Nahöstliche Eskalation:
Ist Israels Reaktion proportional und angemessen?
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Die britische Außenministerin rügte Israel wegen der "unproportionalen
Reaktion". Ihre amerikanische Amtskollegin forderte "Mäßigung". Nicht nur
die EU befürchtet, dass der Nahe Osten wieder aus den Fugen gerät. Und die
Welt muss schon teuer bezahlen. Die Ölpreise haben angezogen, seitdem
zwischen Israel und Libanon die Kanonen donnern.
Vor zehn Jahren, 1996, hatte die Hisbollah auf Weisung Syriens die
israelische Stadt Kirjat Schmone beschossen und Israelis getötet. Die
Raketen explodierten, während sich alle wichtigen Staatsmänner der Welt,
sogar Kanzler Kohl, in Scharm A Scheich eingefunden hatten, um mit geballtem
Druck auf Jassir Arafat dem Terror der palästinensischen Hamas ein Ende zu
setzen und den Friedensprozess zu retten. Kurz zuvor hatte es mitten in Tel
Aviv und in Jerusalem tödliche Selbstmordattentate gegeben. Die syrische
Provokation war so eklatant, dass Ministerpräsident Schimon Peres
internationalen Segen für einen Krieg gegen Libanon bekam, die "Operation
Früchte des Zorns".
Auch andere Staaten handeln so, wenn Terroristen unter dem Schutz eines
Landes fremde Souveränität verletzen. So war es nach dem 11.9., als die USA
mit dem Segen des Sicherheitsrats der UNO Afghanistan und dessen Hauptstadt
Kabul eroberten. Sogar Deutschland schickte Besatzungstruppen nach
Afghanistan. Und das, obgleich nicht Afghanistan das World Trade Center in
New York zum Einsturz gebracht hatte. Es hatte lediglich Osama bin Laden
Unterschlupf gewährt.
Die Hisbollah-Miliz im Libanon unterhält wie die Hamas in den
Palästinensergebieten, einen Staat im Staate mit eigener "Armee" und führt
Krieg gegen Israel. Hisbollah stellt zwei Minister der libanesischen
Regierung, Hamas sogar die ganze Regierung. Wer vom Libanon aus schießt und
angreift, über die international anerkannte Grenze hinweg, kann Israel
gleichgültig sein. Solange Libanon für sich Souveränität beansprucht, trägt
Beirut volle Verantwortung. Libanons Regierung weigerte sich aus
innenpolitischen Gründen, mit ihrer Armee die Grenze abzusichern und Israels
Souveränität zu respektieren.
Israel wurde ohne Anlass angegriffen. Zeitgleich mit dem Überfall auf eine
Patrouille, wobei acht Soldaten starben und zwei entführt wurden, hagelte es
Raketen auf israelische Städte. Am Donnerstag kam eine strategische
Ungeheuerlichkeit hinzu: eine Rakete auf Haifa, Israels drittgrößter Stadt.
Hunderttausende Israelis zittern in Luftschutzkellern. Mehrere starben, über
zweihundert wurden verletzt. Verkehrspolizisten in Galiläa tragen
Splitterjacken und Helm. Gemäß dem Präzedenzfall der UNO nach dem 11.9. wäre
laut Völkerrecht nicht einmal eine Eroberung ganz Libanons, mitsamt der
Hauptstadt Beirut "überproportional".
Solange es Israel der Hisbollah nicht nach macht, überwiegend klassische
strategische Ziele wie Flughäfen, Brücken, Hauptquartiere, Trainingslager
und Hauptquartiere bombt und nicht willkürlich Raketen auf
Bevölkerungszentren jagt, kann Israels Reaktion sogar als relativ gemäßigt
bezeichnet werden. Wer freilich Terrororganisationen (gemäß EU-Beschlüssen)
Angriffe auf israelische Zivilisten zugesteht und rechtfertigt, wird jede
israelische Reaktion für "exzessiv" halten, denn niemand hat bisher
festgelegt, was eine proportionale oder angemessene militärische Reaktion
wäre. |