Delegiertenversammlung der SIG:
Das Nicht-Parlament
Editorial von Yves Kugelmann, Tachles, 02. Juni 2006
Mittwochsrede. Mit einer fulminanten Rede am
SIG-Eröffnungsabend von Winterthur katapultierte Oberrabbiner Gilles
Bernheim die Erkenntnis zurück, dass es sie noch gibt: Rabbiner und jüdische
Denker, die etwas zu sagen haben zur Gegenwart, zu Politik, zu Gesellschaft
und zum Judentum. Jahrelang hatte man in der Schweiz nicht mehr eine derart
substantielle "jüdische" Rede gehört. Ein inhaltlicher Höhepunkt, der den
politischen Tiefpunkt kontrastierte.
Auffahrtsliturgie. Die Erfahrung von Winterthur besagt, dass der SIG
den politischen Teil seiner Delegiertenversammlungen künftig ebenso gut auf
dem Korrespondenzweg erledigen, viel Aufwand, Kosten, Mühe und sich eine
Alibiübung sparen könnte. Denn ein Parlament, das nicht spricht, nicht
diskutiert, nichts thematisiert, wo man nicht aufeinander eingeht, Konflikte
totschweigt, Probleme ignoriert und alles schönredet, wird dem
demokratischen Auftrag als Souverän nicht gerecht und ist somit überflüssig.
Die gewichtigen Veränderungen in der jüdischen Gemeindelandschaft, die
vielen Entwicklungen oder Problemzonen wurden weder direkt noch indirekt
behandelt. Auch die vielen internen Fragen im Gemeindebund – insbesondere
die seit Monaten andauernde Debatte um die Frühpensionierung des
Generalsekretärs (vgl. S. 6) – waren kein Thema bei den Delegierten. Die
wenigen Fragen aus dem Plenum in Sachen Sicherheit, Media Watch oder zum
Kooperationsabkommen mit den Liberalen blieben trotz langfädiger
Ausführungen der zuständigen GL-Mitglieder vor allem unbeantwortet. Eine
ernüchternde Veranstaltung jenes Verbands, der doch die Gemeinschaft
repräsentiert, die den Dialog, den Diskurs, die Debatte und die Diskussion
wie kaum eine andere aus ihrem Selbstverständnis nährte. Doch was
unausgeprochen bleibt, ist nicht vom Tisch.
Donnerstagsrede. Israels Botschafter Aviv Shir-On brachte in seinem
interessanten Rückblick auf seine im Sommer ablaufende Zeit in der Schweiz
wohl ungewollt die SIG-DV in seiner Abschiedsansprache beim Mittagessen an
der DV so auf den Punkt: «Ich glaube (…), dass die Juden in der Schweiz
politisch viel aktiver sein müssen, um ihre eigenen Interessen besser zu
vertreten. Für sich selbst als Schweizer Bürger, es hat mit Israel nicht
direkt zu tun. Als Israeli und als Jude glaube ich, dass die Politik von
‹don’t rock the boat›, sich also so ruhig und zurückhaltend wie möglich zu
verhalten, die von manchem jüdischem Mitbürger vertreten wird, falsch und
langfristig sogar schädlich ist.» Gefragt sind jüdische Politik und
politische Juden, keine Medienkontrollkommissionen, keine teuren
Sicherheits- und Geheimdienste, keine – zwar wichtigen, aber im SIG vollends
falsch platzierten – Streetworkingarbeiten, keine der unzähligen teuren mit
Steuergeldern und unprofessionell ausgeführten Luxusübungen. Gefragt – und
dies war die einzige nennenswerte Forderung an der DV – sind der vermehrte
Einsatz des SIG für Kultur und «Jewish Identity». Beides Bereiche, die die
GL in ihrem im Januar präsentierten Funktionspapier als sogenannte
«Kernaufgabe» definierte. Doch wenige Minuten nach dieser Forderung segneten
dieselben Delegierten forderungslos ein Budget ab, dass weder für Kultur
noch für Jewish Identity mehr Ausgaben bzw. Kürzungen bei ineffizienten
Tätigkeiten wie dem mehrfach kritisierten Media Watch vorsah.
Zukunftsliturgie. Möchte die GL angesichts der ohnehin schon peniblen
Debatten über Kompetenzverletzungen und Führungskrise noch ein Mindestmass
an Glaubwürdigkeit bewahren, dann muss sie nun in Taten umsetzen, was sie im
Funktionspapier in Worten noch viel zu zurückhaltend und verklausuliert
angekündigt hat: einen neuen Auftritt, eine veränderte und mit der jüdischen
Basis kompatible politische Ausrichtung, eine wirkungsvolle Art der
Kommunikation, eine politische Agenda sowie die Förderung der Bereiche
Kultur und Jewish Identity als Kernaufgaben. Die Konsequenz aus der
Winterthurer DV kann nur sein, dass sich die GL-Mitglieder nun endlich der
Sache und dem politischen Auftrag zuwenden, Ressorts neu definieren und
Ausgaben neu aufgeteilt werden.
http://www.tachles.ch/
hagalil.com 03-06-2006 |