Henryk Broder über historischen
Masochismus, arabische Logik und die Entarisierung Europas:
"Europa wird anders werden"
Interview in tachles
v. 14. Juli 2006
tachles: Die
Hamas und nun auch Israel manövrieren sich gegenseitig in eine immer
auswegslosere Situation. Muss es zum grossen Knall kommen, bevor eine Lösung
möglich werden wird?
Henryk Broder: Es
wird zu einem Showdown kommen, bestimmt. Es ist genau das, was die Hamas
will, denn nur so kann sie die palästinensische Einheit herstellen. Die
Hamas will alles, nur keinen palästinensischen Staat.
Wie erklären Sie sich, dass in den letzten Monaten die
politische Situation der Juden Europas vermehrt mit 1933 oder 1938
verglichen wird?
Es ist nichts wie 1933, und ich finde es vollkommen
albern, wenn die Leute auf die Strasse gehen und sagen: Nie wieder 1933. Das
sind Leute, die für mich eine fatale Fixierung, eine Zwangsfixierung auf die
Vergangenheit zu Tage legen. Da gibt es zurzeit in der Bundesrepublik
Aufregung über die Weigerung der Bundesbahn, auf den Bahnhöfen eine
Ausstellung über die Deportationen jüdischer Kinder in die KZs zu zeigen.
Ich bin hier voll auf der Seite der Bundesbahn – Bahnhöfe sind keine
historischen Gedenkstätten. Ich finde, dass es ein paar holocaust- und
völkermordfreie Zonen geben sollte, unter anderem die Nahverkehrsmittel. Ich
möchte auf einem Bahnhof keine Ausstellungen über die Massaker an den
Kurden, Armeniern oder Juden sehen. Das ist wirklich eine Form von
historischem Masochismus, den ich nicht teilen kann.
Woher kommt so was?
Dieser Geschichtsmasochismus wird von Leuten betrieben,
die keine Verbindung zur Gegenwart herstellen. Diese Leute halten Darfur
wahrscheinlich für eine Kaffeesorte. Sie regen sich wahrscheinlich nicht
darüber auf, dass im Kongo inzwischen vier Millionen Menschen niedergemacht
wurden und der iranische Staatspräsident Israel mit Vernichtung droht. Sie
fixieren sich auf die Geschichte, weil sie sich damit selbst einen Bonus
geben.
Michel Friedman hat Irans Präsident Mahmoud
Ahmadinejad kürzlich mit Hitler verglichen. Ist das Argumentationsnotstand,
Überforderung durch die heutigen Geschehnisse? Oder müssen jetzt einfach
1933 oder 1938 herhalten, für ein Phänomen das heute nicht erklärt werden
kann?
Im Fall des iranischen Staatspräsidenten halte ich es für
etwas billig, mit Hitler zu argumentieren, aber es ist trotzdem richtig,
weil er natürlich Hitler gelesen hat und kein dummer Mensch ist. Im
Interview mit dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» kam seine hitlersche
Logik zum Ausdruck. Er ist ständig in der Defensive: Er verteidigt sich
gegen dunkle Mächte der Weltgeschichte, gegen den Zionismus und das
Judentum. Er hat diese Phänotypologie und Genotypologie der verfolgenden
Unschuld. Er ist die verfolgende Unschuld. Er ist unschuldig, und er
verfolgt alle. Das war genau Hitlers Attitüde. Deshalb ist in dem Fall der
Vergleich nicht verkehrt, aber es stimmt, er erfolgt fast im argumentativen
Notstand.
Was müsste entgegengesetzt werden?
Man müsste mit diesem Iraner argumentativ anders umgehen
als ihn ständig auf die Leinwand zu projizieren, über der Hitler steht. Die
Situation ist anders, schlimmer als bei Hitler, weil wir heute über alles
Bescheid wissen.
Haben Sie ein gewisses Verständnis dafür, dass man zu
verhandeln versucht, oder plädieren Sie für die militärische Option?
Nein, ich bin weder für einen Angriff noch gegen die
Diskussion. Aber ich bin dagegen, diesem Burschen ständig den kleinen Finger
zu geben, um ihm Appetit auf die ganze Hand zu machen. Und genau das
passiert. Man müsste den Iran ja nicht gleich platt machen, aber vielleicht
erst mal isolieren, einen ordentlichen Boykott verhängen.
Sie haben mal gesagt, es gäbe in der arabischen Welt
nur zwei Gemütszustände: den Sieg und den totalen Sieg.
Richtig. Niederlagen und vor allem Kompromisse gibt es
nicht. Die gesamte europäische Verhandlungskultur aber geht zum Kompromiss
hin; man trifft sich in der Mitte und alle haben das Gesicht gewahrt. In der
arabischen Welt ist schon der Kompromiss ein Gesichtsverlust. Die Araber
feierten den israelischen Rückzug aus Libanon als Sieg. Der Abzug aus Gaza
war ein arabischer Sieg. Sie sehen die Wirklichkeit nicht, und wir sehen
nicht, dass sie die Wirklichkeit nicht sehen.
Nun gibt es ja aber Friedensabkommen Israels mit
arabischen Ländern. Gibt es einen arabischen Pragmatismus?
Ja, den gibt es auch. Der Vertrag zwischen Jordanien und
Israel ist ein Beispiel für einen wunderbaren, klugen Pragmatismus auf
beiden Seiten. Aber der ist in der arabischen Welt marginal. Ansätze dazu
hat es auch in der PLO gegeben, aber die sind nun mit der Hamas-Übernahme
natürlich vorbei.
Wenn der gemeinsame Nenner zwischen arabischer und
westlicher Welt so klein ist, gibt es ja keine zeitlich absehbare Lösung.
Oder sollte Israel zur Diktatur werden, um das Problem zu lösen?
Es wird ja oft gefordert, Israel solle endlich im Orient
ankommen, sich seiner Umgebung anpassen, also zur Diktatur werden und die
Demokratie, die freien Wahlen, die Gewaltentrennung abschaffen, die Frauen
verkleiden, die Todesstrafe und das Handabhacken einführen. Das wäre die
totale Integration in den Nahen Osten, und dann hätten die Juden vielleicht
Chancen, von ihren arabischen Verwandten willkommen geheissen zu werden.
Aber das kann es natürlich nicht geben.
Das heisst, Israel bleibt so lange bestehen, wie es
sich militärisch halten kann, und geht unter, wenn es zu schwach wird?
Ja. Das ist die kürzest mögliche Beschreibung eines
realistischen Szenarios. Israel verdankt seine Existenz seiner militärischen
Überlegenheit. Wenn diese nicht mehr existiert, wird auch Israel nicht mehr
lange existieren. Deswegen ist es idiotisch, wenn Israel zur Grosszügigkeit
aufgerufen wird, weil es so stark und überlegen ist, denn es muss so sein.
In der Tat setzt Israel seine militärische Überlegenheit sehr besonnen und
zurückhaltend ein. Die Gegenseite würde das nicht so handhaben.
In Europa findet die Israeldiskussion auch im Umfeld
der islamischen Migrationsthematik statt. Müssen die europäischen Länder
angesichts der quantitativen Migrationsbewegung Kompromisse machen?
Europa ist schon dabei, Konzessionen zu machen, mit zehn
Prozent Muslime in Frankreich und fünf Prozent Muslimen in der
Bundesrepublik ... Im Prinzip habe ich nichts dagegen, dass jetzt Muslime
nach Europa kommen, ganz im Gegenteil.
Aber es gibt nun mal nicht integrationswillige oder nicht integrierbare
Muslime, aber weil dies als Rassismus verstanden werden könnte, sagen sie
Parallelgesellschaften. Hier gibt es indische, japanische, persische
Parallelgesellschaften, von denen man nichts hört, die keine Gefahr und
keine Bedrohung bedeuten.
Was heisst «nicht integrierbar» konkret?
Dass sie Familienverbände haben, in denen die lokale
Sprache nicht gelernt wird, dass sie ihre Frauen zu sich holen und sie
einsperren etc. Zum ersten Mal in der Geschichte der Migration haben wir die
Situation, dass Leute hierher kommen, die unsere Gesellschaft verachten, für
schmutzig, amoralisch und unwürdig halten, die von Schweinefressern reden
und von Schlampen, wenn Frauen kurze Röcke tragen. Die Juden, Inder, Polen,
Italiener, die nach Amerika kamen, haben die amerikanische Gesellschaft
bewundert. Deshalb konnten sie ihre kleinen Parallelgesellschaften
aufrechterhalten, zu Hause Jiddisch, Indisch, Polnisch, Italienisch
sprechen. Trotzdem waren sie integriert und integrierbar. Das ist heute bei
einem grossen Teil der Muslime, die hierher kommen, nicht der Fall.
Wie geht ein demokratischer Staat mit nicht
integrierbaren Leuten um – gibt es eine Lösung?
Erstens glaube ich, dass es eine Lösung gibt. Zweitens
müssen die notwendigen Grausamkeiten am Anfang begangen werden, und hier
sind am Anfang alle unnötigen Dummheiten begangen worden. Der Schriftsteller
Max Frisch hat gesagt: «Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind
Menschen gekommen.» Man hat sich nicht überlegt, dass sie Menschen sind, die
Bedürfnisse und auch Familien haben. Am Anfang war es, glaube ich, gar nicht
böse gemeint. Es war einfach schlichte Gedankenlosigkeit.
Die jüdische Frage in Europa, aber auch die
antizionistische oder antisemitische Diskussion in Bezug auf Israel spielen
sich im Umfeld dieser Diskussion um die Muslime ab. Man wird die Politik
fortführen, einfach deshalb, weil Europa immer falsche Politik fortgeführt
hat, bis es von einer Katastrophe dazu gezwungen wurde, von vorne zu
beginnen, und dann hat man wieder mit der falschen Politik weitergemacht.
Was ich völlig im Ernst gut finde ist, dass diese demografische Struktur
Europas nicht mehr zu halten ist. Je eher die Europäer das einsehen, desto
besser. Einige Städte sind schon recht farbig und nicht mehr «arisch» weiss,
und dagegen kann man überhaupt nichts sagen.
Heisst ein farbiges Europa, dass davon keine
Katastrophen mehr ausgehen?
Das könnte es bedeuten. Es könnte aber auch bedeuten, dass
Europa zu existieren aufhört.
Würde man Europa als Ganzes auf die Couch legen, käme
man wohl schnell darauf, dass es auf vielen Ebenen ein schlechtes Gewissen
hat. Haben die Leute hier deswegen Angst?
Ja, das wird kaum diskutiert, obwohl es ganz wichtig ist.
Ich fürchte, Sie haben vollkommen Recht. Ich glaube nicht, dass das
Schuldgefühl sehr ausgeprägt ist. Aber es gibt eine europäische Ahnung, dass
wir es eine lange Weile gut hatten, während die es eine lange Weile schlecht
hatten, und dass unser Wohlergehen etwas mit ihrem Schlechtergehen zu tun
hatte. Dieses Bewusstsein ist schon da, unausgesprochen, subkutan, auf einer
Ebene, die man politisch nicht beschreiben kann, auf der man aber trotzdem
aktiv ist. Europa erwartet einfach, glaube ich, irgendeine Art von
Verhängnis. Die Menschen wissen, dass sie ihren Wohlstand einer sehr langen
Ausbeutung der Dritten Welt verdanken. Und irgendwann, denken sie, kommt die
Dritte Welt hier rüber und holt sich, was sie ihr geraubt haben. Und
punktuell passiert das ja auch schon, wenn jeden Tag Schiffe mit
Flüchtlingen aus Nordafrika auf Lampedusa oder den Kanaren ankommen.
Es ist also kein ideologischer Streit, sondern es geht
ums Überleben?
Es ist auch ein ideologischer Streit. Es geht auch darum,
diese Wohlstandsinsel aufrechtzuerhalten. Dies kann man aber nicht mit
politischen Konzessionen tun, etwa wenn damals Schröder hinging und sagte,
es war verkehrt, die Karikaturen zu drucken und nicht auf die Gefühle
Rücksicht zu nehmen. Ich habe noch keinen arabischen Politiker erlebt, der
gesagt hätte, man müsse auf die Gefühle der Europäer Rücksicht nehmen, also
räumen wir mal mit diesem Kopfabschlagen im Internet auf. Eine einseitige
Vorleistung wird überhaupt nichts bringen, sondern nur die anderen auf die
Idee, noch mehr zu verlangen. Andererseits weiss ich auch nicht, was man den
Leuten sonst empfehlen könnte. Persönlich glaube ich, dass Europa am Ende
ist, aber weil es so reich ist ...
Sie betrachten ja aber die Einwanderung in Europa als
Regeneration. Ist das die Chance?
Ja. Europa wird anders werden, und das ist die einzige
Chance, die es überhaupt noch hat: sich mit den Leuten, die es eigentlich
gar nicht haben will, zu revitalisieren. Die Frage ist nur, ob es sein
politisches System aufgeben will. Ich würde gerne das weisse Europa
aufgeben, aber ich würde ungern das demokratische Europa aufgeben.
Kann man die europäische Reaktion auf den
Karikaturenstreit und die europäische Unfähigkeit, auf die Gräueltaten in
Bosnien-Herzegowina zu reagieren, vergleichen? Gibt es eine Verbindung in
den dahinterstehenden Mustern?
Im Kosovo und in Bosnien hat Europa nur reagiert, als es
von den Amerikanern dazu getrieben wurde. Es gab dazu auch keinen
NATO-Beschluss, und komischerweise hat sich damals keiner darüber aufgeregt,
dass Belgrad trotzdem bombardiert wurde. Auch das Argument, dass da ein
Völkermord stattfindet, musste erst sehr, sehr mühsam hier durchgekämpft
werden, und im Prinzip war es Europa ja egal, dass die Muslime da
abgeschlachtet wurden. Die Leute hatten eben keine Lobby, sie waren einfach
nicht in der Lage, ein paar Botschaften zu stürmen oder den Dänen mit
Boykott zu drohen, geschweige denn einen Volkssturm zu entfachen. Deshalb
kam es nicht so darauf an, deswegen hat Europa so spät reagiert. Aber jetzt
hat Europa auch nicht aus Liebe zu den Muslimen reagiert, oder aus Respekt
vor deren Gott oder Religion – Europa hat unter Druck reagiert, weil die
Umsätze gefährdet waren. Nestlé hat sich ja sogar bei den Muslimen
entschuldigt, hätte aber wohl nie einen Grund gesehen, sich bei den Muslimen
in Jugoslawien zu entschuldigen, weil es serbische Zeitungen mit Anzeigen
unterstützt hat. Es ist schlicht eine Frage der Zahl und der Macht.
Gehen auch die internationalen Reaktionen auf die
Entwicklungen in Tschetschenien und Darfur auf das gleiche Konto?
Ja, ganz genau. Ich finde, die Leute in Darfur sollten
damit anfangen, ein paar Botschaften abzufackeln. Das würde vielleicht die
moralische Empörung in Europa über den Völkermord ein bisschen
beschleunigen.
Den Arabern sind aber anderseits Darfur und
Tschetschenien auch egal.
Vollkommen egal, weil in Darfur und Tschetschenien weder
Amerikaner noch Juden beteiligt sind. Deswegen sehen sie keinen Grund, sich
zu empören.
Weshalb ist denn Israel das grosse Thema? Viel der
Kritik am Palästinenserkonflikt hat etwas für sich, aber trotzdem ist sie in
einem Übermass in den Medien, das kaum nachvollziehbar ist. Warum?
Da ist die Medienpräsenz ganz einfach zu bequem. Es gibt
kein zweites Land in der Welt, wo sie mittags über einen Krieg berichten und
abends angstfrei in einer Bar sitzen und einen Cocktail schlürfen können.
Das können Sie in Israel, aber diese Option haben Sie weder in
Tschetschenien noch im Kongo oder in Sri Lanka. Dies ist eine Art von Luxus,
den jeder Kriegsreporter sehr geniesst. Ich glaube wirklich, dass man
komplizierte Tatbestände auf einfache Erklärungen herunterschrauben kann,
und das ist eine, warum dieser Konflikt dermassen beliebt ist.
Und eine zweite wäre vielleicht, dass Tschetschenien
nicht die Heimat der drei Weltreligionen ist?
Ja, das stimmt sicher auch. Leibowitz wurde einmal darauf
angesprochen, dass Israel die Wiege der drei monotheistischen Weltreligionen
sei. Seine wunderbare Antwort war, dass es nicht die Wiege von Judentum und
Islam sei, die seien woanders entstanden, sondern die Wiege des
Christentums, und dieses sei keine monotheistische Religion. Das hat eine
Symbolik. Dazu kommt der historisch fast einmalige Fall, dass ein Volk sein
Land 2000 Jahre nach seiner Vertreibung wieder für sich reklamiert. Die
Indianer versuchen das zwar auch, es klappt aber nicht. Natürlich garantiert
ein so einmaliger Fall eine gewisse Exklusivität. Andererseits bin ich
überzeugt davon, dass vor allem Europa sich «wünscht», dass der Konflikt im
Nahen Osten mit einer zweiten Endlösung enden möge – nicht auf der
bewussten, sondern auf der unbewussten Ebene. Wenn der Konflikt dort mit
einer zweiten Endlösung endet und die Araber die Israeli ins Meer treiben,
wird die erste Endlösung, die in Europa stattgefunden hat, im Abgrund der
Geschichte verschwinden. Europas schlechtes Gewissen gegenüber den Juden,
das es zweifelsohne gibt, könnte nur geheilt werden durch eine zweite
Katastrophe, für die Europa nicht verantwortlich ist. Gleichzeitig wäre
bewiesen, dass es niemand mit den Juden kann, nicht mal ihre eigenen
Verwandten.
Interview Yves Kugelmann
www.tachles.ch
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