"Ruhe und Ordnung":
Abbas geht aufs Ganze
Von Ulrich W. Sahm, Karni, am Gazastreifen
In der Nacht zum Dienstag hat der unschlüssige
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas seine Handschuhe ausgezogen. Er
schickte die berüchtigte Präsidentenwache "Force 17" in Ramallah auf die
Straße, um für "Ruhe und Ordnung" zu sorgen.
Das erste Ziel der Aktion war der Sitzen des Ministerpräsidenten in
einem schönen alten Haus aus unverputztem Jerusalemstein. Die bewaffneten
Horden zertrümmerten Computer, zerrissen Papiere, zerschmissen Fenster und
steckten dann das Gebäude in Brand. Heute ist das eigentlich der Sitz von
Ministerpräsident Ismail Hanije der Hamas Partei. Doch weil der von Israel
keinen VIP-Pasierschein ausgestellt bekommen hat, konnte er bisher nicht
quer durch Israel vom Gazastreifen ins Westjordanland wechseln und die
Amtsgeschäfte in Ramallah aufnehmen.
Die Nacht war lang. Nächstes Ziel war das PLC-Gebäude im Stadtzentrum, in
dem der halbe palästinensische Majlis (Parlament) tagt. Abgeordnete aus Gaza
können sich da nur per Videokonferenz zuschalten. Und die zwölf frisch
gewählten Abgeordneten, die in Israel lebenslängliche Haftstrafen wegen
Mordes absitzen, sind durch plakatgroße Portraitphotos auf ihren
Parlamentssitzen repräsentiert.
Die bewaffneten Männer des "gemäßigten" Abbas drangen in das
Parlamentsgebäude ein, zerschmissen die Fenster und legten dann Feuer, das
sich schnell bis in den dritten Stock ausbreitete. Mit vorgehaltener Waffe
wurde die Feuerwehr auf Distanz gehalten. Korrespondenten von Al Dschesira
machten ihren Aufsager vor verrußten Fensterhöhlen. Das Parlament ist seit
den Wahlen, aus denen die Hamas als Wahlsieger hervorgegangen ist und die
nationalistische Fatah-Berwegung nach vierzig Jahren uneingeschränkter
Herrschaft empfindlich geschlagen hat, ein Symbol für die Macht der
Islamisten geworden.
Ausgelöst hat die Zerstörungswut der Fatah-Garde eine Attacke von
Hamaskämpfern auf die Zentrale des Sicherheitsdienstes in Rafah im Süden des
Gazastreifens. Mit Panzergranaten und Gewehrsalven griffen die Islamisten
die Fatah-treuen Geheimdienstleute in dem grauen, von einer hohen Mauer
umgebenen, Gebäude an. Bei der Gelegenheit starb angeblich nur ein
zufälliger Passant.
Abbas scheint durchgreifen zu wollen und das zu tun, wozu er von der
internationalen Gemeinschaft durch die Roadmap (Straßenkarte zur Erneuerung
von Friedensverhandlungen), von US-Präsident George Bush und von den
Israelis schon vor zwei Jahren in die Pflicht genommen worden war: die
extremistischen Terror-Organisationen, darunter auch die Hamas, zu bekämpfen
und zu entwaffnen. Abbas hat als ersten Schritt einen Weg eingeschlagen, die
Hamas zu entmachten. Noch ehe seine Kämpfer einen Majlis-Brand inszenierten,
ermächtigte sich Abbas, die demokratischen Regeln der Autonomiebehörde außer
Kraft zu setzen.
Er ordnete eine Volksbefragung über ein Dokument an, das prominente
palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen ausgehandelt hatten,
als "Kompromiss" für die Schaffung nationaler Einheit. Darin wird gefordert,
die Hamas in die PLO einzugliedern und einen palästinensischen Staat "in den
Grenzen von 1967" zu gründen. Eine Anerkennung Israels kommt nicht vor,
sondern vielmehr die Erwartung, dass Israel sich auf die alte
Waffenstillstandslinie zurückzieht und bereit erklärt, bis zu 8 Millionen
arabische Flüchtlinge aufzunehmen. Die Hamas sieht darin eine "implizite
Anerkennung Israels". Sie erklärte, dass eine Volksbefragung kein Ersatz für
demokratische Wahlen sei, also "illegal". Abbas argumentiert, dass in der
Verfassung nichts von einem Referendum stehe und deshalb legal sei.
Derweil übte sich Israel in "Staatsterrorismus", wie Abbas sagte: die
israelische Luftwaffe entdeckte in Gaza einen mit Grad-Katjuscharaketen
beladenen VW-Bus und feuerte eine gezielte Rakete auf das Fahrzeug. Die drei
Insassen der Dschihad-Islami Organisation waren auf der Stelle tot. Eine
zweite Rakete tötete unschuldige Passanten, darunter drei Kinder. Nach
palästinensischen Angaben gab es insgesamt elf Tote. Ein israelischer
Militärsprecher erklärte während einer Pressefahrt entlang der Grenze zum
Gazastreifen: "Diese Gradraketen haben eine Reichweite von 20 Kilometern.
Sie sind industriell hergestellt und habe eine große Zerstörungskraft. Sie
können die Stadt Aschkelon mit ihren hunderttausend Einwohnern und das
Kraftwerk treffen, das ein Viertel des israelischen Stroms liefert." Der
Einsatz von Grad-Raketen bedeuten eine "gefährliche strategische
Eskalation". Die israelische Armee bemühe sich deshalb, um jeden Preis den
Einsatz dieser Raketen anstelle heimgebastelter Kasamraketen zu verhindern.
Wegen der frischen Toten in Gaza war die Spannung auf der israelischen Seite
der Grenze deutlich zu spüren. "Verschwinden Sie so schnell wie möglich",
sagte ein israelischer Soldat den Begleitern einer Pressetour am
Aussichtspunkt nahe des Grenzzauns. "Wir haben Hinweise auf Scharfschützen,
die auf diesen Punkt zielen." Auch im Güterumschlagsplatz Karni, wo
abgetrennt durch hohe Mauern Zement, Mehl, Öl, Snacks aus Ägypten, Zwiebeln
und sündhaft teure Kirschen umgeladen werden, ohne dass Israelis und
Palästinenser einander sehen oder treffen können, herrschte höchste
Nervosität. "Wir müssen jederzeit mit einem Anschlag rechnen", ermahnte
Leutnant Nir Press eine Gruppe Journalisten aus aller Welt. Vor knapp zwei
Monaten versuchten Palästinenser, Karni mit einer halben Tonne Sprengstoff
dem Erdboden gleich zu machen. "Wäre ihnen das gelungen, gäbe es hier heute
nichts mehr zu besichtigen." |