Jüdisches und israelisches Selbstverständnis:
Altneuland oder Neualtland?
Editorial von Yves Kugelmann, Tachles, 23. Juni
2006
Braucht es den Zionismus noch?
Israel existiert, lebt, blüht. Kaum jemals war der Judenstaat
stärker. Weder der palästinensische noch die geo- oder innenpolitischen
Konflikte können das Land derzeit ins Wanken bringen. Stärke kann allerdings
blind machen, Erfolg, Wachstum und eine enorme gesellschaftliche Dynamik
verbauen mitunter den Blick für wesentliche Gefahren, aber auch für Fragen,
die in der Gegenwart noch keine Relevanz haben, in Zukunft aber bald eine
Rolle spielen könnten. Eine davon ist jene nach dem jüdischen
Selbstverständnis Israels beziehungsweise jener Juden, die in der Diaspora
leben, und ihr Verhältnis zum Zionismus. Israel hat die Unterstützung durch
die jüdische Diaspora längst nicht mehr nötig. Bereits vor Jahren verkündete
dies der damalige Minister Yossi Beilin. Und vielleicht gilt dies auch
umgekehrt je länger, desto mehr. Doch Israel und Juden sind nicht
voneinander trennbar und werden es wohl auch nie sein.
Zionismus gestern. Als Nathan
Birnbaum den Begriff Zionismus im Jahre 1893 prägte, ging er von der
Anschauung der Juden als einem Volk aus, welches die Überwindung der
Spannungen zur Aussenwelt durch die Schaffung eines eigenen Territoriums hin
zu einer von Birnbaum geforderten Normalisierung erwirken sollte. Was Leon
Pinsker, Moses Hess, Theodor Herzl, Achad Haam und viele andere zionistische
Denker und visionäre Vordenker formulierten, sollte das Fundament des realen
Staates Israel werden, was nicht selten jenen jüdischen Denkerinnen und
Denkern widersprach, die für sich ein starkes Diasporajudentum reklamierten
und zugleich am jüdischen Nationalstaat festhielten. Eine von ihnen war
Hannah Arendt, die in ihrem Kampf gegen jegliche totalitäre Systeme durchaus
auch in Konflikt mit Israel kam und bis heute ebenso wesentlich wie
umstritten blieb (vgl. Interview mit Idith Zertal auf S. 28).
Zionismus heute. Das jüdische
und israelische Selbstverständnis darf nicht von äusseren Faktoren bestimmt
oder gar fremdbestimmt werden. Es muss ein neues inneres geben. Die
Tatsache, dass der 35. Zionistenkongress in Israel diese Woche kaum auf die
vielfältigen innerjüdischen Fragen oder gar jene zum Zionismus heute
einging, zeigt, dass diese Bewegung wie im freien Fall und ohne Reflexion in
die Zukunft gleitet. Die befruchtende Dialektik zwischen Diaspora- und
israelischem Judentum beziehungsweise zwischen Israels multikulturellem und
-religiösem Bürgertum wäre aber nicht nur wichtig, sondern für die Zukunft
nötig. Während die einen vor der dritten Intifada warnen, befürchten andere
einen israelischen Bürgerkrieg, wenn erst einmal der Palästinenserkonflikt
gelöst sein sollte. Zwei Schreckensszenarien, die vielleicht nie
Wirklichkeit werden, aber doch greifbar erscheinen, und auf die Israel und
die Juden Antworten formulieren sollten. Demokratien sind stärker als
Diktaturen. Israels Demokratie ist der beste Schutzwall gegen
Totalitarismus. Sie muss aber für die Zukunft mit neuen Inhalten gefüllt
werden, auf dass sich im Untergrund nicht Konflikte anbahnen, die vielleicht
nie lösbar sein werden. Vielleicht benötigt es seit 1948 keinen Zionismus
mehr, denn Israel existiert, blüht, bleibt. Auf jeden Fall benötigt es aber
eine jüdische Diskussion in und ausserhalb Israels über das
Selbstverständnis des "Judenstaats".
http://www.tachles.ch
hagalil.com 26-06-2006 |