Israelische Offensive im Gazastreifen:
Krieg im Weinberg des Friedens
Durch die jüngste Militäroffensive Israels
droht eine gefährliche Eskalation im Nahost-Konflikt. Die palästinensische
Öffentlichkeit fordert, den entführten Soldaten gegen inhaftierte
Palästinenser auszutauschen.
Von Igal Avidan,
Netzeitung v. 28.06.2006
Die acht Palästinenser kamen im Morgengrauen. Um 5:30 Uhr
krochen die Uniformierten aus dem 600 Meter langen und neun Meter tiefen
Tunnel heraus, den sie monatelang ausgegraben hatten. Sie standen jetzt in
einem kleinen Wäldchen auf israelischem Gebiet. Die vielen Soldaten in
diesem Grenzgebiet bemerkten dies nicht, weil sie in Richtung Gaza geschaut
und einen Angriff aus dem Hinterhalt nicht erwartet hatten.
Ironischerweise schützten die angegriffenen Soldaten den
Kibbutz Kerem Schalom. Der Kibbutz - der Name bedeutet auf Hebräisch
"Weinberg des Friedens" - wurde 1968 von linken Israelis gegründet, die
daran glaubten, dass ausgerechnet aus diesem Ort aus im Landesdreieck
Israel-Ägypten-Gazastreifen der Frieden kommen werde.
Die Terroristen der islamistischen Hamas-Organisation, der
"Volkswiderstandkomitees" und der unbekannten "Armee des Islam" teilten sich
in drei Untergruppen. Zwei Palästinenser eröffneten das Feuer auf einen
Wachturm außerhalb des Kibbutz. Bei dem Feuergefecht wurden die beiden
erschossen und drei Israelis verletzt.
Die zweite Gruppe schoss Raketen auf ein leeres gepanzertes Truppenfahrzeug,
das in Flammen aufging. Die dritte Einheit überfiel einen Panzer. Beim
Schussgefecht wurden zwei Soldaten getötet, einer wurde verletzt und der
vierte, der 19-jährige Gilad Schalit, als Geisel genommen und durch ein Loch
im Grenzzaun über die Grenze nach Gaza getragen.
Kämpfe drohen auf Syrien überzugreifen
Die ganze Aktion dauerte lediglich zehn Minuten, stürzte
jedoch Israelis und Palästinenser in eine erneute Eskalation des Konflikts,
die sogar auf das benachbarte Syrien übergreifen könnte. Israelis waren mit
der bitteren Realität konfrontiert, dass nicht einmal der vollständige
militärische Rückzug aus dem ehemals besetzten Gazastreifen ihnen Sicherheit
gewähren kann.
Während die Linken zu Verhandlungen mit der Hamas aufriefen, um die
Befreigung des enführten israelischen Soldaten Schalit zu ermöglichen,
verlangten rechtsgerichtete Politiker eine erneute Besetzung des
Gazastreifens und den Sturz der - demokratisch gewählten - Hamas-Regierung.
Einig waren sie sich nur darin, dass weitere einseitige Räumungen jüdischer
Siedlungen zurzeit unrealistisch seien. Währenddessen droht Israel indirekt
mit der Liquidierung von Chaled Maschal, des in Damaskus lebenden
prominentesten Hamas-Führers, der 1997 einem von Israel geplant Attentat
entkommen konnte.
Gazastreifen völlig eingezäunt
Wenige wissen, dass seit 1999 der Gazastreifen vollständig
eingezäunt hat. Der Zaun verläuft im Gegensatz zum Sicherheitszaun im
Westjordanland entlang der Waffenstillstandslinie und ist daher auch
international völlig "koscher", zumal Israel im vergangenen August den
Gazastreifen komplett räumte. Seit dem Rückzug wurden keine Soldaten in
dieser Gegend getötet, die Raketenangriffe auf israelische Ortschaften um
Gaza nahmen jedoch stark zu.
Die 1,3 Millionen Palästinenser in Gaza sehen sich auch deshalb nicht als
freie Menschen – nicht einmal nach den demokratischen Parlamentswahlen im
Januar. Ihr Alltag wird, besonders unter der islamistischen Hamas-Bewegung,
die Israel nicht anerkennt und Gewaltaktionen als legitimen Widerstand
betrachtet, weitgehend von Israel bestimmt.
Die internationale Isolierung der Hamas-Regierung beschränkt deren Einfluss
auf den militärischen Flügel sowie auf Banden und Lokalfürsten, die an der
Entführung beteiligt waren - denn die Hamas selbst kann eine solche Aktion
nicht mehr finanzieren.
Familien inhaftierter Palästinenser protestieren
Die jüngsten israelischen Liquidierungen im Gazastreifen, bei
denen ein Dutzend Zivilisten getötet wurden, darunter Frauen und Kinder,
regten die Palästinenser auf: Sie forderten Rache. In Gaza demonstrierten
Familienangehörige der rund 10.000 in Israel inhaftierten Palästinenser. Sie
fordern, den Soldaten gegen ihre Söhne auszutauschen und genießen große
Popularität in der Bevölkerung.
Die Proteste führten in der Folge zu einer Annäherung zwischen dem
Hamas-Premier Ismail Hanija und dem Präsidenten Mahmud Abbas von der Fatah.
Sie wollen eine israelische Militäraktion in Gaza verhindern, die ein Ende
ihrer politischen Karriere zur Folge haben könnte.
Die Chancen für die Freilassung des Soldaten Schalit sind dennoch leider
gering. Israel ist nicht willens, palästinensische Gefangene freizulassen,
wie zum Beispiel 2004 Mitglieder der libanesischen Hisbollah. Damals wurden
viele Libanesen und Palästinenser im Austausch gegen drei Leichen
israelischer Soldaten und einen Geschäftsmann freigelassen.
Verhandlungen mit Hamas erfolglos
2005 verhandelte Israel indirekt mit dem Islamischen Dschihad
und erreichte die Rückgabe der sterblichen Überreste von in Gaza getöteten
israelischen Soldaten. Ähnliche Verhandlungen mit der Hamas scheiterten
jedoch.
1992 ermordeten Hamas-Kämpfer einen israelischen Grenzpolizisten. Zwei Jahre
später lehnte Israel die Forderung nach der Freilassung des inhaftierten
Hamas-Gründers Achmad Jassin ab. Israel stellte sich damals gegen die
Forderung, den entführten Soldaten Nachschon Wachsmann gegen den
inhaftierten Hamas-Gründer Scheich Jassin auszutauschen. Bei der
Befreiungsaktion wurde der Soldat sowie der Kommandant der Befreiungstruppe
ermordet.
Zahlreiche Opfer im Gazastreifen zu befürchten
Bei einer ähnlichen Aktion in Gaza, in einem dermaßen
dichtbevölkerten und von Waffen übersäten Gebiet, bestünde nun die Gefahr,
dass zahlreiche Menschen getötet würden. Dennoch drangen israelische Truppen
am Mittwoch in den Süden des Gazastreifens ein und bombardierten einen
Transformator. Dadurch wurden der Strom und die Wasserversorgung in der
Region unterbrochen.
Der israelische Premier Ehud Olmert reagiert damit auf die Wut der jüdischen
Israelis. Während die andauernden Raketenangriffe aus Gaza nur die Einwohner
der Grenzstadt Sderot zu einem Generalstreik veranlassten, berührt die
Entführung des 19-jährigen Soldaten Gilad Schalit die Mehrheit der Israelis:
Entweder sind sie Soldaten oder ihre Geschwister oder Kinder.
Die großen Zeitungen konkurrieren miteinander mit Forderungen nach Rache.
"Wir müssen zurückschlagen, denn die gezielten Tötungen, die
Kommandoaktionen, die (israelischen) Raketen und die wirtschaftliche
Blockade halfen nichts", heißt es in einem Leitartikel. Was denn? "Den
Gazastreifen verdunkeln", schlägt Kommentator Dan Margalit vor. "Dann werden
seine Bewohner ausziehen, um den Soldaten aus den Hamas-Kellern zu holen."
Solche Aktionen blieben jedoch aus.
USA und EU fordern zur Mäßigung auf
Die erneute Eskalation stellt ein vorläufiges Ende jeglicher
israelischer Räumungsaktionen im Westjordanland. Erstens fürchten die
meisten Israelis Raketenangriffe aus den evakuierten Siedlungen, so wie das
in Gaza der Fall ist. Zweitens zweifeln sie an Olmerts Fähigkeit, den Terror
zu bekämpfen. Drittens sind weder die USA noch die EU begeistert von
weiteren einseitigen israelischen Räumungen. Sie bevorzugen ein Abkommen mit
den Palästinensern, scheinen aber wenig daran interessiert, dass die Lage im
Nahen Osten eskaliert.
Die einzigen Stimmen der Vernunft aus dieser Region kamen von drei gläubigen
Israelis, zwei Juden und einem Moslem, die sich auf einer Pressekonferenz in
Jerusalem als Vermittler zwischen Israel und der Hamas anboten. Rabbiner
Menachem Froman, der seit Jahren einen solchen Dialog führt, sagte: "Die
Hamas ist keine Friedensbewegung, sondern eine mörderische Organisation.
Aber sie sind die Autorität und daher müssen wir Frieden mit ihnen machen."
Jitzhak Frankental, dessen Sohn Arik von der Hamas 1994 entführt und
ermordet wurde, bot sich als Ersatz für den entführten Soldaten an.
hagalil.com 29-06-2006 |