"Das ganze Land ist jetzt Front":
Angst und Wut in Israel Von
Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 19. Juli 2006 "Das
ganze Land ist jetzt Front", sagte Schimon. Seit Stunden sitzt er im Stau
nördlich von Tel Aviv fest. Er ruft an, um sich die Zeit zu vertreiben. Kfar
Saba, Raanana und andere Städte im Großraum Tel Aviv wurden ab 9:30 Uhr von
der Polizei in einen Belagerungszustand versetzt. Der Geheimdienst hatte
Alarm geschlagen. Ein palästinensischer Selbstmordattentäter sei unterwegs.
"Die Lehrer und Kindergärtner erhielten vom Erziehungsministerium die
Anweisung, die Kinder so lange zu hüten, bis die Eltern durchkommen, um sie
abzuholen. Das kann noch Stunden dauern", lautete eine Servicemeldung in den
Nachrichten.
"Ich wusste gar nicht, dass wir belagert sind", sagte Oded in Raanana. "Seit
Stunden habe ich keinen Strom mehr und fühle mich von der Wirklichkeit
abgeschnitten. Radio und Fernsehen schweigen bei mir." Im ganzen Land war
mal wieder der Strom ausgefallen. Zuerst glaubten alle, dass eine Rakete aus
Libanon ein Kraftwerk getroffen habe. Aber es war nur eine technische Panne:
ein durchgeknalltes Transformatorenwerk.
Die erwähnte "Wirklichkeit" spielt sich in den elektronischen Medien ab. Per
Radio und Fernsehen erhält die seit acht Tagen in Schutzkellern eingesperrte
Bevölkerung im Norden des Landes Anweisungen und Informationen rund um die
Uhr. Gegen 16:00 Uhr kam die erlösende Mitteilung eines Polizeioffiziers,
dass der Belagerungszustand um Tel Aviv aufgehoben sei. Die kilometerlangen
Staus entknäulten sich nur langsam. Das Radio meldet: Katjuscha tötete zwei
kleine Kinder in der arabischen Staat Nazareth. Moslems und Christen gehen
auf die Straße, voller Wut auf Scheich Nasralla. Hisbollah fordert
bedingungslosen Waffenstillstand. Minister Jitzhak Herzog reagiert: "Die
ganze aufgeklärte Welt akzeptiert unsere Bedingungen für einen
Waffenstillstand." EU-Diplomat Javier Solana redet von einer "Vision für die
Zukunft nach dem Ende des Blutvergießen", nachdem Außenministerin Zipi Livni
Israels Bedingungen wiederholt hatte.
"Ich fuhr nach Naharija. Keine Menschenseele auf der Straße. Verschlossene
Häuser. Kein einziges Restaurant offen. Kein Liegestuhl am Strand. Nicht
einmal ein Glas Wasser konnte ich finden. Die Sonne brannte. Es war
schrecklich heiß. Da verstand ich erst richtig die ganze Dramatik, was es
bedeutet, wenn ein Land unter Raketenbeschuss steht und die Bevölkerung im
Keller sitzt oder geflohen ist." Der Reporter aus Österreich erlebte sogar
eine Katjuschasalve während seiner Fahrt durch die "Geisterstadt". Sieben
laute Einschläge einer "letztlich doch sehr stumpfen Waffe, denn es gibt
doch kaum Tote oder Verletzte. Das ist Terror pur."
"Die können uns nicht stoppen. Wer werden weiterrennen und in Form bleiben",
sagen zwei kräftige Männer in Haifa. Obgleich sie sich im "geschützten
Areal" aufhalten sollten - im Treppenhaus, hinter möglichst vielen Mauern
ohne Fenster oder im Keller - joggten sie durch Haifas leere Straßen. "Wir
rannten weiter, als wir die Sirenen hörten und dann sahen wir den Einschlag
einer Katjuscha hinter uns. Jetzt rennen wir erst recht weiter", beschlossen
die beiden Helden. Ein paar Kilometer weiter explodierte vor ihren Augen
eine weitere Katjuscharakete. Sie traf ein unbewohntes Haus im zweiten
Stock, krachte durch die Zimmerdecke aus Beton und verwüstete das
Erdgeschoss. Auf der Straße, knapp 20 Meter entfernt, zertrümmerten die
Metallkugeln im Sprengkopf der syrischen Rakete alle Fenster eines
vorbeifahrenden Busses. Der Busfahrer wurde leicht verletzt ins Krankenhaus
gebracht. Die sportlichen Helden wollen weiterrennen. "Die Hisbollah wird
uns nicht in die Knie zwingen."
Laut Umfragen steht 81 Prozent der Bevölkerung hinter der Regierung und will
eine Fortsetzung der Operation "Gebührender Lohn", bis die Hisbollah
zerschlagen ist. Hilfsbereitschaft wird von wohltätigen Organisationen
gelenkt. Familien aus dem "sicheren" Süden sind aufgefordert, Flüchtlinge
aus dem Norden aufzunehmen. "Wir hatten ein Jugendlager für Kinder aus
Sderot beim See Genezareth organisiert, damit sie sich vom Beschuss der
Kasamraketen aus dem Gazastreifen erholen könnten. Kaum hatten sie sich
eingerichtet, explodierten die ersten Raketen in Tiberias. Wir hatten keine
Wahl und mussten sie wieder nach Sderot zurückschicken. Es ist ein völlig
verrückter Zustand in diesem Land", berichtet eine Betreuerin.
Eliezer aus Avivim an der Grenze zum Libanon erzählt: "Wir haben einen
schrecklichen Tag hinter uns. Es begann mit einem Versuch der Hisbollah,
nach Avivim einzudringen. Die Armee rückte vor, in den Libanon hinein. Der
Feuerwechsel wurde immer schlimmer. Ein Panzer nach dem Anderen wurde in den
Libanon geschickt. Fünfzehn Meter von mir entfernt explodierte eine
Mörsergranate. Aber wir sind stark. Dieser Feldzug muss weitergehen, bis
endlich Schluss damit ist." Während Eliezer sprach waren ständig Explosionen
zu hören. Eliezer hat als Kind das Avivim-Massaker überlebt und dabei zwei
Brüder verloren. Am 8. Mai 1970 waren palästinensische Terroristen aus
Libanon nach Israel eingedrungen und griffen vollen Schulbus mit
sechsjährigen Kindern an. Neun Kinder und drei Erwachsene wurden ermordet.
19 überlebten teilweise schwer verletzt. Eliezer verlor einen Bruder und
einen Cousin. |