MEMRI Special Dispatch – 19. Juni 2006
'Es ist Zeit, diese historische Rückständigkeit hinter
uns zu lassen':
Syrische Medienkampagne gegen Ehrenmorde
Der Mord an der jungen Drusin Huda Abu ' Asali durch
ihre Familie im September 2005 führte in Syrien zu einer Welle der
Entrüstung gegen 'Ehrenmorde' an Frauen durch Verwandte. Die unabhängige
syrische Website 'Syrische Frauen' (www.nesasy.com)
startete unter dem Slogan 'Stoppt den Mord an Frauen, Stoppt Ehrenmorde'
[1] eine umfangreiche Kampagne und veröffentlichte zahlreiche Artikel
von syrischen muslimischen und christlichen Geistlichen sowie von
Rechtsanwälten, Intellektuellen und anderen. Teil der Kampagne war die
Veröffentlichung einer Petition auf ihrer Website, in der sie zur einer
Verurteilung der Ehrenmode aufriefen. Die Petition hat bereits an die
10.000 Unterzeichner, meist aus Syrien.
Die Kampagne richtete sich hauptsächlich gegen
verschiedene Artikel des syrischen Strafrechts, welche Männern, die
einen Mord an einer verwandten Frau begangen haben, Immunität gewähren
oder ihnen zumindest eine sehr geringe Strafe sichern.
Einige Monate später schloss sich auch die syrische Regierungspresse der
Kampagne an. Die syrische Tageszeitung Teshreen veröffentlichte
verschiedene Artikel, in denen die Ehrenmorde als Folge einer
'historischen Rückständigkeit' bezeichnet wurden und die dazu aufriefen,
sowohl das syrische Strafrecht als auch die Lehrpläne zu ändern. Die
syrische regierungsnahe Zeitung Al-Thawra veröffentlichte eine
gesonderte Studie über Ehrenmorde, laut der in Syrien jährlich über 40
Morde dieser Art begangen werden. In der Studie kamen auch verschiedene
syrische Rechtsanwälte und Geistliche zu Wort, die konstatierten, dass
dies Art von Tötung in allen Religionen verboten sei und dass die
Artikel des syrischen Strafrechts, die Morde an Frauen rechtfertigten,
abgeschafft werden müssten.
Im Folgenden dokumentieren wir die Diskussion um die Ehrenmorde in Syrien
aus regierungsnahen Zeitungen sowie der unabhängigen Presse: [2]
Syrische Regierungspresse
Zwei Artikel der syrischen Regierungszeitung Teshreen
verurteilten Ehrenmorde scharf. Beide Kommentare riefen dazu auf, die
Artikel des syrischen Strafgesetzbuches zu ändern, die zulassen, dass
Männer, die Frauen ermordet haben, nicht hart genug bestraft werden.
Wir dokumentieren Auszüge aus dem Artikel von Dr. Samer Abd Al-Ghani
Al-'Itri:
'Es ist Zeit, diese historische Rückständigkeit hinter
uns zu lassen'
"Es ist verwunderlich, dass es heute immer noch Menschen gibt, die Frauen
nicht das Recht zugestehen, zu studieren oder zu erben. [...]
Es ist fast selbstverständlich, dass es erlaubt ist, eine Frau zu töten,
bloß weil jemand sie verdächtigt – unter dem Vorwand 'die Familienehre
zu verteidigen'. Es gibt viele Fälle von Ungerechtigkeit, schmerzlicher
Gewalttätigkeit und falschen Anklagen, bei denen Frauen von ihren
Vätern, Brüdern und Ehemännern [lediglich] verdächtigt wurden. Es gab
schreckliche Vorfälle, die einen angesichts des Blutvergießens, der
Rohheit und Grausamkeit schaudern lassen, durch die sie uns ins
Steinzeitalter zurückversetzen. Besonders traurig ist die Tatsache, dass
einige dieser verabscheuungswürdigen Verbrechen unter dem Vorwand und
wegen [eines falschen] Anspruchs auf die Ehre durchgeführt wurden -
während sie [in Wirklichkeit] völlig andere Gründe und Motive haben.
[...] Im Namen der unterdrückten [Frauen], im Namen dieser unschuldigen
Seelen, die über Generationen wegen dieses Fanatismus, der
Rückständigkeit und der Ignoranz ermordet wurden, fordere ich eine
Überprüfung der umfangreichen juristischen Materialien, die dem Mann im
Wesentlichen das Recht einräumen, eine Frau unter dem Vorwand der
Tilgung von Schande oder der Rettung der [Familien-] Ehre zu töten.
Ich denke, dass es an der Zeit ist, diese historische Rückständigkeit und
diese schreckliche Grausamkeit zu überwinden. Die Zeit ist gekommen,
Frauen vor dieser Jahiliyya [vor-islamische Periode der Unkenntnis] zu
retten, in der wir seit über 2 000 Jahren leben und uns von unserer
Herablassung gegenüber Frauen zu befreien, fast so, als seien sie etwas
minderwertiges oder anstößiges.
Es ist sehr traurig, die merkwürdige Ambivalenz zu beobachten, die einige
Intellektuelle unserer Generation gegenüber Frauen an den Tag legen.
Einige von uns haben in Oxford, Cambridge oder an der Sorbonne studiert
- dennoch unterdrücken sie ihre Frauen, Töchter und Schwestern und
behandeln sie wie zu Zeiten des Feudalismus. [...] Die Revolution, die
wir benötigen, ist nicht nur eine ökonomische oder soziale Revolution,
sie betrifft auch unsere Körper und Seelen. [...]
Zuerst muss sich das Individuum befreien, erst danach kann auch das Land
befreit werden, und danach wird sich automatisch alles von selbst
befreien. [...] Wenn wir es schaffen, ein offenes und kultiviertes
Individuum zu schaffen, das sich von jeder Art emotionaler Hässlichkeit
befreit hat, wird der Weg geebnet sein und wird werden das umfassende
Erwachen, nach dem wir uns so gesehnt haben, mit Leichtigkeit erreichen.
[...]
Frauen, wir bekennen [unsere Sünden] vor Euch; wir haben uns im Laufe
unserer gesamten Geschichte geirrt. Wir haben Eure rosigen Träume
zerstört und dadurch auch die unsrigen. Wir haben Euer Leben gestohlen
und dadurch auch unser eigenes; wir haben euch Eurer Erwartungen beraubt
und haben aus diesem Grund keine eigenen; wir haben Euch daran
gehindert, Eure Wünsche zu verwirklichen und haben deswegen keine
eigenen Wünsche; wir haben Euren Verstand zerstört und unsere eigenen
verloren.
[...] Wir geben zu, uns opportunistisch verhalten zu haben. Wir
entschuldigen uns für die lange Zeit, in der ihr verfolgt, unterdrückt
und geknebelt wurdet [...], weil Ihr das Symbol der Befreiung des
Denkens und der Emotionen [in Syrien] seid.
Wenn wir damit Erfolg haben, Euch zu befreien, haben wir die Hälfte des
Weges geschafft, der unsere Gesellschaft von ihren Komplexen, ihrer
Unterdrückung und ihrer langen [geistigen] Umnachtung befreit [...]. [3]
Weitere Beispiel finden Sie unter
http://memri.org/bin/latestnews.cgi?ID=IA28006
Aus der unabhängigen syrischen Presse
Der auf der Website "Syrische Frauen" veröffentlichte Artikel 'Sind Sie
ein Mörder?!', kritisiert scharf diejenigen, die angesichts der
wachsenden Zahl von Ehrenmorden schweigen:
"Dies sind die Frauen, die ermordet werden: Frauen, die durch das Messer
der Männlichkeit bedroht werden! Frauen, die durch die Kugeln des Hasses
und der Rückständigkeit getötet werden! [...] Frauen, die in jedem
einzelnen Bezirk dieses 'sicheren' Landes ermordet werden, weil sie es
wagen 'menschliche Wesen zu sein'! Weil sie sich trauen, sie selbst zu
sein, und es wagen, ihre Augen aufzumachen!
Ein Mörder ist in der Tat ein Verbrecher! [...] Aber ist er der einzige
Mörder?! Hinter diesem 'tapferen' Mörder verstecken sich viel zu viele
Verbrecher! Viele Verbrecher, die zu feige sind, sich öffentlich zu
äußern: 'Hier sind wir! Verbrecher [sind es nicht wert], auch nur einen
Funken Mitleid zu bekommen, [...] sie sind es, die zu diesen Morden
ermuntern und aufstacheln! Und sie sind es, die angesichts dieser Taten
schweigen, egal was ihre Rechtfertigung [dafür ist]!
Gehören Sie auch dazu? Haben Sie für die Verständnis, die hinter
vorgehaltener Hand sagen, das diese Art von Morden verboten und
kriminell sind, und dann ihr Schweigen und die Tatsache, dass sie nicht
öffentlich dazu Stellung beziehen, damit rechtfertigen, dass die
'gesellschaftlichen Umstände respektiert werden müssen'?
Wenn Sie wirklich zu diesen Leuten gehören, dann sind Sie [...] ebenso ein
Mörder! Und zwar ein noch schlimmerer Mörder als der, der mit seinen
eigenen Händen getötet hat. Denn vielleicht empfindet [der Mörder, der
mit seinen eigenen Händen getötet hat] schon die Trauer eines Bruders,
der seine Schwester ermordet hat, oder die eines Vaters, der seine
Tochter ermordet hat, und der es dann bereut und sich ändert! [...]
Durch ihr Schweigen und ihren Zuspruch [blessing], den sie geben,
erzeugen sie dauernd neue Mörder!
[...] Werfen Sie einen genauen Blick in den Spiegel: Was sehen Sie da?
Einen Mann, der auf seine Menschlichkeit stolz ist und zu den Morden an
Frauen in unserem Land 'Nein' sagt? Oder einen Mörder, der sich hinter
[dem Slogan] von der 'Notwendigkeit, den gesellschaftlichen [Bräuchen]
zu gehorchen' oder ähnlichem Blödsinn versteckt?!" [4]
Anmerkungen:
[1] "Syrische Frauen" (www.nesasy.com) ist eine unabhängige syrische
Internetseite, die sich mit sozialen Fragen beschäftigt, insbesondere
mit Themen wie Diskriminierung von Frauen und Gewalt gegen Frauen und
Kinder in Syrien. An der Website sind auch viele andere Organisationen
in Syrien aber auch aus dem Ausland beteiligt, die sich unter anderem
mit Menschenrechten oder Frauen- und Kinderrechten beschäftigen.
Darunter die 'Arab Organization for Human Rights' in Syrien, die
'National Organization for the Advancement of the Role of Women', die'
Democratic Youth Organization' und die unabhängige linke Website
Al-Hiwar Al-Mutamaddin (http://www.rezgar.com/debat/nr.asp ). Andere
Unterstützer der Kampagne kommen von verschiedenen syrischen Zeitungen
und Zeitschriften, wie zum Beispiel das Jugendmagazin Shabablek.
[2] Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte aus der englischen Fassung:
http://memri.org/bin/latestnews.cgi?ID=IA28006
[3]Teshreen (Syrien), 2. April, 2006.
[4]
http://www.nesasy.com/honorcrimes/artical/honorcrimes-000.html,
September 2005.
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