Die Fassade bröckelt:
Israels Armee und Regierung geraten unter Beschuss
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Oppositionschef Benjamin Netanjahu ist in London unterwegs, um die
Politik seiner Regierung zu "erklären". Auch andere Oppositionspolitiker
ließen sich einspannen, an der Propagandafront für den "gerechten Krieg" zu
kämpfen, den die "Hisbollah-Terrororganisation" Israel aufgezwungen habe.
"Natürlich mache ich mir eigene Gedanken. Aber so lange dieser Krieg
andauert, werde ich sie nur in passenden geschlossenen Foren vortragen. Die
strategische Zielsetzung dieses Krieges unterstütze ich ohne Einschränkung",
sagte Netanjahu in einem Telefongespräch von London aus. Nach außen
demonstriert Israel eine seltene Geschlossenheit. Laut Umfragen steht auch
die Bevölkerung mehrheitlich hinter der Regierung. "Wir müssen diesen Krieg
gewinnen, damit ein für alle Mal Ruhe herrscht", sagt eine Frau, die schon
fast einen Monat lang in einem stickigen Luftschutzkeller in Haifa zusammen
mit 18 Nachbarn verbringt.
Wütende Kritik äußerten in der Knesset arabische Abgeordnete. Als zu Beginn
dieses Krieges in Nazareth zwei muslimische Kinder getötet wurden, weigerte
sich der christliche Bürgermeister, ein böses Wort über Hisbollahchef
Scheich Nasrallah zu äußern und machte den jüdischen Staat für die
Raketenattacke auf Nazareth verantwortlich. In den Medien wird der Krieg mit
Diskussionen begleitet über die sinnvollste militärische Taktik, über die
Kriegsziele und die Schwierigkeit, eine Guerilla-Organisation militärisch
bezwingen zu können. Aber es gab keine frontale Attacke auf die Regierung
oder das Militär. Bisher gab es nur wenige Demonstrationen mit ein paar
hundert Teilnehmern vor der amerikanischen Botschaft in Tel Aviv und dem
US-Konsulat in Jerusalem. Die Demonstranten waren zur Hälfte Palästinenser
und ansonsten Aktivisten winziger linksextremistischer Organisation, die
sich durch gewalttätige Proteste gegen die "Mauer" hervorgetan haben. Die
große Friedensbewegung Israels, "Frieden Jetzt", hält sich bedeckt, weil sie
die derzeitige Auseinandersetzung mit der Hisbollah für gerecht und
gerechtfertigt hält.
Doch die einheitliche Fassade bröckelt zunehmend. "Peretz: Bis zum Litani;
Olmert dagegen" lautetet die reißerische Überschrift der Boulevardzeitung
Jedijot Achronot. Erstmals gelangten Meinungsverschiedenheiten über das
Kriegsziel und die Taktik aus dem Kabinett in die Öffentlichkeit. Die
Militärs wollen bis zum Litani-Fluss wie 1978 vorrücken, während
Ministerpräsident Olmert allein die schmalere Sicherheitszone im Südlibanon
wiedererstehen lassen will, aus der sich Israel im Mai 2000 zurückgezogen
hat. "Ich bekomme da ein sehr ungutes Gefühl", sagt Wohnungsbauminister Meir
Schitrit (Kadima). "Wir sind doch schon einmal im Sumpf des Libanon
versunken."
Im Moment kritisieren Minister und Abgeordnete nur hinter vorgehaltener Hand
die militärische Taktik. Die Erweichung der Ziele allein mit der Luftwaffe
sei richtig und vernünftig gewesen, um die eigenen Verluste niedrig zu
halten. Doch die winzigen Offensiven auf Hisbollah-Stützpunkte in grenznahen
Dörfer mit tagelangen Kämpfen habe das eigentliche Kriegsziel verpasst.
Israel hätte schon vor drei Wochen einen umfassenden Vorstoß machen sollen,
um Fakten zu schaffen. Jetzt sei es möglicherweise zu spät, das nachzuholen.
Denn innerhalb von Tagen könnte die UNO zu einem Kompromiss finden und einen
Waffenstillstand erzwingen. "Die Räder drehen sich langsam, aber sowie der
Wille da ist, kann ganz plötzlich alles sehr schnell gehen", warnt Dani
Gillermann, Israels UNO-Botschafter. Politiker und Militärs werden immer
öfter von ungeduldigen Bürgern gefragt, wieso denn immer noch täglich bis zu
200 Katjuscharaketen der Hisbollah in Israel einschlagen. Am Donnerstag
wurden dabei 8 Israelis getötet, am Freitag bis zum Nachmittag 2.
"Wir haben nie behauptet, die Fähigkeit zu haben, diesen Raketenbeschuss
stoppen zu können", sagt Innenminister Ofir Pines. Dieses Eingeständnis
wirkt kleinlaut im Vergleich zu den markigen Sprüchen, die Hisbollah
zermalmen zu wollen und ihr jetzt schon einen entscheidenden militärischen
Schlag versetzt zu haben. Hunderte Tote Hisbollah-Kämpfer, dutzende
Gefangene, zerschmetterte Raketenwerfer, 15 Kommandounternehmen im Rücken
der Hisbollah und andere Siegesmeldungen der Generale bei ihren täglichen
Pressekonferenzen klingen zunehmend wie Hochstaplerei, solange sie weder
Zahlen nennen, noch die Gefangenen vorführen oder glaubhafte Details
preisgeben. Vor allem aber irritieren zunehmend der fortgesetzte
Raketenbeschuss, die täglichen Verluste unter israelischen Soldaten, das
langsame Vorrücken der Truppen, obgleich zehntausende Reservisten schon den
Einberufungsbefehl erhalten haben.
Dieser Krieg dauert schon länger als der Jom Kippur Krieg von 1973 und
viermal so lange wie der "Sechs-Tage-Krieg" von 1967. Selbst der
Libanonkrieg von 1982, die "Operation Friede für Galiläa", war mitsamt der
Eroberung von Beirut schneller vorüber als die begrenzten Scharmützel und
Luftangriffe der derzeit laufenden "Operation Richtungswechsel". Und ein
Ende ist immer noch nicht abzusehen bei diesem Krieg der keiner ist, gegen
einen Feind, der kein Land vertritt und gegen ein Land, das behauptet, nicht
Kriegspartei zu sein. Niemand weiß, wie lange noch die UNO benötigt, um aus
diesem im Völkerrecht nicht vorhergesehen Zustand ein Abkommen auszuhandeln,
das dann völkerrechtlich greifen muss, um alle Waffen zum Schweigen zu
bringen. |