A.B. Jehoschua:
"Die Hisbollah von der Grenze fernhalten"
Der israelische Schriftsteller Abraham
Jehoschua lebt in Haifa und will die Stadt auch unter Raketenbeschuss nicht
verlassen. Er erläutert der Netzeitung, warum er nicht an einen Krieg mit
Libanon glaubt.
Interview: Igal Avidan
Netzeitung v. 18.07.2006
Am Sonntag und Montag wurde Haifa, mit
270.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Israels, durch Raketen der
libanesisch-schiitischen Hisbollah-Miliz angegriffen. Dabei waren acht
Menschen getötet und rund 30 verletzt. In Haifa lebt auch Abraham B.
Jehoschua, 69, einer der renommiertesten israelischen Schriftsteller.
In Deutschland ist er bekannt durch Romane wie "Die
befreite Braut", "Die Manis" und "Der Liebhaber". Sein neuer Roman "Die
Passion des Personalbeauftragten" über das Opfer eines Terroranschlags in
Jerusalem, erscheint im September im Piper-Verlag.
Netzeitung: Wie ist die
Stimmung in Haifa heute?
Jehoschua: Ich schaue gerade
aus dem Fenster und sehe kaum Menschen auf der Straße. Auch wir bleiben
meistens zu Hause. Nur gestern sind wir einkaufen gegangen. Der Supermarkt
war offen und spärlich besucht, mein Postamt und meine Bankfiliale dagegen
waren geschlossen.
Netzeitung: Gestern
heulten die Sirenen während des zweiten Angriffs auf Haifa.
Jehoschua: Die Sirenen sind
sehr wichtig, denn sie warnen uns, dass in einer Minute eine Rakete
einschlägt. Diese Minute ist sehr bedeutend, zu Hause, aber auch auf der
Straße. Wenn man sich in der Nähe eines Gebäudes befindet, kann man noch
rechtzeitig Schutz finden.
Netzeitung: Die Hotelgäste in
Haifa sind zurzeit ausländische Korrespondenten.
Jehoschua: Die Touristen
haben Haifa verlassen. Aber die Notstandssituation ist relativ, denn wir
sind Krieg bereits gewöhnt. Wir haben die Scud-Raketen im Golfkrieg und die
Selbstmordanschläge erlebt. Wir haben Angst, aber die Chancen, getroffen zu
werden, sind letztendlich sehr gering. Die Terroranschläge waren viel
verheerender als die Raketen. Ich hoffe, dass der Beschuss bald aufhört,
weil wir so hart zurückschlagen, und denke bereits an einen baldigen
Waffenstillstand.
Netzeitung: Sind auch Sie,
wie Tausende andere Israelis zurzeit, in den Luftschutzkeller gegangen?
Jehoschua: Nein, wir haben
wie viele Israelis einen eigenen Schutzraum in der Wohnung, mit dickeren
Betonwänden, die laut Vorschrift völlig ausreichen. Wenn die Sirenen heulen,
setzten wir uns dort mit einem Radio für einige Minuten hin, dann kehren wir
zur Arbeit zurück. Man muss die Gefahr nicht übertreiben. Auch wenn eine
Rakete ein Gebäude trifft, bedeutet dies nicht automatischen den Tod der
Insassen.
Die Hisbollah hat rund 1400 Raketen auf Israel abgefeuert
und dabei 12 Menschen getötet (12 Soldaten sind im Kampf gegen die Hisbollah
gefallen, die Red.). Die Angst, die nun aber herrscht, ist die Angst vor
Raketen mit einem größeren Sprengkopf und einer größeren Reichweite als
diejenigen hatten, die in Haifa bis jetzt einschlugen.
Vor solchen Raketen kann auch ein Schutzraum nicht
schützen. Die Libanesen dagegen zahlen einen Preis, der um das hundertfache
höher ist. Sie sollten sich fragen, ob die Angriffe auf uns notwendig waren.
Netzeitung: Können Sie im
Bombenhagel schreiben?
Jehoschua: Ich arbeite
weiter, natürlich öfter vor dem Fernsehen. Die meisten Patienten meiner
Frau, die Psychologin ist, sagten die Beratungstermine ab. Ich versuche zu
schreiben und bin im letzten Drittel eines Romans, in dem die Charaktere
weder etwas von der Hisbollah, noch von deren Chef Nasrallah gehört haben.
Diese Figuren fordern von mir, mich mit ihnen weiterhin zu beschäftigen.
Also höre ich eher ihnen als den Politikern im Fernsehen zu.
Netzeitung: Können Sie
etwas über das neue Werk verraten?
Jehoschua: Der Roman heißt
"Freundliches Feuer" und beschreibt eine einwöchige Trennung zwischen einem
Ehepaar um die sechzig. Die Frau fährt für eine Woche nach Afrika, um dem
Ehemann ihrer verstorbenen Schwester ein wenig Gesellschaft zu leisten. Auf
dieser Weise erlebt sie erneut die Trauer um den Tod ihrer Schwester. Das
Buch beschreibt in schnellem Wechsel die Erlebnisse des Mannes, der
weiterhin arbeitet, und die seiner Frau.
Netzeitung: Rund eine
Million Israelis leben im von Raketen bedrohten Norden des Landes. Viele
haben einen vorläufigen Schutz bei Verwandten und Freunden in sicheren
Landesteilen gefunden. Wie bewerten Sie dieses Verhalten? Sie haben einmal
geschrieben, dass die Juden die Welt als eine Hotelkette betrachten.
Verhalten sich die Israelis ebenso?
Jehoschua: Auf keinen Fall
kann man das mit dem wandernden Juden in der Diaspora vergleichen. Dass
Israelis aus dem Norden des Landes einschließlich Haifa fliehen, ist ganz
normal. Im Zweiten Weltkrieg flüchteten viele Franzosen und Deutsche. Viele
Israelis haben kleine Kinder und keine Schutzräume. Ich verstehe, dass sie
für eine oder zwei Wochen zu ihren Verwandten umziehen. Wir reden doch nicht
von einer Invasion einer Armee.
Übrigens wurden auch die palästinensischen Flüchtlinge von
1948 nicht vertrieben. Sie sind aus ihren Dörfern geflohen. Wenn Sie sehen,
wie schnell Menschen ihre Häuser verlassen – nicht auf der Flucht vor einer
Invasion, sondern wegen einer Rakete - dann versteht man, dass die
allermeisten Palästinenser damals geflohen sind.
Netzeitung: Sie leben in
Haifa seit 1967. Denken Sie in diesen Tagen daran, die Stadt eine Zeit lang
zu verlassen?
Jehoschua: Wir haben eine
Wohnung in der Stadt Ramat Gan bei Tel Aviv, die unseren Enkelkindern
gehört. Dort verbringen wir die Wochenenden und kümmern uns um die
Enkelkinder. Wir haben dort auch das Wochenende verbracht und sind am
Sonntagmorgen zurückgekehrt. Die Kinder sind sauer auf uns. Sie wollen, dass
wir zu ihnen kommen.
Aber wir bleiben erst einmal in Haifa, weil ich altmodisch
bin und eine Solidarität mit den Menschen empfinde, die Haifa nicht
verlassen können und hier bleiben müssen. Am nächsten Wochenende fahren wir
wieder nach Ramat Gan. Vielleicht sehen wir ja dort die Rakete, die die
Hisbollah auf Tel Aviv feuern möchte.
Netzeitung: Fürchten Sie,
dass Israel in einen neuen Libanonkrieg hinein rutscht?
Jehoschua: Ich glaube nicht,
dass wir in einen neuen Libanonkrieg hinein rutschen, weil wir aus
Erfahrungen gelernt haben. Fast kein israelischer Soldat hat die
libanesische Grenze überquert. Daher vermeidet Israel Bodenoperationen und
beschränkt sich auf die Luftwaffe und die Marine.
Netzeitung: Wird dieser
Krieg ein langer Roman oder eher eine Kurzgeschichte sein?
Jehoschua: Der Krieg wird ein
bis zwei Wochen dauern. Unser vernünftiges und richtiges Ziel ist es, die
Hisbollah rund 20 Kilometer von der Grenze fern zu halten. Dann wird sie uns
nicht mehr provozieren können. Niemand in Israel denkt wirklich an die
Zerschlagung der Hisbollah, die Liquidierung ihrer Führung oder an eine neue
Ordnung im Libanon. Wir wollen nur, dass die libanesische Armee zusammen mit
internationalen Truppen entlang der Grenze eine Pufferzone errichtet.
Netzeitung: Der
unmittelbare Anlass dieses Krieges war die Entführung der zwei israelischen
Soldaten Ehud Goldwasser und Eldad Regev am 12. Juli. Wird die
Militäroperation zu ihrer Freilassung führen?
Jehoschua: Im Rahmen eines
endgültigen Abkommens müsste Israel auch einige libanesische Gefangene gegen
die entführten Israelis austauschen. Wir sollten sie an die Hisbollah oder
die libanesische Regierung übergeben. Ich hätte die Libanesen bereits nach
dem Rückzug aus Südlibanon im Jahr 2000 freigelassen. Israel hat immer
Gefangene ausgetauscht und ich bin prinzipiell dafür. Wir haben keine andere
Wahl, als Gefangene auszutauschen, denn es ist einer unserer Werte, Geiseln
langfristig nach Hause zu bringen. |