Sderot:
Pressetermin beim Einschlagsloch
Von Ulrich W. Sahm, Sderot
"Beth Hanoun im Gazastreifen sollte platt gemacht
werden, wenn die Palästinenser uns hier nicht in Ruhe lassen." Bei Simcha
Hadad, 32, Mutter von drei kleinen Kindern, mischen sich Wut über ihren
Nachbarn Amir Peretz, Angst vor den Kassam-Raketen und zunehmend mehr Hass
auf die Palästinenser im Gazastreifen. "Sind wir etwa keine unschuldige
Zivilisten?" fragt sie im Zelt vor dem Haus von Verteidigungsminister Peretz
mitten in Sderot. Sie beklagt, dass die Welt nur mit den palästinensischen
Opfern Sympathie empfinde.
Zwei Dutzend Bürger veranstalten einen publikumswirksamen
Hungerstreik. Die israelische Regierung karrt Presseleute zu dem Zelt.
Abgeordnete schauen vorbei. Der rechtsradikale Mosche Feiglin entfaltet ein
handgemaltes Plakat: "Araber raus aus Israel". Die Hungerstreiker vertreiben
ihn umgehend: "Dies ist keine politische Kundgebung. Wir sind einfache
Bürger und haben die Nase voll von den Raketen, von schlaflosen Nächte und
von der Lebensangst unserer Kinder." Männer im Unterhemd diskutieren beim
blauweißen Zeit: "Israel sollte Flugblätter über Beth Hanoun abwerfen: Wollt
ihr leben, dann hört auf, wenn nicht, dann zieht aus und wir zerstören eure
Stadt." Die Raketen auf Sderot werden alle von Beth Hanoun aus abgeschossen,
der nächstgelegenen Stadt jenseits des Grenzzauns. Ein älterer Mann lacht:
"Man kann eine Hure nicht mit einem du-weißt-schon-was erschrecken. So
kannst du auch einem Selbstmordattentäter nicht mit dem Tod drohen." Ein
Dritter wirft ein: "Militärisch lässt sich der Terror nicht bekämpfen. Es
muss eine politische Lösung her."
Ein israelischer Fernsehreporter jubelt zwischendurch über
einen "Volltreffer". Mitten im Interview, als gerade Streikender sagte: "Wir
werden weiterstreiken, bis das hier aufhört...", gab es einen lauten Knall.
Der Reporter filmte schreiende Mütter und heulende Kinder. "Starke Bilder",
kommentierte er seinen Zufallstreffer. Einige hundert Meter von dem Zelt
entfernt explodierte die Kassamrakete in einer Holzfabrik. Ein fünf Tonnen
schwerer Betonbalken stürzte auf die Sägen herab. "Schon wieder passierte
ein Gotteswunder", sagte ein Arbeiter. Er wurde leicht am Auge verletzt.
Sonst gab es keine Opfer.
Über hundert Kassamraketen sind seit einer Woche auf
Sderot niedergegangen. "Wir haben nach 3000 Kassamraketen seit dem Rückzug
aus Gaza aufgehört zu zählen", sagt Bürgermeister Eli Moyal. In einer Ecke
des Sitzungssaals liegt eine Kassamrakete. Es handelt sich um ein dickes
Rohr mit angeschweißten Lenkflügeln, rot angemalt und mit arabischer
Aufschrift. "Wir hatten bisher fünf Tote zu beklagen und zusätzlich drei
unserer Bürger bei einem Anschlag auf das Warenterminal Karni verloren",
sagt Moyal. "Israel bekämpft nicht wirklich den Terror." Der Bürgermeister
von 24.000 Einwohnern "würde lieber die Müllabfuhr organisieren, als mit
Psychiatern die posttraumatischen Erscheinungen bei zwei Drittel der Kinder
von Sderot diskutieren." Einen Vergleich mit Kirjat Schmone im Norden
Israels, als dort Katjuscharaketen vom Libanon explodierten, lässt der
Bürgermeister nicht zu. "Bei einer Katjuscharakete gibt es vier Minuten
Vorwarnung. Bei einer Kassam sind es nur 15 Sekunden. So schnell kann sich
niemand in Sicherheit bringen."
Am frommen Gymnasium im Stadtzentrum warten schon Lehrer
auf die Presseleute. Im ersten Stock hatte eine Rakete das Dach
durchgeschlagen. Sie flog durch die Toilette in eine Schulklasse. Ein
Stadtbeamter zeigt fotogen mit dem Finger auf die Löcher in Wand und Decke.
"Die Schüler wollten nach dem Morgengebet gerade das leere Klassenzimmer
betreten, als die Kassamrakete einschlug, ohne zu explodieren", sagt Hanan
und redet auch von einem Gotteswunder.
Rufe nach einer energischen Militäraktion verhallten
ungehört. "Selbst Amir Peretz hüllt sich in Schweigen und tut nichts",
ärgert sich Simcha. "Dabei wohnt der doch hier und gefährdet zusätzlich
unser Leben. Denn seitdem er Verteidigungsminister ist, versuchen sie, sein
Haus zu treffen. Da die aber nicht richtig zielen können, kriegen wir sie
auf den Kopf." |