Geiselnahme:
Israels allergische Reaktion auf Entführungen
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Der massive Truppenaufmarsch mit Panzern und D9-Planierraupen rund um den
Gazastreifen, dessen hermetische Absperrung und die Drohung, 1,3 Millionen
Palästinensern dort Wasser, Strom, Benzin, Medikamente und Nahrungsmittel zu
sperren, wirkt übertrieben und gar surrealistisch. Zumal das alles "nur"
wegen einem 19 Jahre alten Soldaten geschieht, der im Gazastreifen als
Geisel festgehalten wird. Seit Sonntag haben alle israelischen Medien auf
Kriegsberichterstattung umgeschaltet. Die Zeitungen beschäftigt die
Entführung von Gilad Schalit umfangreicher als deutsche Zeitungen die WM.
Diese "exzessive" israelische Reaktion hat Tradition und einen tiefen
religiösen wie praktischen Grund. Ausgerechnet die Premierminister Jitzhak
Schamir und Ariel Scharon haben tausende Terroristen und Massenmörder
freigelassen, im Tausch für ein paar Leichen, nach Libanon verschleppte
Israelis und für einen Drogenhändler, der unter zwielichtigen Umständen nach
Beirut gereist war. Nach der Flugzeugentführung nach Entebbe schreckte
Israel vor keinem noch so risikoreichen Wagnis zurück und dem Einsatz von
Menschenleben, um die Geiseln zu retten. Mitten im Bürgerkrieg in Äthiopien
schickte Israel an einem Sabbat seine komplette EL Al Flotte mit übermalten
Hoheitszeichen nach Addis Abeba und holte heimlich fast 15.000 äthiopische
Juden nach Israel, weil ihnen Lebensgefahr drohte.
Das Gebot, fast jeden Preis für die Auslösung entführter Juden zu zahlen,
stammt von dem Wormser Rabbi Meir von Rothenberg (1215-1293), dem Erfinder
des Briefgeheimnisses und der Monogamie. "Das Judentum unterscheidet sich da
von den meisten Völkern der Welt", sagte ex-Mossad-Chef Efraim Halevy. Unter
Berufung auf den mittelalterlichen Rabbi erklärte er Israels "moralische
Verpflichtung" für Entführte. Die hohe Motivation israelischer Soldaten
liege an deren Gewissheit, so Halevy, dass der Staat alles Menschenmögliche
tue, um sie im Falle einer Gefangennahme heimzubringen, oder ihre Leiche
einem jüdischen Begräbnis zuzuführen.
Dieses wissen die Palästinenser. Deshalb wissen sie auch, dass Israel es
sehr ernst meint mit seinen Drohungen. Für Israel ist die Entführung eines
Soldaten erfahrungsgemäß die ultimative Eskalation. Für Präsident Abbas und
die Hamas ist klar, dass da eine rote Linie überschritten worden ist. |