Die jüdische Gemeinschaft der Schweiz:
Abschaffen und neu gründen
Editorial von Yves Kugelmann, Tachles, 25. Mai 2006
Wandel. Die jüdische Gemeinschaft der Schweiz befindet
sich im Wandel. Sie lebt, ist vital, aktiv und engagiert, wie kaum eine
andere jüdische Gemeinschaft dieser Grössenordnung. Wandel bedeutet gerade
dann eine Chance, wenn er nicht von aussen aufgezwungen wird, sondern einer
inneren Kraft, einem bewussten Selbstverständnis und der Tatsache
entspringt, dass – wie dies in anderen Ländern längst der Fall ist – die
jüdische Gemeinschaft in der Schweiz in Freiheit gedeihen kann.
Entwicklungen, Prozesse und Veränderungen, die eine Herausforderung für
jüdische Gemeinden, Organisationen und Vereine bedeuten, sind seit rund zehn
Jahren vermehrt festzustellen. Einheitsgemeinden werden konfrontiert mit
aktuellen gesellschaftspolitischen und innerjüdischen Veränderungen.
Kleingemeinden verschwinden, jüdische Zentren verlagern sich, andere Formen
jüdischen Lebens entstehen, und innerhalb der Gemeinden entstehen neue
Bedürfnisse des religiösen und säkularen Lebens (vgl. Artikel S.28). Die
Individualisierung und Pluralisierung jüdischen Lebens verändert die
Anforderungen an die Institutionen.
Entwicklungen, die Gemeinden dann vor Spaltungstendenzen stellt, wenn
Verantwortliche nicht proaktiv mit Blick auf die jüdische Basis agieren.
Denn sie stehen vermehrt in Konkurrenz mit sogenannten jüdischen "NGOs"
(Nichtgemeindeorganisationen).
Bürokratismus. Alle diese Entwicklungen sind nicht von einem Tag auf den
anderen geschehen. Doch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG)
hat es in den letzten Jahren versäumt, auf diese und andere aktuelle
Veränderungen einzugehen. Wer die öffentlichen Stellungnahmen des SIG, die
Reden des Präsidenten an den letzten Delegiertentagen liest, stellt rasch
fest, dass sich der Gemeindebund vorwiegend mit Israel und Antisemitismus,
kaum mit den vielfältigen neuen Fragestellungen für das Schweizer Judentum
beschäftigt. Und wenn – wie etwa mit der Gründung des Ressorts Zukunft der
Gemeinden –, dann versanden die Efforts in unnötigen Debatten. So auch in
diesem Jahr, da der Delegiertentag nicht etwa im Zeichen der Zukunftsfragen
im SIG beziehungsweise der jüdischen Gemeinden steht, sondern sich einmal
mehr mit sich selber und der heftigsten Konfrontation seit Jahrzehnten
zwischen Geschäftsleitung und Centralcomité befasst. Wieder einmal geht es
um die unnötige und destruktive Debatte über Spielregeln, Geschäftsführung,
Information, Transparenz und Professionalität, die den Dachverband nunmehr
seit Jahren immer wieder blockiert (vgl. Artikel S. 6).
Reden. Die Delegiertenversammlung ist zurzeit noch das
einzige Parlament der Schweizer Juden. Jenes Forum für die politische
Debatte, die in den letzten Jahren zum Ritual statt zur einer inhaltlichen
Auseinandersetzung, die über das Tagesgeschäft hinaus führen würde,
verkommen ist und wo selbst die positiven Leistungen des SIG im Bereich
Kultur, Jugend oder Soziales nicht zur Geltung kommen. Die Schweizer Juden
hätten einen Dachverband verdient und nötig, der sie und ihre Anliegen
vertritt. Die Tatsache, dass der Verband in den letzten 20 Jahren in Bezug
auf die dringend nötigen Reformen nicht vom Fleck gekommen ist (vgl.
Interview S. 27, Beilage "Winterthur"), zeigt, dass der Wille, die
Erkenntnis und Kernkompetenzen dazu vollends abhanden gekommen sind. Sollte
dem nicht weiterhin so sein, muss der kommende Delegiertentag die bitter
nötige Wende bringen.
http://www.tachles.ch/
hagalil.com 29-05-2006 |