«Es
ist unter Umständen schwieriger, mit Terrorismus klar zu kommen, als mit
Krieg. Krieg unterliegt geografischen und zeitlichen Begrenzungen. Der
Terrorismus kennt keine Grenzen.»
Solly Dreman, klinischer Psychologe der Abteilung für
Verhaltenswissenschaften der Ben-Gurion-Universität im Negev
Jerusalem:
Einer der unsichersten Wohnorte der Welt
Rahamin Zidkiyahu, ein leidenschaftlicher Fußballfan,
bekniete seinen Vorgesetzten, ihn für den Frühbus einzuteilen, so dass er am
Nachmittag frei haben würde und sich das WM-Spiel zwischen Japan und der
Türkei würde anschauen können. Sein Boss sagte Nein. Doch dann erschien der
eingeteilte Fahrer nicht pünktlich zum Dienst, für Rahamin ein Zeichen, dass
Gott ihm wohlgesinnt war.
Nur allzu gern sprang er ein und übernahm den Frühbus. An diesem Morgen des
18. Juni 2002 war der Bus der Linie 32A in Jerusalem dicht besetzt mit
Schulkindern und Berufspendlern: ein Junge mit Kippa und Pferdeschwanz und
mit einem Rucksack, länger als seine Rückenpartie; das langjährige
Hausmädchen des israelischen Präsidenten; eine Ingenieurin, die aus Russland
ausgewandert war, nachdem dort Landsleute ihren Mann verprügelt hatten, nur
weil er es gewagt hatte, in der Öffentlichkeit seine Kippa zu tragen; junge
arabische Israelis auf dem Weg zur Pädagogischen Hochschule, an der sie
studierten; Juden, Muslime und Christen.
Rahamin fuhr diese Busroute seit 27 Jahren und behandelte
seine Fahrgäste wie Freunde – viele waren es auch. Hatte einer einmal nicht
genug Geld für den Fahrpreis bei sich, legte Rahamin (dessen Name im
Hebräischen «Mitleid» bedeutet) es für ihn aus. Wenn Leute auf die
Haltestelle zugerannt kamen, wartete er auf sie.
Shiri Nagari verpasste den Bus. Ihre Mutter trat aufs Gaspedal, um ihn an
der nächsten Haltestelle einzuholen, damit Shiri nicht zu spät zu der Bank
kam, bei der sie einen befristeten Job gefunden hatte. Die 21-Jährige mit
dem blonden Zopf, der ihr bis zur Hüfte reichte, war dabei, Geld
zusammenzukratzen, um sich die Studiengebühren an der Jerusalemer
Hebräischen Universität leisten zu können. Sie hoffte, dort wie ihre
Schwester Medizin studieren zu können.
Für die Grundschüler war es der letzte Schultag, und die in Äthiopien
geborene Christin Galila Bugala konnte ihn kaum erwarten. Die Elfjährige war
so populär, dass ihre Klasse sie zur Zeremonienmeisterin für ihren
bevorstehenden «Spaßtag» gewählt hatte. Als Shani Avi-Zedek in den Bus
stieg, ermahnte ihre Mutter sie, Sonnencreme aufzutragen. «Die Sonne wird
mich nicht umbringen», antwortete die 15-Jährige, die sich auf den Ausflug
ihrer neunten Klasse ins Freibad freute. Vor ihr lagen geschäftige Tage:
Nachhilfestunden für das Kind eines versehrten Kriegsveteranen, ein Auftritt
bei einer Tanzveranstaltung, dann der Flug nach Berlin im Rahmen eines
israelisch-deutschen Jugendaustauschs.
Raffi Berger gab seiner Frau Orit einen Abschiedskuss und machte sich auf,
den rappelvollen Bus zu erwischen, der ihn zu seinem Arbeitsplatz in einem
Chemielabor der Hebräischen Universität bringen sollte. Orit war froh, dass
Raffi, der Reservist war, wohlbehalten von einem Kampfeinsatz zurückgekehrt
war. Er hatte an einer militärischen Operation in der West Bank
teilgenommen, die dem Ziel diente, auf ihren Einsatz wartende
Selbstmordattentäter abzufangen und Sprengstofflabore zu zerstören. Als das
jung verheiratete Paar in seine erste gemeinsame Wohnung zog, hatte Raffis
Bruder, ein Statistiker, ihm vorgeschlagen, einen Kredit aufzunehmen und ein
Auto zu kaufen. «Machst du Witze?», hatte Raffi ihn angefeixt. «Ein Student
in Jerusalem hat ein sichereres Leben als ein Soldat in Jenin.»
Immerhin war Raffi ein vorsichtiger Buspassagier, der die einschlägigen
Statistiken kannte: Die sichersten Plätze sind die ganz vorne beim Fahrer.
Um 7.50 Uhr bestieg Ayman Gazi, Student an der Pädagogischen Hochschule, an
der Raffis Vater Mathematik lehrt, den Bus der Linie 32A in Begleitung
einiger arabischer Israelis, die Kommilitonen von ihm waren. Der Letzte, der
zustieg, war ein junger Mann mit Brille und rotem Hemd. Sich anschickend,
beim Fahrer ein Ticket zu kaufen, machte er zwei Schritte vorwärts. Eine
Sekunde später schoss mit ohrenbetäubendem Knall eine große Feuerkugel nach
oben, und angesengte Schultaschen und Menschenbeine flogen durch die Luft.
Dann kehrte eine unheimliche Stille ein, später waren Schreie zu hören. Die
Alarmsirenen von Dutzenden Rettungsfahrzeugen konnten das Stöhnen der
Verletzten nicht übertönen.
Rahamin saß noch auf dem Fahrersitz, seine leblosen Hände ans Lenkrad
geklammert. Blut sickerte über die Einstiegsstufen. Die Explosion hatte die
vordere Hälfte des Busses zerstört. Die 22-Kilo-Bombe des Palästinensers
tötete Ayman, Raffi, Shani, Galila, Shiri und vierzehn weitere Fahrgäste.
Der Bus war nur noch ein geschwärztes Metallskelett, so verbogen, dass es
den Rettungsmannschaften schwer fiel, die Leichen aus dem Wrack zu bergen.
Sie betteten sie in schwarze Plastikbeutel, die sie auf dem Gehweg ablegten.
Daneben lagen herrenlose Mobiltelefone, die klingelten und klingelten.
Zu dem grausigen Hagel, den die Bombe an Bord des Busses der Linie 32A
versprühte, gehörten mit tödlichem Rattengift präparierte Nägel und
Schrauben, die sich in Gehirne, Lungen und Augen bohrten. Als die nur allzu
erfahrenen Sanitäter, zu deren Ausrüstung eine Pistole am Gürtel gehört, die
74 Verletzten in Rettungswagen verfrachteten, wussten sie nicht, welche
unter ihnen Juden, welche Araber waren. Rettungskräfte machen keine
Unterschiede. Auf der Wöchnerinnen- und auf der Intensivstation liegen
arabische und jüdische Patienten Bett an Bett. Auch in der Leichenhalle
liegen sie nebeneinander.
Raffi Bergers Frau, Musiklehrerin an einer Grundschule, fuhr mit einem
späteren Bus. Der bog plötzlich ab und nahm eine andere Route. Die Straße
ist gesperrt, verkündete der Busfahrer, wegen eines Terroranschlags. Orit
wählte Raffis Handynummer. Keine Antwort. Sie wählte wieder. Und wieder. Sie
rief in seinem Labor an der Hebräischen Universität an. Er war noch nicht
eingetroffen. Sie rief seine Eltern an. Die klapperten die Krankenhäuser ab.
Als es Mittag war, entschlossen sie sich, die Fahrt zu machen, vor der es
jedem Israeli graut – zum gerichtsmedizinischen Institut in Tel Aviv. Die
Leichen waren so schlimm zugerichtet, dass es unmöglich war, sie zu
identifizieren. Man zeigte den Bergers verkohlte Schuhe und Eheringe. Eine
Schwester nahm Blutproben von Raffis Mutter und Vater. Ihre DNA stimmte mit
der einer Gewebeprobe überein. Raffi hatte geglaubt, als Student in
Jerusalem, auf einem der Vordersitze eines Linienbusses, sicherer zu sein
als bei der Fahndung nach Terroristen im Raum Jenin; sein Schicksal wollte
es anders.
Der Mann im roten Hemd, der sein Fahrgeld nicht bezahlt hatte, war Muhammad
al-Ghoul, Student der islamischen Jurisprudenz an der Al-Najah-Universität
in Nablus, wo Chemiestudenten bei der Produktion von Sprengstoff ertappt
wurden und Transparente mit der Aufschrift «Israel hat Atombomben, wir haben
menschliche Bomben» auftauchten. An dieser Universität haben Werber der
Hamas (das arabische Wort steht für «Feuereifer» oder «Tapferkeit» und ist
zugleich ein Akronym für «islamische Widerstandsbewegung») eine Reihe von
Studenten rekrutiert, die bereit sind, im Kampf für einen islamischen Staat
zu sterben, der das gesamte Gebiet des heutigen Staates Israel einschließen
würde. Muhammad hinterließ seiner Familie einen Abschiedsgruß: «Wie schön es
ist, zu töten und getötet zu werden… für das Leben der kommenden
Generation.»
Seinen Angehörigen, die in einem Flüchtlingslager bei Nablus leben,
überbrachten Besucher Kondolenzbotschaften und Glückwünsche. «Mein Bruder
ist ein Held, ich bin nicht traurig», sagte seine Schwester. «Ich bin sehr
glücklich, dass er ein Märtyrer ist», setzte sein Vater hinzu. «Unsere Söhne
wollen für unser Land sterben, damit wir es zurückbekommen.»
Bis 2003 erhielt die Familie eines Selbstmordattentäters mindestens 250.000
Dollar aus dem Irak, dazu Prämien von Privatleuten aus Saudi-Arabien. Die
Familie eines Palästinensers, der beim Versuch, einen Terroranschlag zu
verüben, von Spezialisten der Israeli Defense Forces (IDF) liquidiert wurde,
bekam 10.000 Dollar. Zum Zeitpunkt von Muhammads Tod befürwortete, wie
Umfragen zeigten, eine Mehrheit der Palästinenser Selbstmordanschläge und
sprach sich für die Vernichtung Israels aus.
Muhammad entsprach dem Anforderungsprofil für den «idealtypischen» Märtyrer:
Er war überzeugter Muslim, unverheiratet, männlich und Anfang zwanzig. Im
Verlauf der zweiten Intifada sind jedoch neue Typen von
Selbstmordattentätern auf den Plan getreten: Nunmehr handelte es sich um
junge Frauen, verheiratete Männer und Schüler. Terroristen können überall
auftauchen und äußerlich durch nichts auffallen. Sie sind in zahlreichen
Verkleidungen aufgetreten: in gestohlenen israelischen Uniformen, als
orthodoxe Rabbiner mit Vollbart, einmal sogar als Punker mit blond gefärbtem
Haar. Die erste Selbstmordbomberin brauchte sich noch nicht zu verkleiden.
Die hübsche 27-Jährige sah wie eine typische Israelin aus. Kurz nachdem ihr
Cousin sich von ihr scheiden ließ, weil sie unfruchtbar war, spazierte die
Frau, die als Sanitäterin für den palästinensischen Roten Halbmond
arbeitete, durch die Innenstadt von Jerusalem und sprengte sich in die Luft.
Ein zum Sterben entschlossener Terrorist ist kaum zu stoppen.
Am 27. Juni 2002, eine gute Woche nachdem Muhammad al-Ghoul den Bus der
Linie 32A gesprengt hatte, strahlte das palästinensische Fernsehen ein
«Jungfrauen-Video» aus. Es zeigte einen gut aussehenden Palästinenser, der
israelische Soldaten beobachtete.
Dann tauchten aus einem Traumnebel wunderschöne Mädchen in wallenden weißen
Gewändern auf, die verführerisch lächelten und ihn zu sich winkten. In der
nächsten Szene ermordete er die Soldaten. Als er sich zur Flucht wandte,
wurde er erschossen. Es folgte ein Schnitt auf eine junge Frau im weißen
Kleid, die ihn im Paradies willkommen hieß. In der letzten Einstellung
dieses Werbevideos waren Dutzende von Jungfrauen zu sehen, die den
lächelnden Märtyrer zärtlich liebkosten. (Muslimen, die bei ihrem Selbstmord
möglichst viele Juden mit in den Tod reißen, wird der Ehrentitel eines
Shahid verliehen, eines «Märtyrers des islamischen Dschihad».) Obwohl der
Koran die Selbsttötung ausdrücklich verurteilt, gilt der Dschihad, der
heilige Krieg, offensichtlich als eine hinreichende Rechtfertigung für die
Hingabe des eigenen Lebens. Schon der erste Blutstropfen, den ein Märtyrer
verliert, berechtigt ihn zum Eingang ins Paradies, in dem, wie der Koran
verheißt, «72 Jungfrauen jeden Märtyrer erwarten.… Die Frauen haben
Rehaugen. Sie sind wie kostbare Juwelen. Sie sind so weiß,… und wenn sie
Wasser trinken, kannst du sehen, wie das Wasser durch ihre Kehle fließt.»
Dr. Adel Sadeq, Vorsitzender der Arabischen Psychiatrischen Vereinigung, hat
über Selbstmordattentäter dies zu sagen: «Als professioneller Psychiater
behaupte ich, der Höhepunkt des Glücksgefühls wird am Ende des Countdowns
erreicht: zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.
Wenn der Märtyrer bei ‹eins› anlangt und explodiert, hat er das Gefühl zu
fliegen, weil er mit Bestimmtheit weiß, dass er nicht stirbt. Es ist ein
Übergang in eine andere, schönere Welt. In der westlichen Welt opfert
niemand sein Leben für das Vaterland. Jeder springt als Erster über Bord,
wenn sein Vaterland untergeht. In unserer Kultur ist das anders.… Das ist
die einzige arabische Waffe, die existiert, und jeder, der etwas anderes
behauptet, ist ein Verschwörer.»
Aus Donna Rosenthal: "Die Israelis", Kapitel 1, S.14 -
22; Copyright Verlag C.H.Beck oHG, aus dem Englischen von Karl Heinz Siber
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Leben in einem außergewöhnlichen Land:
Die
Israelis
Israel ist ein Land mit vielen Gesichtern. CNN zeichnet ein
anderes Bild als al-Jazeera. Die BBC hat ihre Version, die F.A.Z. eine
andere. Donna Rosenthal lässt die Menschen mit ihren Hoffnungen und Wünschen
zu Wort kommen und zeichnet dabei ein sensibles Portrait dieses Landes
zwischen Tradition und Moderne...
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