Attacke auf Kerem Schalom:
Strategische Peinlichkeit
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Gegen 5:30 Uhr starteten acht Palästinenser des Dschihad Islami und der
Hamas eine von langer Hand im Voraus geplante Attacke auf eine israelische
Militärstellung nahe dem Grenzübergang Kerem Schalom. Sie drangen durch
einen 10 Meter tiefen Tunnel unter dem Grenzzaun auf israelisches
Territorium vor und sprengten gleichzeitig ein Loch in den Zaun. Beim
Angriff auf einen Spähturm der Armee wurden zwei Palästinenser getötet. Ein
israelischer Offizier und zwei Panzersoldaten wurden beim Beschuss eines
Tanks mit Panzerfäusten getötet. Die Leiche von einem der Soldaten wurden
offenbar durch das Loch im Grenzzaun nach Gaza mitgenommen. "Das ist eine
strategische Peinlichkeit", sagte Infrastrukturminister Fuad Ben Eliezer,
ein ehemaliger General.
Dieser großangelegten palästinensischen Aktion, für die es seit Jahren
keinen Präzedenzfall gibt, gingen zahlreiche blutige israelische Angriffe im
Gazastreifen voraus. Mindesten 24 Palästinenser wurden bei mehreren
"gezielten Tötungen" getroffen, darunter Jamal Abu Samhadana, der
Befehlshaber jener Gruppe, die den Angriff auf die israelische Stellung
ausführte. Es wurden aber auch zahlreiche Zivilisten verletzt oder getötet.
Das israelische Militär erlitt mehrere "Pannen". Eine Rakete traf ein
Wohnhaus und nicht das Fahrzeug mit militanten Palästinensern. In einem
anderen Fall jagten die Israelis noch zwei Rakete auf ein schon getroffenes
Fahrzeug mit Katjuscharaketen, nachdem Neugierige und Retter herbeigeeilt
waren, den Verletzten zu helfen. Bis heute ist ungeklärt, wie sieben
Mitglieder einer palästinensischen Familie am Strand vom Gaza ums Leben
kamen. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig. Ein israelisches Kommando
hat zudem am Samstag zwei Brüder aus Rafah nach Israel verschleppt, um sie
wegen ihres angeblichen Aufenthaltes im Sudan zu verhören. Seit Wochen
liegen Israel angeblich "Informationen" über Tunnels und geplante Attacken
vor. Palästinenser hatten noch am Samstag die Schließung der Grenzübergänge
wegen dieser "Terror-Warnungen" als "grundlose israelische Schikane"
bezeichnet.
Im Gazastreifen ist die Lage zusätzlich aufgeheizt wegen
innerpalästinensischer Auseinandersetzungen mit zahlreichen Toten bei
Schießereien zwischen Hamas- und Fatahtreuen Kämpfern. Versuche, einen
Bürgerkrieg abzuwenden und eine Regierung der nationalen Einheit zu
bildeten, scheiterten am Samstag Abend. Premierminister Ismail Hanije und
Präsident Mahmoud Abbas konnten sich nicht einigen.
Die Entführung eines verletzten oder getöteten Soldaten nach Gaza sowie eine
schon in der israelischen Presse angekündigte Großoffensive gegen den
Beschuss von Kassamraketen könnten die Lage insbesondere im Gazastreifen
zusätzlich verschärfen. Ein Sprecher der Fatah-Organisation von Präsident
Abbas drohte Israel mit der Erneuerung des Beschusses Jerusalems von
Bethlehem aus, falls die israelische Armee im Gazastreifen einmarschieren
sollte. Israels Premier Ehud Olmert setzte den Palästinensern ein Ultimatum,
den entführten Soldaten umgehend wieder freizugeben, "sonst wird es harte
Konsequenzen geben". So wurde es über diplomatische Kanäle den Amerikanern
und Europäern übermittelt. Israel reagiert im Falle von Entführungen seiner
Bürger erfahrungsgemäß mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. In der
Vergangenheit war Israel bereit, tausende Gefangene freizulassen, sogar im
Tausch für Leichen.
Die Hamas, die in den Palästinensergebieten die Regierung stellt, kündigte
schon an, eine israelische Gegenleistung für die Herausgabe des Soldaten
fordern zu wollen. Premierminister Olmert machte die Hamas für die Attacke
und die Verschleppung des Soldaten "verantwortlich". Ein Reporter erklärte
im Rundfunk die Bedeutung dieser offenen Schuldzuweisung des
Premierministers: "Israel könnte gegen führende Angehörige der Hamas,
darunter Premierminister Ismail Hanije und Minister, direkt vorgehen."
Verteidigungsminister Amir Peretz erklärte: "Wir haben klare Hinweise, dass
die Hamas beteiligt war. Wer eine solche Eskalation tätigt, sollte sich der
Folgen bewusst sein." Außenministerin Zipi Livni telefonierte mit den
Außenministern der USA, Österreichs, Deutschlands, mit Javier Solana und
Kofi Annan: Die palästinensische Regierung trage die Verantwortung für den
Angriff und die Verschleppung des Soldaten, sagte sie. Für Präsident Abbas
sei dies eine goldene Gelegenheit, zu beweisen, ob er die Zügel in den
Palästinensergebieten in der Hand halte. |