumchen": ©Heide Kramer, August 1997.
Quellenangabe:
©Rowohlt Taschenbuch Verlag (Rowohlts Monographien "rororo"), "Paul Celan",
dargestellt von ©Wolfgang Emmerich.
Auszug aus dem Brief von ©Mithra Zargari, Wohlendorf/Niedersachsen, 1997.
19. März 1945:
Die Hölle
von Bergen Belsen
"Auschwitz war die organisierte Hölle, Bergen Belsen ist die
Hölle ohne Gnade." Die das sagt, kennt beide Lager: Lin Jadalti ist
holländische Jüdin und Freundin von Anne Frank...
Die Lager und Gedenkstätten:
Bergen-Belsen, bei Celle, Niedersachsen
Lager vor allem für jüdische Häftlinge; eingerichtet
im April 1943 als »Aufenthaltslager« für Personen, die gegen deutsche
Staatsbürger in alliierten Ländern ausgetauscht werden sollten, aber nur
wenige »Austauschjuden« wurden wirklich freigelassen, teilweise wurden sie
nach Auschwitz deportiert und dort ermordet... |