Die "Grüne Erweiterung" in Ferrara:
Eine Perspektive auf Zivilisation und Barbarei am Podelta
Giorgio Bassani, Deutschland und Europa
Von Carl Wilhelm Macke
"Europa", so schreibt der österreichisch-englische
Kritiker Gerges Steiner, "hat bislang noch nicht den Willen aufgebracht, um
die tiefergehenden Wurzeln seiner Barbarei aufzudecken. Nicht unweit des KZ
Buchenwald befindet sich Goethes "Wundergarten". Wir müssen uns daher
fragen, welche Verknüpfungen es zwischen unserer großen Kulturgeschichte,
auf die sich unser Stolz auf unsere Zivilisation gründet, und der Barbarei
gibt."
Diese Nähe zwischen "Zivilisation und Barbarei", in
Dresden und entsprechend in Ferrara, macht all unsere humanistischen
westlichen Werte zunichte. Dieses ist eine außerordentliche, aber
gleichzeitig auch eine nützliche und notwendige Herausforderung. Jeder
Deutsche, auch jeder nachgeborene Deutsche, der über diese Nähe nachdenkt,
kommt nicht umhin, innerlich zurückzuschrecken.
Giorgio Bassani, Deutschland und Europa:
Eine lange Geschichte, voller Schmerzen, aber auch voller Hoffnungen.
I. Bassani und Deutschland
Wie dürfte der große Erfolg und die wohlwollende Aufnahme
der Werke des Ferrareser Schriftstellers in eben jenem Land zu begründen
sein, das für die Deportation und die Vernichtung von Millionen Juden,
darunter zahlreicher Ferrareser Juden, verantwortlich war?
Ich gehe auf diesen Aspekt ganz besonders ein, nicht nur,
weil ich Deutscher bin, sondern auch, weil neben Italien aber auch
Deutschland stets ein Referenzpunkt für Giorgio Bassani war, im Negativen
wie im Positiven.
Die Übersetzungen der Romane und Erzählungen Giorgio
Bassanis erschienen in Deutschland genau zu jener zeit, als die Deutschen
begannen, sich sehr ernsthaft mit ihrer nazistischen Vergangenheit
auseinanderzusetzen.. Während der Fünfzigerjahre, zur Zeit des
Wirtschaftswunders, wurde jede Erinnerung an den Nationalsozialismus
unterdrückt. Die Deutschen hatten sogar versucht, jenes dunkle Zeitalter
selbst aus ihrer Erinnerung zu verdrängen. "Man vermied es, in die
Geschichte zurückzublicken, man lebte, und man dachte ausschließlich an die
Gegenwart. Staat und Politik wurden in den Hintergrund gedrängt." So schrieb
über jene Jahre der Journalist Helmut Böttinger in seinem Rückblick auf das
Westdeutschland der Fünfzigerjahre.
Diese Haltung änderte sich in den Sechzigerjahren, vor
allem dank der Achtundsechziger-Bewegung. Während der letzten Jahre gab es
zahlreiche, oft auch begründete Kritiken an der Studentenbewegung, aber man
kommt nicht umhin, jener Bewegung zuzugestehen, dass es die Diskussion um
die Nazi-Vergangenheit wieder eröffnete. Vor allem innerhalb der
bürgerlichen Familien brachen starke generationelle Konflikte zwischen
Vätern und Söhnen darüber auf, wer für jene Untaten verantwortlich sei.
In jene Jahre fiel die Wiederentdeckung an den
Universitäten von literarischen und philosophischen Texten, die auf
emigrierte Juden und Antifaschisten zurückgingen, die man in der ersten
Nachkriegszeit vergessen oder gar unterschlagen hatte. Das Interesse and der
deutschsprachigen Exilkultur (die Familie Mann, Walter Benjamin, Bertold
Brecht, die Frankfurter Schule etc.) erhielt neue Impulse. Darüberhinaus
entdeckte man auch die antifaschistische Literatur der übrigen europäischen
Länder, etwa die Romane des Spaniers Jorge Semprun, des in Belgien lebenden
Österreichers Jean Amery, das Tagebuch der Holländerin Anne Frank, die
Romane der Italiener Cesare Pavese, Alberto Moravia, Ignazio Silone, Primo
Levi und eben auch das Werk Giorgio Bassanis.
Aber es gibt Unterschiede zwischen den einzelnen
Schriftstellern und Künstlern. Für Primo Levi stand die Wirklichkeit der
nazistischen Konzentrationslager im Vordergrund. Die Erfahrung des
Widerstands gegen die nazistische Besatzung wurde von Beppe Fenoglio
erzählt. Roberto Rossellini stellte mit "Rom, offene Stadt" das Verhalten
der deutschen Besatzungstruppen in Rom dar. Lesen wir hingegen das Werk
Bassanis "mit deutschen Augen", so fällt auf, dass er vor allem am
Faschismus, an Italien und an Ferrara interessiert ist. Wohl werden einige
der Hauptfiguren seiner Romane nach Deutschland deportiert und von den Nazis
in den Gaskammern ermordet: "Nach einem kurzen Aufenthalt im Gefängnis in
Via Piangipane wurden sie im darauffolgenden November ins KZ Fossoli bei
Carpi und von dort aus nach Deutschland verbracht" (aus dem Schlusswort der
"Gärten der Finzi Contini"). Insgesamt fokussiert der Autor aus Ferrara
seinen Blick auf das Scheitern des italienischen Bürgertums, vor allem des
jüdischen Bürgertums in einer Provinzstadt wie Ferrara.
Uns Deutsche traf die Weise, wie Bassani die zahlreichen
Widersprüche innerhalb des jüdischen Bürgertums kritisch offenlegte.
Im Deutschland der Nachkriegszeit herrschten gegenüber den
Juden zweierlei Positionen vor, die sämtliche politische
Auseinandersetzungen prägten: Es gab noch einen latenten, manchmal aber auch
offenen Antisemitismus, und es setzte sich eine manichäische Weltvorstellung
durch. Es gab die Nazis und ihre Sympathisanten auf der einen Seite und die
demokratischen Antifaschisten, Juden und anderen unter der Nazi-Herrschaft
Diskriminierten auf der anderen. Ein Drittes gab es nicht. Es war in
Deutschland unvorstellbar, dass jüdische Bürger mit den Faschisten
sympathisiert haben könnten, wie dies in Ferrara bis zum Erlass der
Rassengesetze der Fall war.
Liest man Bassanis Romane, so tritt einem hingegen eine
gewisse Faszination der städtischen Bourgeoisie, auch der jüdischen, dem
Faschismus gegenüber vor Augen. Vielleicht stießen Bassanis Romane gerade
deshalb auf eine überraschend breite Resonanz seitens des deutschen
Publikums: Bassanis Antifaschismus war subtiler und versteckter als der
zahlreicher deutscher Exilschriftsteller. Im Unterschied zu der vor allem in
der DDR gängigen Lesart des Antifaschismus, derzufolge dieser ausschließlich
etwas Heroisches hatte, schuf Bassani keine Helden. Leicht kann man sich mit
Bassanis Erzählfiguren und deren Empfindungen identifizieren (vor allem mit
Micol aus den "Gärten der Finzi-Contini"). Das bürgerliche Milieu der
"Ferrareser Geschichten" war dem deutschen Leser jedenfalls sehr viel näher
als das proletarische Milieu der der kommunistischen Schule angehörenden
Autoren. Beispielsweise konnte man die Empfindungen des Doktor Fadigati den
eigenen sehr gut zuordnen, weil jene kleinbürgerliche Atmosphäre auch in den
deutschen Städten verbreitet war.
Unter den deutschen Autoren der Sechzigerjahre war es vor
allem Alfred Andersch, dem das große Verdienst zukam, das Werk Giorgio
Bassanis in Deutschland bekannt zu machen. In der Tat haben seine Romane
viel mit denen Bassanis gemeinsam. Auch Andersch unterstreicht die Rolle des
Bürgertums innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung. Paradigmatisch
etwa die Frage von Andersch in der um die Figur des Altphilologen Professor
Rex kreisenden Erzählung "Vater eines Mörders": "Ist es möglich, dass uns
der Humanismus nicht zu beschützen vermag?" Erinnern wir uns, dass die Figur
des Altphilologen vom Vater des Nazimörders Heinrich Himmler inspiriert
wurde. Andersch sind die ersten Anerkennungen für die das Werk von Giorgio
Bassani im literarischen Milieu Deutschlands zu verdanken. So stammt
beispielsweise von ihm die Laudatio aus Anlass der Verleihung des
Nelly-Sachs-Preises im Jahr 1968 an Bassani. Zu den schönsten Widmungen, die
der Schriftsteller aus Ferrara erfuhr, zählt auch Andersch' Essay "Auf den
Spuren der Finzi-Contini".
Spricht man vom Verhältnis Giorgio Bassanis zu
Deutschland, kommt man nicht umhin, seine Bewunderung für Thomas Mann zu
erwähnen. Die Persönlichkeit und das Werk Manns standen bei der durch
freundschaftliche Beziehungen zu Bassani verbundenen Familie Croce in hohem
Ansehen. Der Briefwechsel zwischen Benedetto Croce und Thomas Mann aus den
Dreißigerjahren zeigt, wie sehr die beiden großen europäischen
Intellektuellen einander schätzten. Im Mittelpunkt jener Korrespondenz
standen die beiden (übrigens von Mann nie ins Deutsche übersetzten) Begriffe
"civiltà" und "cultura", ein bedeutsames Leitmotiv auch im Werk Bassanis.
An einen weitereren Deutschen neben Thomas Mann, seinem
Vorbild, und Alfred Andersch, seinem Bewunderer, muss erinnert werden: an
Herbert Schlüter, seinen Übersetzer. Dessen Übersetzungen sind gehaltvoll
und vorbildlich geblieben, ganz im Unterschied beispielsweise zu den
teilweise diskutablen und daher mehrfach neu vorgenommenen Übersetzungen der
Werke Paveses. Herbert Schlüter ist es gelungen, in der deutschen Sprache
jene besondere Melodie sowie die Schattierungen der Ironie und Sehnsucht der
Sprache Bassanis nachzubilden. Schlüter, der heute hundert Jahre alt wäre,
lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2004 in München.(1) Er hatte für seine
Übersetzungen der Werke von Bassani den angesehen Übersetzerpreis der Stadt
München erhalten, der den besten Übersetzern zuteil wird.
Wenn von der großen Resonanz von Bassanis Werken in
Deutschland die Rede ist, darf der Piper Verlag nicht unerwähnt bleiben, dem
unter den Verlagen der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle zukommt. Einige
der von Piper verlegten Autoren waren für die Schaffung einer demokratischen
Kultur in der Bundesrepublik unverzichtbar. So publizierte Piper das Werk
von Karl Jaspers, eines der bedeutendsten deutschen Philosophen der
Nachkriegszeit, und Hannah Arendt, der zweifelsohne die Ehre zuteil wird,
eine der bekanntesten jüdischen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts
gewesen zu sein.
Neben den erwähnten philosophischen Werken bot Piper dem
deutschsprachigen Publikum bedeutende erzählerische Werke, darunter die
zahlreicher zeitgenössischer italienischer Autoren. Während der Sechziger-
und frühen Siebzigerjahren war der Verlag ein Fixpunkt in der Begegnung
zwischen italienischen Schriftstellern und deutschsprachigem Publikum.
Eine tiefe Freundschaft verband den Verlagsleiter Klaus
Piper mit dem Verlag Feltrinelli. So veröffentlichte Piper etwa die deutsche
Ausgabe des "Leopard" von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Im Fahrwasser dieses
Romanautors erfolgte dann die sukzessive Veröffentlichung der Werke Bassanis
– man erinnere sich, dass der Ferrareser Schriftsteller zu jener Zeit als
Verlagsberater bei Feltrinelli tätig war.
"Die Gärten der Finzi-Contini" war neben dem "Leopard"
über viele Jahre hinweg einer von Pipers Bestsellern. Ebenfalls auf Piper
geht die Veröffentlichung von "Erinnerungen des Herzens" des Oldenburger
Politwissenschaftlers Eberhard Schmidt zurück, das Schriften von und über
Giorgio Bassani enthält, und das zur Verbreitung des Werks von Bassani in
Deutschland erheblich beitrug.
In den letzten Jahren geriet der Ferrareser Autor beim
deutschen Publikum beinahe völlig in Vergessenheit – beinahe, den sein
Hauptwerk, "Die Gärten der Finzi-Contini", wird immer wieder neu aufgelegt.
Vor einigen Jahren erschien eine elegante Vierer-CD mit dem Roman "Die
Gärten der Finzi-Contini".
Die wichtigsten deutschsprachigen Tageszeitungen widmeten
der Nachricht vom Tod des Schriftstellers am 13. April 2000 bedeutende
Artikel.
Giorgio Bassani ist heute keiner der vom deutschsprachigen
Publikum meistgelesenen italienischen Autoren. Andere Namen haben seinen
Platz eingenommen: Antonio Tabucchi, Umberto Eco, Andrea Camilleri, Dacia
Maraini, Claudio Magris und Fabrizia Ramondino. Dennoch bleibt er von
zweifellosem Wert, und durch sein Werk erfolgt die Erinnerung an jene für
Deutschland so wichtige Epoche, als in dem post-faschistischen Gemeinwesen
eine demokratische, weltoffene Kultur entstand.
Dass Deutschland heute über starke demokratische
Institutionen verfügt, und dass die extreme Rechte bei Wahlen nur wenige
Stimmen zu erringen vermag, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Meine
Überzeugung ist es, dass zu diesem Ergebnis die große Verbreitung im
deutschen Publikum der Romane der Italiener Cesare Pavese, Primo Levi,
Natalia Ginzburg und Giorgio Bassani nicht wenig beigetragen haben.
II. Bassani und Europa
Bassanis Werk erhält seine Aktualität, solange unsere
Erinnerung an jene dramatischen Jahre des vergangenen Jahrhunderts wach
bleibt, denn es vermittelt die großen humanen und bürgerlichen Werte, die
über Konsumismus Egoismus hinausgehen, wie sie heutzutage das tägliche Leben
in Deutschland, Italien und ganz Europa prägen. In einem Gespräch mit Paolo
Bonetti, das die politische Zeitung "Voce Repubblicana" 1984
veröffentlichte, sprach Bassani ausführlich über "sein Europa".
Jenes für das von mir behandelte Thema sehr bedeutsame
Gespräch stand unter der Überschrift "Das Europa der Kultur und der
Vernunft" – beinahe ein Testament voller Denkanstöße, das in diesen Tagen
verfasst zu sein scheint und doch viele Jahre vor dem Tod des
Schriftstellers veröffentlicht wurde, beispielsweise über Amerika und
Europa: "Wir sollten Amerika als ein zu korrigierendes Vorbild ansehen – es
ist uns auf dem Weg der totalen Industrialisierung voraus, auch weil es ein
einfacheres Land ist, so viel ärmer an Komplexitäten als Europa. Aber es ist
unsere Frucht, der Erbe unserer Zivilisation und unserer Tradition… Alle,
egal ob Amerikaner oder Europäer, sind wir hier geboren, auf dieser Seite
des Atlantiks. Wir aber sind den Wurzeln näher, welche auch die ihren sind.
Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diese Wurzeln gegen die Barbarei einer
Welt zu verteidigen, die den Menschen als einen eindimensionalen,
konsumbereiten Gegenstand wahrnimmt."
Wie eine Zusammenfassung all dessen, was er davor über
Europa gesagt hatte, fordert Bassani dann klar und ohne jede Retorik zum
Lesen seiner "Ferrareser Geschichten" auf: "Der jüdische und christliche
Geist ist meinen "Ferrareser Geschichten" sehr wohl eigen… Dieses Buch
enthält meine Botschaft an Europa, den tieferen Sinn meines moralischen und
bürgerlichen Engagements".
Ein Holocaust-Museum mitten in einem großen Park, in dem
heute und zukünftig Kinder spielen und sorglos die Erwachsenen flanieren,
das wird "für immer eine Wunde unserer Zivilisation und Erinnerungkultur
bleiben". Ganz wie Bassanis Werk, wenn man den Worten Roberto Cotroneos
Glauben schenkt. Aber ist es möglich, ein neues Europa ohne die schmerzhafte
Erinnerung an die Wunde unserer eigenen Geschichte zu schaffen? Ich glaube:
nein.
Parkanlage "Grüne Erweiterung" oder
"Addizione Verde" in Ferrara
Aber "nur" zu erinnern hat keinen Sinn. Das birgt die
Gefahr eines leblosen Vergangenheitskults. Statt dessen gilt es – nicht
zuletzt architektonisch – eine Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft,
zwischen Erinnerung und Hoffnung zu knüpfen.
Nach dem Tod Giorgio Bassanis schrieb ein Kritiker aus
Deutschland: "Bassanis Werk nimmt einen wichtigen Rang in der europäischen
Kultur ein." Ich würde hinzufügen: Auch die "Grüne Erweiterung", der Giorgio
Bassani-Park und das Holocaust-Museum in Ferrara sind Vorbild dafür, wie ein
europäisches Mahnmal Vergangenheit und Zukunft, wie es eine geschichtliche
Wunde mit der verspielten Schönheit eines Stadtparks miteinander zu
verbinden vermag.
Ferrara:
Einmütige
Erinnerung
In Ferrara soll ein italienisches 'Shoah'-Museum entstehen...
Übersetzung aus dem Italienischen: Dott. Matthias
Fischer
Matthias Fischer studierte Dolmetschen an der
Universität Triest (Italien). Gegenwärtig unterrichtet er Technische
Fachübersetzung am Sprachen und Dolmetscherinstitut München. Er betreibt
eine Agentur für technische
Fachübersetzungen und technische Redaktion.
Anmerkung:
(1) Text an die Gegebenheiten zum Zeitpunkt der Übersetzung angepasst
(A.d.Ü.).
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